die imperfekte konkordanzdemokratie

wo steht das politische system der schweiz heute? eine woche des nachdenkens in den schwedischen schwedischen wäldern hat mich zur nachstehenden analyse inspiriert.

was meint konkordanzdemokratie?

pietro morandi, dessen doktorarbeit ich eben besprochen habe, stört sich regelmässig, wenn man für die zeit vor dem ende der 30er jahre von der schweiz als konkoranzdemokratie spricht. denn erst die überwindung der blockbildung von links und rechts rechtfertige es, unser land so zu nennen. der historiker in mir weiss, dass sich die haare vieler geschichtsschreiber sträuben, wenn man menschen und ihre taten nach kriterien bemisst, die sie gar nicht kennen konnten.dennoch, bezweifle ich seine feststellung, wie ich gängigen zeitdiagnosen der politikerInnen bezweifle, die vom ende der konkordanz handeln.
von concordia berichtet schon die römische mythologie, wenn sie von der göttin der eintracht spricht, die für einheit zwischen den bürgern roms sorgen sollte. im mittelalter verwendete man den term, wenn man, meist von oben zerstrittene adelsfamilien mittels heirat einte.
gebräuchlich ist konkordanz auch im zusammenhang mit demokratien. zwar propagierte die politikwissenschaftliche lehre in der nachkriegszeit anfänglich die reine mehrheitsdemokratie nach dem westminster-modell. doch seit ende der 60er jahre des 20. jahrhunderts spricht man auch von einem alternativen demokratiemuster, das nicht auf wettbewerb, dafür auf konsens ausgerichtet ist, gerade um innere spaltungen einer gesellschaft zu überwinden. von konkordanzdemokratie schreibt der niederländische politikwissenschafter arend lijphart, wenn politische kultur und politische institutionen auf eben diese suche nach übereinstimmung ausgerichtet sind. sechs eigenschaften der konkordanzdemokratie arbeitet er heraus: (über)grosse regierungsmehrheiten, kulturelle autonomie, proportionalität der repräsentation, minderheitenschutz, segmentierte teilgesellschaften und ausgeprägte elitekooperation.

von der frühen mehrheits- zur perfekten konkordanzdemokratie

man kann den begriff konkordanzdemokratie auf die ganze zeit der schweizerischen eidgenossenschaft anwenden, wie das beispielhaft der berner politikwissenschafter adrian vatter seit längerem vorschlägt. denn hervorgegangen ist der heutige bundesstaat aus den ideen im gefolge der französischen revolution einerseits, den institutionen der alten eidgenossenschaft anderseits. geprägt war die staatsgründung durch einen ausgesprochenen regionalismus, eben erst überwundene, tiefe religiöse spaltungen und sprachlich angegrenzte räume. das alles musste integriert werden. der freisinn bildete die einheitliche elite, die einfache, aber gemeinsame regeln schuf, um industrialisierung und wirtschaftliche entwicklung zu garantieren, gleichzeitig aber kulturelle autonomien zuliess. das seit 1848 gültige minderheitsveto sicherte den respekt der mehrheit vor der minderheit. so kennt der schweizerische bundesstaat seit seiner gründung ein ausgeprägtes zweikammmernsystem auf parlamentsebene, mit dem das volk oder die nation, aber auch die kantone resp. die stände im bundesstaat abgebildet werden. damit sind mindestens drei der sechs kriterien von lijphart seit beginn erfüllt.
weniger rasch setzte sich in der schweiz die proportionalität der behörden durch. dafür brachte es im wesentlichen den von links her organisierten generalstreik der arbeiter gegen das regime des bürgertums. denn erst seit 1919 wird der nationalrat nach dem proporzwahlrecht bestimmt, während man beim ständerat beim majorzwahlrecht verblieb. die proportionalität der regierungen blieb noch länger umstritten, weil es die staatstragende fdp bevorzugte, opponierende minderheiten in den bundesrat zu kooptieren, sprich sie unterdurchschnittlich einzubinden. als erstes profitierten die katholisch-konservativen davon, dann die bgb, die im bundesrat vertreten waren, bevor es es sie national gab. die sp musste am längsten warten, um regierungspartei zu werden, denn erst 1943 war es angesichts der äusseren bedrohung, aber auch innerer labilität des bürgerblocks soweit.
die eigentliche proportionalität für die bundesratszusammensetzung setzte sich 1959 oder 40 jahre nach dem nationalrat durch. mit der zauberformel wurde die parteienstärke unter den wählenden zum massstab, um die sieben sitze unter die vier grösseren parteien zu verteilen. eine wichtige rolle spielte dabei, dass die elitenkooperation namentlich in der aussenwirtschaft, aber auch in der parteienpolitik soweit gediehen war, dass entscheidungen von regierung und parlamentlten in der grossen mehrheit der fälle von den vier parteien mitgetragen wurden. spätestens seither kann man auch von übergrossen mehrheitsregierungen auf bundesebene sprechen, das war, wenn man so will, die vollendung der konkordanzdemokratie, häufig auch als paradigmatischer fall der integration und als vor an konsensfindung gepriesen.

unbewältigte herausforderungen schwächen die konkordanzdemokratie

wir schweizerInnen wissen es, die guten zeiten der konkordanzdemokratie sind vorbei. die bedeutung traditioneller teilgesellschaften auf der basis der konfessionellen bekenntnisse ist seit dem ökumenischen konzil rückläufig, womit eine voraussetzung verschwunden ist. geblieben ist die sprachliche teilung des landes. hinzu gekommen sind aber neue spannungen, sei es das aufflackern des konflikts zwischen kapital und arbeit oder der aktualisierte gegensatz zwischen stadt und land. mit dem postmaterialismus der 80er jahre, aber auch mit der öffnung der schweiz gegenüber dem ausland sind namentlich die konfikte entlang der siedlungsart zur mächtigen herausforderung geworden. dabei geht es nicht mehr um agrarfragen, sondern um interessen, die sich aus der aussen- gegen die binnenwirtschaft ergeben, aber auch um lebensstile, mit denen idealistische auffassungen gegenüber materialistischen an bedeutung gewonnen haben.
gerade in der vermittlung zwischen diesen welten gibt es keinen heute keinen konsens mehr. parallel dazu verringert sich die elitekooperation, und entsprechend ist die regierungsbildung auf bundesebene, teilweise auch in den kantonen und städten, aus dem ruder gelaufen. die schweiz, so eine unter politikwissenschaftern zunehmend verbreitete these, hat zwar weiterhin institutionen, die auf dem prinzip der konkordanz basieren; sie wird aber immer weniger durch eine kultur bestimmt, die auf dem gütlichen einvernehmen in wirtschaft und politik basiert.
mit anderen worten: überparteiliche regierungskonkordanz, wie sie pietro morandi in seiner dissertation zur entstehung der konkordanzdemokratie vor augen hatte, gibt es heute nur noch in ihren letzten zuckungen. eine strategische alternative dazu hat sich nicht herausgebildet, sodass man eher von einer übergangsphase mit einer imperfekten konkordanzdemokratie sprechen kann.

von der ausschau nach alternativen zurück zu den eigenen wurzeln
dennoch, vom konkurrenzsystem nach angelsächsischem vorbild sind wir weit entfernt. regieren in der schweiz ist nicht eine frage des gewinns von wahlen. es hängt auch von volksentscheidungen ebenso ab, genauso wie von der fähigkeit, das föderalistisch strukturierte land kohärent zu steuern. der ständerat bildet dabei seit dem 19. jahrhundert ein wirksames minderheitsveto; verfassungsänderungen brauchen ebenso seit langem das doppelter mehr des volkes und der kantone, und die drohung mit dem referendum erlaubt es verbänden und weiteren referendumsfähigen gruppierungen, sich auch als gruppen ohne wahlerfolge das nötig gehör zu verschaffen.
eine konsenspolitik, die auf einer starken verwaltung basiert wie in den parlamentarischen monarchien des nordens erscheint der schweiz angesichts ihres hanges zum kleinen raum und zur regionalen autonomie unangemessen. wenig verheissungsvoll strahlt auch die kombination von föderaler basis mit einer mehrheitsdemokratie aus, wie sie die usa darstellt. denn heftige innere spaltungen und politische polarisierungen lassen das land stagnieren. wenig ersprieslich sind zudem die erfahrungen, welche polit-kulturell vergleichbare länder wie italien und belgien jüngst machten, die angesichts medienpolitischer regimes resp. sprachregionaler identitätskrisen wirtschaftlich bedroht sind, politisch führungslos und rechtsstaatlich zerrüttet erscheinen. selbst die niederlande oder österreich, im einen oder anderen der schweiz nahestehend, sind nicht wirkliche vorbilder, denn sie sind zur interessenverteidigung als nationalstaaten gegenüber der eu gezwungen.
es bleibt die zuversicht, dass die schweiz eine ausserordentlichen output ihres politischen systems kennt, der wirtschaftlich, aber auch sozial und ökologisch zum besten oder bessern gehört. das ist bei allem verdruss über den stand der politik in der schweiz umso erfreulicher, als genau erfolgreiche systemleistungen die konkordanzdemokratie angestrebt wurden. es bleibt deshalb die hoffnung, dass sich das vorteilhaft auf die imperfekte konkordanzdemokratie der schweiz auswirkt, sodass sie mit der bewältigung neuer konflikte wieder zur perfekten entwickelt.

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