ausverkauf der intellektuellen

vor einer woche schrieb ich über jakob tanners vortrag “switzerland for sale“. jetzt kontern urs paul engeler und markus somm in der “weltwoche“. kein ausverkauf der schweiz habe stattgefunden, behaupten sie. dafür rufen sie zum ihrer meinung nach längst fälligen ausverkauf der schweizer intellektuellen auf.

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jakob schaffner, basler schriftsteller, verherrlicher des dritten reiches, wird in der weltwoche zum vermeintlichen urvater aller intellektuellen schweiz-kritiker stilisiert, zu denen allen voran die schriftsteller friedrich dürrenmatt (“Altfaschist”), max frisch (“Geissler der Schweiz”), adolf muschg (“Epigone Frischs”), walter matthias diggelmann und klara obermüller (“Sehnsucht nach dem sozialistischen Paradies”) gezählt werden.

an allem schuld sei jakob schaffner, analysieren engeler und somm. der basler schriftsteller habe in seiner vielbeachteten “geschichte der schweizerischen eidgenossenschaft” in der zwischenkriegszeit den samen der politisch inspirierten schweiz-kritik gelegt. denn seinem eigenen land warf er vor, sich hinter der neutralität zu verstecken, keinen beitrag zur sicherheit und zum fortschritt der welt zu leisten, und einzig dem eigenen nutzen nachzurennen.

die weltwoche-autoren werfen schaffner ihrerseits vor, die schweiz mustergültig verraten zu haben, allerdings ohne erfolg: 1944 starb der schweizer nazi im deutsch-besetzten strassburg, als es von den allierten bombardiert wurde.

doch der intellektuelle schweiz-verrat ist, so die these des artikels, nicht verschwunden. vielmehr zieht er sich seither wie ein roter faden durch das wirken herausragender denker der schweiz. politisch fehlgeleitet, seien sie, denn sie würden nursippenartige nestbeschmutzung zugunsten einer falschen sache betreiben. das ist das kollektiv gültige urteil, das selbstredend auch jakob tanner miteinschliesst.

“Woran liegt es, dass seit Jahrzehnten so viele intelligente, gut gestellte Leute, die ihrer Heimat so viel zu verdanken haben, dauern deren Ende herbeischreiben?”, fragen sich engeler und somm, um zu einer eigentlichen psychoanalyse der schweizer intellektuellen zu gelangen:

ihnen mangle es, erstens, an realismus, weil sie, seit 1798, dem einmarsch der franzosen in der schweiz, keine beziehung zur tradition, nur zum reformismus hätten.

sie litten, zweitens, an der provinz, die vermeintliche schuld trage, dass man auf der internationalen bühne nicht bestehen könne.

und sie neigten, drittens, zu elitärer überheblichkeit gegenüber dem schweizerischen gemeinsinn in der referendumsdemokratie, weil dieser weiser sei als einzelne das sein könnte.

gegen ein naheliegendes argument, hiermit bünzligen antiintellektualismus zu betreiben, wehren sich die autoren präventiv. und hauen gleich noch einen drauf: denn, was intellektuelle so gerne als “enge” bezeichnen würden, sei, in der tat, “weite”, die durch die ausdehnung gleicher rechte von wenigen auf alle entstanden sei.

ein wenig kommt es mir das alles vor, dass intellektuelle für die wewo-schreiber maximal eingebildete kranke sein könnten. öffentliche psychologisierung sind an sich bedenklich. und in dieem fall auch sachlich falsch:

gerade die ökonomen unter den intellektuellen tragen zum realitätssinn des landes bei, wenn sie, wie etwa bruno s. frey, politisch-mediale mythenbildung mit ihren nüchternen analysen kritisch hinterfragen.

gerade eigenwillige theologen wie hans küng beweisen, dass man auch als schweizer auf der ganzen welt gehört werden kann.

und schliesslich haben gerade politische denker wie jean ziegler und rudolf strahm nicht nur als buchautoren erfolge im in- und ausland gefeiert, sondern sind sie, gerade als vertreter des kleinen mannes, wiederholt als volksvertreter ins parlament gewählt worden.

bitte, mehr argumente zur sache, beispielsweise zum beklagten ausverkauf der schweiz! auf polemiken gegen personen, die etwas zu grundsatzfragen etwas zu sagen haben, ohne das man mit ihnen übereinstimmen muss, kann ich gerne verzichten!

denn intellektuelle sind kein feindbild in der demokratie, sondern das salz in der suppe der öffentlichkeit, denn sie können intervenieren und stören deshalb für heil gehaltene welten. sie pauschal zu diskredieren, um sie am besten gleich los zu werden, ist keine gute maxime. weder ist sie das heute, noch war sie das gestern.

stadtwanderer
(der im diagonal die neuste weltwoche erkundet hat)