madame tussauds illusionen

“Um 1765 konnte man, fals uns niemand angelogen hat, in den Gassen der alten und mächtigen Stadt Bern, ein vierjährige Mädchen namens Marie sehen, das Wäsche zur Aare trug, Brot beim Bäcker besorgte und Brennholz die Treppe hochschleppte. Sie unterschied sich in nichts von den anderen Kindern, die zu hunderten durch die Kramgasse, die Gerechtigtkeitsgasse und die Judengasse wuselten und von denen die meisten bald an Cholera, Tuberkolose, Diphterie oder schlechter Ernährung sterben würden. Marie aber überstand ihre Kindheit dank Glück, robuster Gesundheit und zärtlicher Fürsorge und lebte ein märchenhaftes langes Leben.”

450px-marie_tussaudmarie tussaud, die begründerin des wachsfigurenkabinettes in london, in berns gassen ausgewachsen, in ihrer selbstmodellierung

so beginnt der frankreich-stämmige schriftsteller alex capus, heute im schweizerischen olten lebend, sein portrait von madame tussaud, der geschäftstüchtigsten künstlerin aller zeiten und begründerin des museums “Madame Tussauds”, die am 16. april 1850 in london verstarb.

marie’s mutter, anna-maria walder, ein dienstmädchen, zog 1766 von bern nach paris zu dr. philipp curtius, einem wachsbossierer, dem sie ihr leben lang verbunden blieb. bei ihm lernte marie zeichnen und modellieren. in diesem metier talentiert, unterrichtete sie wachskunst bald schon im schloss versailles, wo sie mit vorliebe köpfe von angehörigen des französischen hochadles nachempfand. 1794 erbte sie die wachsfigurensammlung von curtius, heiratete francois tussaud, mit dem sie zwei söhne hatte, bevor sie sich von ihrem trunksüchtigen mann scheiden liess, um sich 1802 in london niederzulassen. 33 jahre später eröffnete sie, nach einigen wanderausstellungen mit ihren skurilen skulpturen, an der baker street ihr eigenes museum, in dem sie ihre wachsfiguren ausstellte. 1842 schuf sie, hochbetagt, ihr eigenes abbild als letzte selbständig modellierte büste für ihr kabinett, das heute an der marylebone road seine türen für unzählige schaulustige öffnet.

capus konzentriert sich in seinem (ersten kapitel zum) portrait von marie tussaud ganz auf ihre zeit während der französischen revolution; er schreibt: “Am Sonntag, dem 12. Juli 1789, konnte Marie die Revolution hören, wie sie trampelnd, krakeelend und singend die Rue du Temple heraufkam, laut und immer lauter wurde und schliesslich vor dem Salon de Cire haltmachte. Drei- oder fünftausend Menschen standen vor der Tür, und sie verlangten die Wachsbüste von Finanzminister Jacques Necker. (…) Zwei Tage später stürmten die Aufständischen die Bastille und eroberten die Schwarzpulvervorräte der Schweizer Garde – und damit hatten sie Paris erobert. Curtius notierte stolz: “Ich kann also sage, dass sich der erste Akt der Revolution chez moi ereignet hat.” die familie blieb den republikanern eng verbunden. die revolutionre zählten zu ihrem freundeskreis. marie soll sogar mit robespierre geflirtet und mit danton gestritten haben. und von marat wird berichtet, dass er, seiner frechen zeitungsartikel wegen polizeilich gesucht, bei marie unterschlupf gefunden habe.

so berühmt madame tussaud durch die erzeugung von illusionen mit ihren werken wurde, so wenig weiss man über ihren erzeuger. in strassburg getauft, hiess sie marie grosholtz. der elsässer joseph grosholtz soll ihr vater gewesen sein, der kurz vor der geburt von marie am 7. dezember 1761 verstarb. alex capus glaubt nicht daran, denn zur zeit der fraglichen zeugung weilte der söldner auf den schlachtfeldern des siebenjährigen krieges. vielmehr vermutet der schriftsteller, philipp curtius, der arzt aus stockach am bodensee, sei ihr vater gewesen. jedenfalls schrieb madame tussaud in ihren memoire, er sei zur stelle gewesen, als ihre mutter in not war, habe die beiden nach bern geführt, und ihm haus untergebracht, in dem seine praxis war.

ausser dass man in bern dieses haus nicht kennt. weil auch das eine von madame tussauds illusionen war?

stadtwanderer

alex capus. himmelsstürmer. zwölf portraits, münchen 2008.