die kürzeste geschichte europas kurz besprochen

in europa ist der historiker john hirst kaum ein begriff. fälschlicherweise, denn der australier hat eine bemerkenswerte geschichte europas geschrieben.

die zahl der geschichtsbücher über europa ist in den letzten 20 jahren rasch angestiegen. mit dem kumulierten wissen hat in der regel auch die seitenzahl der werke zugenommen. dem setzt john hirst eine radikale alternative gegenüber. der der hat die kürzeste geschichte europas geschrieben. auf rund 200 seiten erzählt er sie zuerst in der kürzestens form, dann in der längeren form.

und lacht dabei immer wieder über seine eigenen pointen!

klar, eine ereignisgeschichte bekommt man so nicht. dafür eine kulturgeschichte aus der fremdperspektive. hirsts buch ist aus seinen vorlesungen an der universität melbourne entstanden. 2009 hat er auch englisch vorgelegt, was ihm wichtig erschien, damit die studierenden, vollgepfropft mit einzelheiten aus dem eigenen kontinent, die spuren eines teils ihrer kultur, die aus europa stammt, wiedererkennen.

nun ist das kleine werk auch auf deutsch erschienen, was der verbreitung der einsichten in unseren gegenden sicherlich dienlich sein wird. das grundschema zur europäischen kultur, das hirst entwickelt, ist einfach und erhellend zugleich:

schematische darstellung der europäischen kulturgeschichte nach hirst

geburtsort ist griechenland, dessen gelehrsamkeit von den römern übernommen worden sei. bewahrt worden sei dies in der römisch-christlichen kirche. unterstützt worden sei es von den germanischen kriegern, die sich im zerfallenden römischen reich eingenistet haben.
erschüttert wurde die mittelalterliche welt durch die renaissance, mit der die klassik zum vorbild erhoben wurde. und die reformation habe den anspruch, das christentum sei römisch, gründlich in frage gestellt.
entscheidend sei, was danach geschah: das experiment habe das weltbild der griechen mit der erde im zentrum zum einsturzt gebracht und den wissenschaftlichen durchbrüchen den weg geebnet. zudem mit der aufklärung wurde die kritik an der religion als aberglaube salonfähig.
seither beherrschten, so hirst zwisch grundströmungen das europäische bewusstsein: die vernunft, und mit ihr der allgemeine fortschritt, auf der einen seite, das gefühl, und mit ihm der nationalismus und die kultur auf der anderen seite.

soweit die kurzform der kürzesten geschichte. sie dien hirst, die längeren formen zu entwickeln: die einfälle und eroberungen der germanen, muslime und normannen, die entwicklung der staatsformen, geprägt durch zahlreiche monarchien auf der einen, republiken auf der anderen seite, die lange anhaltende dualität von kaiser und papst, die aus dem zerfall des römischen reiches entstand und etwas neues entstehen liess, die entwicklung der sprachenvielfalt vom romanischen, germanischen zum slawischen und schliesslich die hohe bedeutung des gemeinen volks der bauern, die während langer zeit in tradition verharrte, durch die landwirtschaftlichen und industriellen revolutionen aber in den hintergrund gedrängt wurden.

hirst unternehme, steht im klappentext, “mit viel Wirtz und Blick aufs Wesentliche einen rasanten Ritt durch Europas Geschichte.” das kann man ohne zweifel sagen. denn das buch ist megaspannend, sodass man dem tempo der autors freiwillig folgt (habe es übers wochenende verschlungen). es irritiert, weil es unglaublich viel auslässt, und es überzeugt, weil ein durchgehaltenes ganzes entsteht.

sicher, man kann dem autor vorwerfen, vor allem allem westeuropa, ja das angelsächsische europa vor augen zu haben. gerade daran ist ja in jüngster zeit viel kritisiert worden, beispielsweise dass der islam für die vermittlung der griechischen kultur in mittelalter viel wichtiger war, beispielsweise dass die entwicklungen in nord und süd nach der reformation widersprüchlich verliefen, beispielsweise, dass zwischen ost- und westeuropa erst heute die konvergenzen wieder zunehmen würden, derweil historisch die divergenzen wichtiger waren. das kümmert den autor auffallend wenig. dafür greift er auffallend starke bilder heraus, etwa die ritter als christianisierte krieger, die im gentlemen weiterlebten, etwa die bauern, die ganz gut ohne zeit auskamen, mit grussformen soziale identitäten geform hätten, etwa die sprachen, deren eigenheiten aus den wanderungen, konflikten und assimilierungen heraus entstanden seien. dass man das latein für eine tote sprache hält, bezweifelt hirst mit dem gekonnten satz, dafür leben die leiche munter weiter!

im vergleich zu anderen kulturgeschichten europas überzeugt das buch, weil es nicht alles und jedes auf die griechen und den papst zurückführt, sondern die rivalitäten der gemanen am kampf, die kraft der franzosen mit der vernunft und die fähigkeit der schotten zur pragmatsichen betrachtung für wesentlich hält. denn das sei es, was europa voran getrieben und zur einzigen kultur geformt habe, die sich über die ganze welt ausgebreitet habe.

zu gerne hätte ich es jedoch gehabt, das buch würde nicht im wesentlichen mit der kulturellen entwicklung um 1800 aufhören, sondern es hätte eine fortsetzung bis in die gegenwart gefunden. viel länger wäre die kürzeste geschichte dadurch nicht geworden, wohl aber etwas komplexer, denn der phänomenale aufstieg europa in der neuzeit erfuhr im 20. jahrhundert eine dramatische wende, die wir heute im aufstieg neuer kontinente wie asien erleben, ohne sie wirklich zu verstehen.

stadtwanderer