von der zukunft des schweizer politsystems

mit dem entscheid von gestern habe das parlament die konkordanz gebrochen, hörten wir in den letzten 24 stunden zur genüge. was ist sache, und was nicht? eine kritische auseinandersetzung.

tatsächlich, die zauberformel von 1959 ist tot. doch wurde sie nicht am mittwoch zu grabe getragen. der zauber ist spätestens 2003 verflogen und die formel wurde durch den ausschluss der svp-bundesrätInnen 2008 entwertet. mit den letzten bundesratswahlen gehört dieses denken der vergangenheit an, und es dürfte auch nie mehr zurückkehren.
denn die voraussetzungen für die 2:2:2:1 formel von 1959 sind schlicht nicht mehr gegeben. das parteiensystem der 50er jahre existiert nicht mehr. wir haben kaum mehr milieuparteien, die sich aus den konfliktlinien der konfessionen, der stadt/land-interesse und der links/rechtgspolarisierung ergaben, und mit der vereinigung von fdp, kk (heute cvp), bgb (heute svp) und sp in einer regierung überwunden wurden. hinzu gekommen sind die öko-frage, die globalisierungsprobleme, und die männerpolitik von damals ist der politik über die geschlechter hinweg gewichen. profitiert hat von alle dem die svp, gelitten haben vor allem fdp und cvp. hinzugekommen sind die gps, die glp und die bdp. das alles verlangt nach einem neuen integrationsmechanismus, wenn man konkordante politik will.
die beschwörung von 1959 namentlich durch die svp hatte fast schon groteske züge. denn im heutigen politvokabular wurde damit als ein mitte/links-regierung etabliert. nachdem von 1848 bis 1959 die fdp 111 jahre die mehrheit im bundesrat hatte oder diese abwechslungsweise mit der kk resp. bgb herstellen konnte, war das mit der zauberformel erstmals nicht mehr sicher. denn der coup von 1959 brachte die kk in die poleposition, konnte sie doch neu alternativ mit sp oder fdp mehrheiten beschaffen. wenn man von 2:2:2:1 sprach, meinte man letztlich nicht das system der wechselnden mehrheitsbildungen von 1959, sondern die mehrheitsposition von svp und fdp, wie sie 2003 bei der ablösung der zauberformel galt. wie gesagt, diese gibt es seit 8 jahren nicht mehr, nicht erst seit 24 stunden.

gelittten hat am mittwoch die regierungskonkordanz. wie auch immer man sie definieren mag: um die arithmetik kommt man nicht herum, indessen, nur mit mathematik entsteht keine regierung. die parteistärken, bestimmt durch den wähleranteil, wohl auch bemessen an den fraktionsmitgliedern, die den bundesrat wählen ist ein zentralen kritierium. wenn der konsens unter den parteien hoch ist, kann es sogar zum einzigen stilisiert werden. doch genau das haben wir nicht mehr. die schweizerer politik hat sich seit den 80er jahren des 20 jahrhunderts angesichts neuer polarisierungen, knapp gefüllter staatskassen und medialem treiben in der politik von der konsenspolitik verabschiedet; etabliert hat sich eine streitkultur. besonders der versuchte ewr-beitritt hat das befördert; und mit dem erfolgten uno-beitritt ist die radikalisierung von vertrauen und misstrauen in die bundesregierung nochmals befördert worden. das ist denn auch der grund, dass die eu-fragen und die damit verbundene migrationsproblemtik von höchster sprengkraft in der schweizerischen politik ist.

wer regierungskonkordanz einfordert, muss wohl auch über die inhalte sprechen. über eine gemeinsames regierungsprogramm, über grundlegende werte, die es zu erhalten gibt, über übereinstimmung im allgemeinen. reif sind wir dazu noch nicht. svp und sp wehren sich mit händen und füssen, dass es konkordanz inhaltlich bestimmt wird. das herauszufinden, ist sache des parlamentes, das letztlich kein legislaturprogramm will, sondern entscheidung von fall zu fall, die aus wechselnden allianzen im parlament hervorgehen können: mal der bürgerlichen, mal jener des zentrum, mal mitte/links. immerhin, die kernenergiedebatte, im wahljahr wohl die wichtigste politische weichenstellung, hat bewegung in die sache gebracht. sie war hat die grundlinie entstehen lassen, welche die bundesratswahlen beherrschte: rotgrün, das die vorgaben machte, ein zentrum, das für die umsetzung verantwortung tragen will, regierungsparteien, die das mittragen wollen, und auch nicht-regierungsparteien, die zustimmung signalisieren. das haben sp, cvp, gps, bdp und glp und evp begriffen, und mit der wiederwahl von eveline widmer-schlumpf im bundesrat durchgesetzt.
eine koalitionsregierung ist der jetzige bundesrat beileibe nicht. dafür müsste simonetta sommaruga ministerpräsidentin geworden sein, dafür müsste es eine koalitionsvertrag mindestens zwischen sp, cvp und bdp geben, und dafür müsste auf regierungs- und parlamentsebene eine richtlinienkompetenz existieren. all das haben wir nicht! was wir haben ist eine themenallianz, momentan bestehend aus dem ausstieg aus der kernenergie. ob sich diese verallgemeinert oder nicht, muss die zukunft weisen. denkbar ist diese schon, was für die entwicklung eines koalitionssytems von bedeutung wäre, möglich ist auch, dass die alltagsherausforderungen zu wechselnden mehrheiten im parlament führen, wie wir es eigentlich seit langem kennen.

zugenommen hat mit dieser ausrichtung das profil der personen, die diese woche gewählt und nicht gewählt wurden: zuerst, sie müssen in ihren parteien verankert sein, sie müssen einen leistungsausweis als legislativ- oder exekutivpolitikerIn haben, und sie müssen, wie es die mediendemokratie verlangt, skandalfrei sein. das geschieht nicht von einer stunden auf die andere, sondern als parteiinterner prozess, als karriere in der institutionellen politik wie auch in der medialen öffentlichkeit. doch das ist nicht alles. die epoche der alphatiere im bundesrat scheint vorbei zusein. christoph blocher ist nicht mehr bundesrat, pascal couchepin nicht mehr, und micheline calmy-rey tritt ende jahr ab. neu sind teamplayer gefragt, jener politikerInnen-typ, der beispielsweiseaus der libyen-krise gelernt hat, nicht sich, nicht seine partei profilieren will, sondern zum team bundesrat seinen beitrag leisten will. auch wenn es schwer ist, vorherzusehen, was aus einem frisch gewählten bundesrat will: alain berset erfüllt diese kriterien war schon idealtypisch.

am mittwoch wurde weder die tote zauberformel beerdigt, noch eine neue formel von dauer geboren. gewählt wurde die regierung, die beim bestehenden wahlrecht im gegenwärtigen parlament die mehrheit hat. dabei wird es kaum bleiben, ist meine prognose. denkbar sind modifikationen der wahl: der übergang zur wahl auf einmal, die listenwahl für den bundesrat. denkbar ist auch, dass die zahl der bundesrätInnen modifiziert wird: 8 departement, mit aufteilung des grossen uvek und eine departement für einen regierungspräsidenten erscheinen angemessen.
was daraus wird, muss die begonnene, aber unvollendete regierungsreform weisen. das wird nicht nur eine sache des bundesrates sein. daran müssen sich auch die parteien beteiligen, die expertInnen einbringen, und eine grundkonsens in der politischen öffentlichkeit entstehen. der wird entscheiden, wie wir aus der gegenwärtigen übergangsphase heraustreten werden: sei es als rückkehr zur konkordanz mit klaren regeln für die beteiligten, mit der absicht, langfristig erfolgreiche politik zu betreiben, sei es als koalitionssystem, das darauf ausgerichtet ist, die politik klarer auf die gegenwartsfragen auszurichten, im wissen darum, dass sich die gegenwarten ändern, was sich in wahlerfolgen ausdrückt und auf die regierungszusammensetzung auswirkt.

stadtwanderer