2103 überholt der “osten” den “westen”

eigentlich ist es archäologe. in den letzten 10 jahre leitete er grosse unternehmen, die vergangenheit durch ausgrabungen sichtbar machten. das hat den vorteil, dass man sich nicht durch einzelne ereignisse oder personen blenden lässt, dafür muster der entwicklungen erkennt und so ein auge für langfristige veränderungen entwickelt.

wer_regiert_die_weltetwas reisserischer buchtitel: wer steht an der spitze der zivilisation, wäre eindeutig angemessener gewesen

mit genau diesem blick hat ian morris, britischer geschichtsprofessor an der top-universität im kalifornischen stanford, ein buch über die geschichte der menschheit seit der letzten eiszeit geschrieben. analysiert werden darin 16’000 jahre. nachgespürt wird informationen zu vier zentralen determinanten der gesellschaftlichen entwicklungen: der energieverbrauch, der verstädterung, den informationstechnologien und der fähigkeit zur kriegsführung. daraus ergibt sich für den historiker ein zeiträumlicher indexwert, der zu bestimmung des standes von kulturen dient.

unterschieden werden zwei geografische regionen, die auf dauer miteinander im wettstreit seien: der westen und der osten. das sind jedoch nur bezeichnungen für gesellschaftliche zentren, die über die zeit hinweg wandern. der westen begann in mesopotamien, dehnte sich auf ägypten und griechenland aus, und er erlebte mit dem römischen reich seinen ersten höhepunkt. die führung in der sozialen entwicklung ging danach aber an den osten, bis sich der westen durch die expansion über den atlantik neu aufstellte und ab mitte des 18. jahrhundert erneut zur weltspitze avancierte. zuerst lag das am british empire, dann an den vereinigten staaten von amerika.

morris sprach dieser tage in zürich, und der nzz von heute gewährte er ein ganzseitiges interview. das tönt das so: “Westeuropa war lange ein langweiliger Platz an der Peripherie. Doch vor 500 Jahren kam es zu einer Explosion des Wissens. Die Menschen lernten, grössere Schiffe zu bauen, die Ozeane zu überqueren, und kolonisierten Amerika. Damit veränderten sie den Ort, an dem sie leben. Es war plötzlich ein Vorteil, in Westeuropa zu sein. Die ehemalige Periperie wurde zum Zentrum”, liesst man da beispielsweise.

massgeblich für morris sind innovationen. entdecker interessieren ihn indessen nicht, denn kaum einer der grossen erfinder war der einzige und erste, der das menschliche wissen vorantrieb, das man ihm zuschreibt, kontert er die erzählungen über die grossen erfinder. vielmehr geht es dem historiker darum, wo sich auf begrenztem raum eine kritische masse der erneuerung ergibt. dabei verändert sich gegenwärtig selbst der begriff des ortes, analysiert er, denn heute schrumpft nicht nur der atlantik, es schrumpft der ganze globus.

historiker, die das neueste buch von morris: “Wer regiert die Welt?” lesen, mögen zuerst irritiert sein. denn er geht nicht geisteswissenschaftlich vor, wie man das kennt. vielmehr orientiert er sich an geografie, biologie und soziologie. die quantitative analyse der evolution beschäftigt ihn zuerst, dann werden grosse trends modelliert, evaluiert und festgelegt, um allgemeine schlüsse aufzuzeigen. erst dann beginnt die narration. doch auch sie ergibt sich nicht aus sicher selbst heraus, vielmehr steht die finalität der bisherigen entwicklungen schon imvoraus fest.

wir müssten aus der geschichte lernen, um die langfristigen entwicklungschancen einer gesellschaft richtig einstufen zu können, fordert der historiker. “In den letzten 15000 Jahren nahm der Index um 900 Punkte zu, für die nächsten 100 Jahre erwarte ich eine Zunahme von 4000 Punkten.”

ob das ein goldenes zeitalter ist, lässt er offen. denn ein anhänger des linearen fortschrittsdenkens, wie es im 19. jahrhundert verbreitung fand und die geschichtsphilosophie so nachhaltig prägte, ist ian morris nicht. mit dem kommenden entwicklungsschritt wächst seiner auffassung nach auch die wahrscheinlichkeit eines sozialen kollaps, was fast schon nach posthistorie tönt. auch wenn ihn das nicht gross kümmert, und er lieber schreibt: “Das Imperium Romanum brachte einen grossen Entwicklungsschub, schuf aber auch die Voraussetzung für seinen Untergang. Europa benötigte dann fast ein Jahrtausend, um diesen Rückschlag zu überwinden.” der nächste kollaps werde aber gravierender sei, den in der globalen welt von heute seien alle gesellschaften miteinander verhängt.

auch ohne das geht ian morris, wie zahlreich futurologen davon aus, dass das östliche zentrum heute besser aufgestellt ist als das westliche, fukushima zum trotz. mit einem raschen wechsel in der führung der gesellschaftlichen entwicklung rechnet der 50jährige wissenschafter jedoch nicht. “2103” nennt er symbolhaft als schaltjahr, bei dem “new york” von “tokio” überholt wird. den usa gibt er noch 30 jahre vormachtstellung, während denen die fragmentierung der herrschaft jedoch zunehmen und die zahl der konflikte wieder wachsen werde.

nicht schlecht, was da der archäologe aus seinen computeranalysen über vergangenheit, gegenwart und zukunft herausgräbt. grosse linien erkennt man auf jeden fall, materialreich sind seine schriften auch, und anregend bleiben seine spekulationen, was das alles für ferne zeiten heisst. die noch soweit vor uns liegen, dass wohl keiner meiner leserInnen sie je wird überprüfen können.

stadtwanderer

berner cafe postgasse – die hinterste beiz in aussenbezirk von marseille

sie hat “ja” gesagt, gab die wirtin ihrer freude ausdruck. die gäste in der strasse fragten sich zu was?
es hat geklappt, bald schon wir sie königin sein. da war es uns an den mittagstischen klar, dass es um kate, äxgüsi, herzogin catherine ging.

lange lenkte mich das thema nicht ab. was die gegenwart betrifft bin ich republikaner – und demokrat. wenn es um monarchien geht, faszinieren mich die, bevor die revolutionären gedanken von jean-jacques rousseau, alexis de tocqueville oder benjamin barber staats- und regierungsverständnis prägten, indem es nicht nur feiernde untertanen, auch anspruchsvolle staatsbürgerInnen gibt.

uns so wandte ich mich von den grossen geschehennisse der zeit ab und dem wunder des kleinen ortes wieder zu. denn aufgetischt wurde ein prächtiger postgass-salat. frische blätter, einige pilze und etwas gebratenes poulet lagen schön zubereitet vor mir, sodass ich nur zustechen musste. dazu gab es ein herrlich gekühltes bier. genauso wie ich es an einem solche warmen frühlingstag liebe.

im winter versteckt man sich gerne im engen berner café postgass. das ist es schön warm, vom grossen offen, von der küche und von den gästen zwischendrin. im sommer bleibt man lieber draussen. ein paar kunstbäume markieren den bezirk, wo man auf sonst offener strasse essen und trinken darf. die wirken ein wenig wie eine alte stadtmauer, mitten in der stadt.

die tische im cafe postgasse sind aus einfachem holz, die stühle nicht minder so. dafür ist die bedienung stets fix und herzlich. und die kleine karte hat immer was grosses aus der hausmansskost. als koch amtet stephan hofmann, den service macht regula hofmann. seit ich das cafe besuche, sind sie das wirtepaar. wie lange das genau her ist, weiss ich nicht wirklich, 10 jahre, vielleicht auch 20.

die spezialität der beiden sind fischsud mit muscheln. im kalten tagen seien sie aus der normandie, sagt man, im heissen aus dem mittelmeer. die bouillabaisse ist in bern und einiges darum herum bekannt – und beinahe so berühmt wie in marseille.

das sage ich meinen gästen bei stadtwanderungen denn auch immer: kulturell ist bern eine brückenstadt, ein ort der vermittlung zwischen den nachfolgern der alemannen rechts der aare und den burgundern links der aare. die nydegg ist seit menschengedenken der hauptsächliche übergang – nur wenige schritte vom postgässli entfernt. und da man in dieser altstadtgasse auf ehemals burgundischem boden ist, ist das cafe postgasse sowas wie die hinterste beiz von marseille. womit wir doch wieder bei erinnerungen an grosse zeiten wären.

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