20 jahre nach dem nein zum ewr – was ist daraus geworden?

zofingen, freitag abend: das gasthaus raben hat zu. dennoch finde die letzte veranstaltung der örtlichen historischen gesellschaft 2002 statt. geladen bin ich, um fast auf den tag genau 20 jahre nach der ewr-abstimung zu referieren.


kleine runde nach dem vortragsabend

gut 50 personen sind gekommen, vor allem geschichtsinteressierte, aber auch bürger und bürgerInnen, denen die res publica wichtig ist. bevor ich reden konnte, wurde der tagesschau-beitrag vom januar 1993 gezeigt, der die ergebnisse der vox-analyse zur genannten volksentscheidung zusammenfasste. das klaren stände-nein (16 von 23 kantonen dagegen), vor allem das knappen volks-nein (50,3% dagegen) liess sich in 5 konfliktlinien aufteilen: vom misstrauen in den bundesrat war die rede, vom röschtigraben, von unterschiedlichen werten in städten und auf dem land, von den divergierenden einschätzungen zwischen den bildungsschichten und der polarisierung des parteiensystems. am schluss darf ich einschätzen, ob das ergebnis verbindlich sei oder ob es zu einer zweiten volksabstimmung komme.

aus der distanz von 20 jahren ist namentlich die wirkungsgeschichte dieser zäsur der schweizerischen politlandschaft einfacher nachzuzeichnen. drei blickwinkel hatte ich mir für meinen vortrag vorgenommen: den politischen, auf das programm, das aus dem 6. dezember 1992 entstand; den politologischen, auf die entstehung einer neuen, mächtigen konfliktlinie in der schweizer politik gerichtet; und den zeitgeschichtlichen, dargestellt im spiegel von stellungnahmen prominenter historiker zum ewr-entscheid.

stichworte zum programm der schweiz nach 1992 waren die volksinitiativen der auns, welche die eröffnung von beitrittsverhandlungen für eine eu-mitgliedschaft von einem vorgängig positiven abstimmungsergebnis abhängig machen wollte, aber auch die der bewegung „geboren am 7. dezember 1992“, die einen sofortige eu-beitritt verlangte. beide scheiterten in der volksabstimmung klar, mit je einem viertel zustimmung. 1994 begann mit der verhandlungen für bilaterale verträge mit der eu die phase zwei, die im jahr 2000 mit der 67prozentigen zustimmung des volkes zu den biilateralen verträgen endete. Seither ist ein komplexes vertragswert entstanden, das innen politisch zwischen 2005 und 2009 dreifach mit volkentscheidungen abgesichert wurde. in der heutigen phase drei ist aussenpolitisch vor allem die frage der institutionellen regelungen und damit der rechtssicherheit hängig; innenpolitisch drängen probleme mit dem freizügigkeitsabkommen am meisten.

mein zweiter teil folgte der idee, dass sich die schweiz nach dem ewr-nein zunächst nach aussen öffnete, progessiver wurde, in dem urbane, vernetzte schichten an bedeutung für politik und kultur gewannen. indes, das klima kippte spätestens 2006 mit der abstimmung über das neue asylgesetz und wird seither wieder vermehrt durch werte der abgrenzung und des konservatismus geprägt. themen wie europa- oder asylfragen konnten mit volksabstimmungen entschärft werden, während namenlich die ausländer- und sicherheitsfragen durch ebensolche volksentscheidungen von der verwahrungs- bis zur ausschaffungsinititive angeheizt wurden. polarisiert wurde so zwischen urbanen und ruralen räumen mit rotgrünen parteien, die in den grossen städten und der svp, die in den ländlichen gegenden den ton angeben. erschüttert wurde auch die bisher stabile zusammensetzung des bundesrates, sodass die konkordanzfrage mehrfach aufgeworfen wurde. beantowrtet wurde diese bis jetzt dahingehend, dass wir uns auf dem weg zu einem europäischen normalfall befinden, aufgrund von direkter demokratie, förderalismus und relativer autonomie der regierung gegnber dem parlament jedoch weit entfernt bleibt, vom britischen vorbild eine demokatie mit regierung und opposition.

diese bilanz erlaubte es mir zur zeitgeschichtlichen würdigung der ewr-entscheidung und ihren folgen durch historiker zu wechseln. christoph mörgerli zitierte ich, weil er geschichte mit geschichten verwechsle, wenn er seine eigene entlassung an der uni zum signal hochsitiliere, dass eu-gegner im öffentlichen dienst nichts mehr zu suchen hätten. jakob tanner erwähnte ich, weil er meint, die schweiz habe im 20. Jahrhundert den traum geträumt, den sie in den nächten der weltkriege gehabt habe, aus dem sie nun stück für stück erwachen müsse. thomas maissen kam als liberaler skeptiker zu wort, wonach jede grundsätzliche veränderung in der schweiz aufgrund der zentralen machtverteilung als verlust von souveränität und anwachsender frembestimmung erschienen müsse, was zum immobilisimus führe. schliesslich verwies ich auf den cvp-nahen historiker urs altermatt, der während seiner abschiedrede an der universität freiburg davon sprach, das sich europa verschweizere – und das ohne mithilfe der schweiz, um dieses paradoxon zum anlass zu nehmen, für einen neue euorpadebatte in unserem land zu plädieren.

selber habe ich mich in den 20 jahren gewandelt. in den 90ern war ich eher gegner der bilateralen, nicht zuletzt wegen des damit verbundenen “autonomen nachvollzugs” der eu-gesetzgebung. wenn ich heute die bilateralen befürworte, dann deshalb, weil auf diesem weg die schweizer wirtschaft die essenz dessen bekommen hat, die sie seinerzeit mit dem ewr-beitritt anstrebte. die politik wiederum kann darauf verweisen, ein projekt formuliert zu haben, dass dem ewr-nein rechnung trägt und damit den populistischen protest gegen die europapolitik entkräftete. einen eu-beitritt sehe an vielen denkbaren hürden in der schweiz scheitern; ein nachträgliches mitmachen im ewr würde wohl die gleiche ständemehrsproblematik kennen wie damals. das ziel, in einem föderalistischen und demokratischen europa dabei zu sein, sollten wir nicht aufgeben, denn die akzeptanz bilateraler lösungen nimmt gerade unter den eu-mitgliedstaaten ab, der weg dazu ist aber noch nicht gefunden.

das publikum in zofingen dankte für auslegeordnung, analysen und wertungen, sodass wir im geschlossenen raben am stammtisch im verkleinerten kreis zu gemeinsamen bier übergehen konnten.

stadtwanderer