auf zum nächsten geschichtstag!

historikertage kennt die schweiz schon lange. geschichtstage dagegen sind neu. sie wollen, wie der erste davon in bern, die etwas antiquierte zunft öffnen, um wissenschaft und publikum einandern näher zu bringen. die erste austragung wurde durch das historische institut der universität bern betreut.


geschichtstage: für das publikum ein wenig licht in die vielfalt der geschichtswissenschaft bringen (foto: stadtwanderer, anclickbar)

die geschichtswissenschafter heraus fordern

die grosse diskussion über geschichte macht gerade heute sinn. hermann lübbe, der altjunge provokateur unter den hiesigen professoren, nahm die historikerInnen auf dem podium beim kragen: geschichte boomt. es gehen mehr menschen einmal jährlich in eine museum als in ein fussballstadium! es sind mehr als 12 prozent der gebäude in den städten dem denkmalschutz unterstellt. und die bestsellerlisten der magazine sind mehr voll mit historischen sachbüchern. geschichte ist im schwang, weil die gegenwart sich so schnell ändert, diagnostiziert der emeritierte professor. je schneller sie das tut, um so schneller wird man selbst seiner eigenen gegenwart fremd. und je geschwinder dies geschehe, um so mehr brauche es geschichte, die kompensiere.

da platzte dem einen oder andern der rund 500 anwesenden historikerInnen an den geschichtstagen schon mal der kragen. psychotherapeutInnen einer neurotischen gegenwart mag man nicht sein. mindestens an einer kritischen diagnose der gegenwart arbeite man. besser noch ist man auf dem weg, eine theorie des geschehen und der geschichte zu entwickeln, so die antworten der 68er professoren und ihre älteren schützlingen. valentin gröbner, dem jungen österreicher mediävisten an der universität luzern, kam selbst das suspekt vor: historikerInnen müssten erzählen, aber nicht, um abstammungen aufzuzeigen, auch nicht um identitäten zu bilden, sondern um sich dem fremden per se zuzuwenden, das in der vergangenheit stecke. den geschichtsboom zu inspirieren, ist seiner meinung nach keine aufgabe der profession. ein mission habe man nicht; vielmehr soll sie fragen, was von dem, was ausserhalb der wissenschaft entstehe, wirklich stimme. historiker seien eher qualitätsprüfer, folgerte er, – und damit meist auch zuständig für die schlechte laune.

die neue diskussionskultur in der wissenschaft

klar besser gelaunt war ein abwesender. statt wie angekündigt, über die möglichkeiten der nationalgeschichtsschreibung in bern zu referieren, hielt der basler historiker mit europäischem esprit in berlin einen vortrag mit einem anderen titel. dennoch war er via basler anwesend, die seinen ungehaltenen vortrag gleichentags in einer sonderbeilage und in der vergangenheitsform nachlieferte. schade, muss man beifügen, die direkte debatte wäre fruchtbarer gewesen. das interesse am besagten workshop war nämlich ausgesprochen gross. ein mittelgrosser hörsaal, der weit über den letzten platz hinaus gefüllt, debattierte mit thomas maissen, dem kommenden star unter den schweizer historikern über die (un)möglichkeit, schweizer geschichte zu schreiben.

der stadtwanderer fragte sich, ob es während seines studiums in den 70er jahren in so einem atelier ausser einem einsamen freisinnigen historiker aus den burschenschaften überhaupt jemanden gehabt hätte. sicher ist er, dass kein linker historiker dagewesen wäre, – anders als heute, wo sie nicht mehr mit meistererzählungen von marc bloch oder eric hobsbawm brillieren können, sondern wieder lernen müssen. denn gefragt sind nicht mehr struktur und geschichte, sondern alltagsgeschichte, nicht mehr wirtschaft und gesellschaft, sondern kultur als erklärungsgrösse, und nicht mehr avantgardistischer klassenkampf via geschichte, sondern gebrauchsgeschichte.

das macht geschichtswissenschaft wieder interessanter. am ersten schweizer histo-tag mischten sich mehr frauen unter die männer, als dies an vergleichbaren veranstaltungen eine generation zuvor der fall gewesen wäre. und es sprachen sichtbar mehr schweizerInnen, die im ausland professorInnen sind, als es noch vor 10 jahren überhaupt denkbar gewesen wäre. selbst über nationalgeschichte der schweiz reden heute mehr deutsche und franzosen kompetent mit, als man meinen könnte. sie sind aber nicht mehr daran interessiert, wie es (scheinbar) war. vielmehr fragen sie, wieso es zu dieser oder jener art der nationalgeschichte kam. sie fordern fallstudien, die sich der selbstbeweihräucherung entziehen. denn sie wollen vergleichen, um die vielzahl der sonderfälle gerade in den nationalgeschichten systematisch hinterfragen zu können, um das besondere und das typische daran erkennen zu können.

gesteigerte geschichtsproduktion heute

es ist ausser frage: die historische forschung ist besser geworden. die profession produziert heute regelmässig eine vielzahl neuer werke, die nach geklärten datengrundlagen und methodischen verfahren entstehen. die reichhaltigen büchertische am berner geschichtstag bezeugen das: neue weltgeschichten und frische biographien stehen einem zu hauf zur verfügung. doktorarbeiten und wissenschaftlichen journale gibt es mehr denn je!

doch bleibt die fast schon bange frage: entwickelt sich die kunst der geschichtsvermittlung ebenso schnell wie die wissenschaft der geschichtsproduktion?

da zweifelt der stadtwanderer: habilitationsschriften von neuerdings 1000 seiten und mehr dürften wohl keine unfreiwillige leserInnen finden. workshops, die mit neuen methoden zu alten einsichten kommen, locken nicht mehr als ein paar insider an. und doktorandenkolloquien mit einem celebren sprecher aus paris, der für sich, aber nicht zum thema redet, begeistern an einem geschichtstag nicht. es ist augesprochen schade, dass dafür die geschichtsdidaktik immer noch fast ausschliesslich der „abteilung gymnasiallehrer/innen“ zugewiesen wird. dabei könnte alle von der erfahrung, wie man gute schulbücher produziert, fesselnde vorträge hält und virutelle foren des geschichtsinteresses bedient, am einem geschichtstag profitieren.


hauptgebäude der universität bern: austragungsort der ersten schweizerischen geschichtstage (foto: stadtwanderer, anclickbar)

vernachlässigte geschichtsvermittlung für morgen

auch wenn er auf dem podium unnötig rücksichtslos war, hermann lübbe hatte absolut recht: die geschichte darf nicht nur vom gschichtsboom reden, um mehr mittel beim schweizerischen nationalfonds zu verlangen. sie muss sich ihm direkt stellen. auch und gerade weil die nachfrage nach geschichte ausserhalb von akademien rasanter wächst als innerhalb. denn die frage nach der geschichte entsteht immer dann und immer dort, wo sich kulturen berühren und menschen, mit verschiedenen selbstverständnissen einander begegnen. denn sie müssen einander erzählen, wieso sie so geworden sind.

das wusste schon herodot, der vater der abendländischen geschichtsschreibung, der mit seinen erkundungen begann, als er aegypten und persien bereist hatte und sich danach in griechenland niederliess um zu fragen, weshalb sich seine kultur von der der andern unterschiede.

ich bin auch mit valentin gröbner einverstanden, auch wenn er sich auf demselben podium wie lübbe unnötig vorsichtig gab: der geschichtsboom entsteht, weil wir soviel reisen, virtuell und reell. er wächst eigengesetzlich, weil sich so viele menschen so zahlreiche neue welten erschliessen. über sie wollen wir mehr erfahren, um die differenz zu sich selber zu begreifen. zu wissen, was zu uns führt, ist die erste aufgabe der geschichte. zu merken, was uns fehlt, das andere haben, die zweite.

ich würde es schätzen, wenn sich die zweiten schweizerischen geschichtstage der schweizerischen gesellschaft für geschichte ganz der geschichtsvermittlung für den tourismus widmen würde. Workshops sollte er anbieten, bei denen ausländerInnen etwas über die schweiz im vergleich erfahren. ausländische historikerInnen sollten wiederum reiseberichte von schweizerinnen auf der ganzen welt diskutieren. und virtuelle ausflüge in die vergangenheit sollte er den teilnehmenden als erlebniswelt anbieten, um klar zu machen, was sich wann, wo und warum seither verändert hat.

eine beredete stadtwanderung am geschichtstag zu albrecht von haller ist dabei ein kleiner anfang. von jedem teilnehmer, von jeder teilnehmerin des nächsten geschichtstages sollte man ein solches angebot für die kollegInnen erwarten, – vorbei an lokalen museen, denkmalgeschützten häusern und kiosken prall voll mit populärmagazine zum geschichtsboom. nicht besserwisserisch kritisiert, sondern mit erhellenden kommentaren inspiriert werden sollte dieser welle!

stadtwanderer

ps:
heute ist museumsnacht in bern: berner museumsnacht