die eröffnungsrede zur stadtwanderer-saison 2007

heute abend ist es so weit: die stadtwanderer-saison 2007 bricht an. ich bin nun wieder in offizieller mission in berns gassen!


annemarie huber-hotz, bis ende jahr bundeskanzlerin der schweiz (bis ende jahr vorsteherin der bundeskanzlei, der wichtigsten institution, welche seit helvetische republik existiert)

prominent ist der auftakt: die spitze der bundeskanzlei lässt sich von mir durch durch stadt- und demokratiegeschichte führen.

speziell wird auch meine eröffnungsrede sein: was man jetzt schon auf dem “stadtwanderer” lesen kann, werde ich abends, auf der gerechtigkeitsgasse, als startschuss zu meinen politkulturellen wanderungen vortragen.

“politische kulturen und politische herrschaften”


station 1 meiner stadtwanderung zur demokratiegeschichte der schweiz

“sehr geehrte frau bundeskanzlerin, meine lieben gäste!

ich begrüsse sie zur heutigen stadtwanderung.

im hauptberuf bin ich politikwissenschafter und beschäftige mich ausgiebig mit der direkten demokratie. im nebenberuf bin ich historiker und wandere am liebsten durch die gassen berns und einiger anderer städte. ich mache das aber nicht nur zu meiner erholung vom stress in meinem hauptberuf; ich betreibe das seit fast vier jahren auch zu meiner eigenen belehrung. seit geraumer zeit lade ich dazu auch gäste ein; so auch sie! und es ist mir eine besondere ehre, gerade mit ihnen, meine offizielle stadtwanderer-saison 2007 eröffnen zu dürfen!

für heute habe ich drei ziele:

• einmal will ich ihnen einen kurzen rundgang durch die stadt bern bieten.
• sodann sollen sie etwas über die neuere geschichte der stadt, des kantons und der schweiz erfahren.
• schliesslich will ich sie mit der politikwissenschaftlichen analyse der schweizerischen demokratieform vertraut machen.

sie sollen also unterhalten werden, etwas lernen, und beurteilen können, ob sie das, was hier gilt, anderswo auch brauchen könnten.


iustitia, ziert auch heute noch die homepage des bundesamtes für justiz (fotos: roland spring)

unser standort

ich habe bewusst diesen standort als start meiner tour gewählt. es ist der brunnen der iustitia; er befindet sich heute an gerechtigkeitsgasse. und er symbolisiert das grösste thema der politik überhaupt: die immer währende frage nach der gerechtigkeit.

unzweifelhaft hat das etwas mit gleichheit, mit ausgewogenheit, mit verteilung zu tun. die politologen von heute sagen: es gibt die verfahrensgerechtigkeit, wenn politische prozesse gesetzeskonform ablaufen. es gibt die tauschgerechtigkeit, wenn geben und nehmen in austauschprozessen im gleichklang sind. und es gibt die verteiligungsgerechtigkeit. für die einen ist das beispielsweise die gleichheit der chancen; für die andern ist es wiederum mehr die gleichheit der stellungen.

welche antworten man gibt, hängt von den weltschauungen ab, die man teilt. und diese sind durch die politischen kulturen wiederum geprägt. im zentrum der politischen kulturen stehen werte. sie drücken aus, was einem wichtig ist. politische werte sind interessant, weil sie nicht nur für individuen gelten. sie nehmen auch in anspruch für die kollektive von belang zu sein.


vergleich der politischen kulturen der welt, – auf den beiden achsen des allgemeinen wertewandels (quelle: ronald inglehart, world value survey)

die politischen kulturen der welt

die wichtigste untersuchung des wertewandels für die heutigen politischen kultur der welt benennt zwei grosse entwicklungslinien: den trend von traditionell-religiösen werten zu säkular-rationalen einerseits; und der trend von werten des kollektiven überlebens zu solchen der individuellen entfaltung anderseits.

die meisten afrikanischen kulturen kennen keinen der beiden trends. die lateinamerikanischen kulturen kennen den zweiten trend, den der selbstentfaltung, nicht aber den der säkularisierung der religion. in den asiatischen kulturen wiederum kommt das individuelle weniger zum ausdruck; dafür ist die bedeutung traditionell-religiöser werte namentlich in den kommunistischen gesellschaften der udssr und chinas zurückgegangen oder am zurückgehen.

auch in europäischen und amerikanischen kultur ist die christliche fundierung die politik nach wie vor sichtbar; die dedeutung des christentums für die politik ist angesichts der konfessionskrieg in der aufklärung des 18. jahrhunderts relativiert worden. und die individualisierung der gesellschaft ist hier weiter vorangeschritten als irgendwo auf der welt. schweden gilt gemäss dieser, in den usa erstellten übersicht als das land mit der säkularisiertesten und gleichzeitig individualisiertesten politischen kultur. die schweiz ist nicht weit davon entfernt, – ausgesprochen der primär reformierte teil, weniger deutlich der überwiegend katholische teil des landes.

die säkularisierung der herrschaft

die reformation hat im 16. jahrhundert die schweiz gründlich verändert. was martin luther für brandenburg war, war huldrich zwingli in der schweiz. beide reformierten auf ihre weise kirche und staat des spätmittelalters. in bern hiess der reformator berchtold haller. auch er wirkte gründlich. die reformierte religion wurde zur alleinigen staatsreligion. sie begründeten den berner staat als patrizischer obrigkeitsstaat erst richtig. raum für individuelle selbstentfaltung war da nicht! und das wort demokratie war damals auf berndeutsch noch unaussprechlich! selbst die aufklärung blieb in bern schwach; wer zu ihr stand, wurde an dieser strasse zum tode verurteilt und ausserhalb der stadt exekutiert.

sie sehen, was gerecht ist, hängt von der politischen kultur ab. die berner patrizier regierten im namen von freiheit und gleichheit. freiheit war die freiheit vom reich; gleichheit bedeutete die gleichheit unter gleichen, das heisst nur unter patriziern. es brauchte den einmarsch der truppen frankreichs, um die modernen verständnisse einzuführen. der unmittelbare erfolg der besatzer war nicht grösser als jener der us-amerikaner im irak. die so ausgelöste transformation der politischen kultur war aber unwiderruflich.

seit dem 16. jahrhundert verstand sich dieser bernische staat als republik, wenn auch bis zum einmarsch der franzosen mit aristokratischem charakter. das war in der ganzen westlichen schweiz so: in basel, in solothurn, in freiburg und in luzern herrschten die patrizier, die im söldnerwesen ihren reichtum begründete hatten, unabhängig von der jeweiligen konfession. im östlichen teil der schweiz war die herrschaft in städten wie zürich und schaffhausen reformiert, aber bürgerlich; die zünfte führten hier das regiment. auf dem land blieb man katholisch oder war man gemischtkonfessionell; die landsgemeinden bestimmten das geschehen in uri, schwyz, unterwalden, aber auch in zug, in glarus und appenzell war das so.

die wichtigste klammer über dem den unterschiedlichsten herrschaftsformen war die verwaltung der gemeinsamen untertanengebiete. diese wiederum hiessen die französische revolution willkommen: die idee der menschenrechte fand hier willkommenen zuspruch, und einheitliche rechte konnten nur fortschritte in die vielfältigen abhängigkeitsverhältnisse bringen. republik bekam hier ihre moderne bedeutung: als öffentliches geschehen, bestützt von verfassungen, geregelt durch gesetze, deren legitimation nicht von oben, sondern von unten kam. tessin, graubünden, thurgau, aargau und die waadt waren davon geprägt. 1815 kamen das wallis, genf, neuenburg und der jura hinzu; sie alle verstärkten die französischsprachige leseweisen der politischen kulturen.

die demokratisierung der säkularisierten gesellschaft

erst aus diesem prozess heraus ist die moderne schweizerische demokratie als antwort auf die säkularisierte gesellschaft entstanden, die angesichts der abwesenheit von kriegen im innern zyklisch individualisierter wurde: soziologisch gesehen kann man erst seit 1971 von einer wirklichen demokratie sprechen, denn vorher hatten nur die männer das wahl- und stimmrecht, – die frauen nicht. institutionell ist die schweiz seit 1874 eine direkte demokratie; seit 1848 war sie eine repräsentative nach amerikanischem vorbild. die staatsrechtlichen grundlagen wurden in den 1830er jahren an den neu gegründeten universitäten, vor allem an jener in bern, gelegt. sie inspirierten in verschiedenen wellen die verschiedenen bewegungen, wie die liberale, die radikale, die demokratische und die sozialen bewegungen.

sie sehen es: die schweizerische demokratie ist gar nicht so alt, wie man meint! sie ist ein kind des 19. und 20. jahrhunderts. nur die legendäre geschichtsschreibung behauptet, die schweiz von heute seit 1291 entstanden und von anbeginn weg eine demokratie gewesen. mit nichten! sie hat sich aber schneller und anders entwickelt als in den meisten europäischen staaten und auch jenen der welt. sie ist keine repräsentative demokratie mehr, oder indirekte, wie man in der schweiz sagt, sondern eine direkte, das heisst eine, die nicht nur auf volkswahlen, sondern auch auf volksabstimmungen beruht. und genau das macht sie für die säkularisierte, individualisierte gesellschaft so attraktiv.

stadtwandern als zeitgemässe form der geschichtserzählung

lassen sie mich den einstieg in unsere heutige stadtwanderung nicht nur mit der iustitia anfangen, sondern auch mit ihr abschliessen: sie, die gerechtigkeit, und nicht madonna, die mutter gottes, steht seit der reformation auf dem brunnen. allerdings ist sie nur noch eine kopie. 1988 wurde das original beschädigt; seither ist es einzig im beschützten historischen museum der stadt zu sehen. und auch der kopie hat man nach dem ausscheiden der schweiz in der fussball-weltmeisterschaft die rechte hand abgeschlagen; sie ungerecht war das, mindestens aus der sicht der fans!

egal ob original oder kopie, egal ob mit oder ohne hand: die iustitia steht mit ihren verbundenen augen über den gewalten, die man beim bau des brunnens durch den freiburger künstler hans gieng 1543 kannte:

• den papst nenne ich zuerst, mit seiner tiara, als der kirchliche herrscher über die christenheit; er stand damals noch für die theokratie; paulus III. war zu zeiten den brunnenbauers der papst, und er war gerade damit beschäftigt, die gegenreformation einzuleiten.
• den kaiser kommt danach, mit seiner krone, als herrscher über das sogenannten heilige römische reich deutscher nation; er symbolisierte die monarchie. karl quint (V.) hiess er 1543. mit den entdeckungen in der neuen welt regierte der habsburgische spanier ein reich, in dem die sonne nie auf und nie unter ging.
• schliesslich erwähne ich den sultan, mit dem schwungvollen säbel; er war der herrscher über das osmanische reich, und er repräsentierte traditionellerweise für die despotie. süleyman der prächtige war es in buda, ungarn und führte die erste türkische belagerung wiens.

wer die vierte person ist, ist in bern umstritten: die traditionelle volksgeschichtsschreibung berns sieht in ihm seit dem 19. jahrhundert den berner schultheissen, den vorsteher auf zeit der republik bernensis; hans-franz nägeli stünde demnach hier auf dem brunnen! die moderne geschichtswissenschaft kann dem nichts abgewinnen: was soll das szepter in der hand eines republikaners, fragt man sich seit jüngstem an der universität bern. deshalb sieht man in ihm den bruder von karl quint, könig ferdinand I., den österreichischen habsburger, der über österreich, böhmen, schlesien und kroatien herrschte, als süleyman vor wien lag, danach auch über ungarn, als die belagerung durch die türken erfolgreich abgewehrt war.

wer auch immer im 16. jahrhundert da oben abgebildet wurde; zwei sachen sage ich ihnen zur kommenden stadtwanderung:

erstens, die gerechtigkeit muss über der politischen macht stehen, wie auch immer sie ausgestaltet ist. und die demokratie muss, wie auch immer sie geformt ist, der durch die politischen gemeinschaften immer neu zu definierenden gerechtigkeit genügen!
zweitens, was auch immer sie in der schule über schweizer geschichtsmythen gelernt haben, – vergessen sie es! folgen sie dem stadtwanderer durch die neuere berner stadtgeschichte als lehrstück der demokratieentwicklung in der schweiz!”

stadtwanderer