politische gräben in der schweiz neu vermessen

gerade rechtzeitig zur volksabstimmung “gegen masseneinwanderung”, welche die schweiz exemplarisch teilte, ist ein neues buch zu den politischen gräben des landes erschienen. meine bilanz; materialreich, weil ausführlich gebuddelt, leider mit etwas veraltetem grabungsplan.

_UG_Seitz_diggraben_UG_Demoraktiewer ein „kompaktwissen“ zur geschichte der politischen gräben in der schweiz in buchform anbietet, der hat meine aufmerksamkeit auf sicher. wenn der autor historiker und statistiker ist, garantiert das zudem zeitlich eingebettete erkenntnisse und präzise auskünfte. werner seitz, sektionleiter beim bundesamt für statistik in sachen wahlen und abstimmungen, erfüllt genau diese kritierien, und er ist auch der autor des buches, das ich hier kurz vorstellen möchte.

gesellschaften, schreibt er gleich zu beginn, bestünden nicht aus “dem volk”, sondern aus gräben, die bisweilen teilen, bisweilen überbrückt werden. in der schweiz identifiziert er drei übergeordnete teilungen:

. den konfessionellen,
. den sprachlichen und
. den stadt/land-graben.

letzterer sei der älteste, quasi mit der entstehung der eidgenossenschaft im 14. jahrhundert aus länder- und städteorten entstanden. der konfessionelle konflikt geht auf die reformation im 16. jahrhundert zurück, und er hat zu vier bürgerkriegen geführt. der sprachenkonflikt wiederum entstand mit der helvetischen republik an der schwelle vom 18. zum 19. jahrhundert, als aus dem weitgehend deutschsprachigen alte regime, die schweiz der gleichbereichtigten sprachen mit unterschiedlichem gewicht in der politik entstand.

entwickelt habe sich die politische bedeutung der gräben ganz unterschiedlich, bilanziert der autor:

erstens, aus dem stadt/land-konflikt sei der grosse bauernkrieg im 17. jahrhundert mit unterdrückten und unterdrückern entstanden; mit dem werdenden freihandel in agrarfragen in den 1830er jahren habe er erneut einen höhepunkt erlebt. aktuell zeigt er sich beispielhaft in fragen der verkehrs-, aber auch in der europapolitik.
zweitens, das werden des bundesstaates sei in den 1840er jahren durch die konfessionalisierung der politischen spaltungen geprägt worden, und dies habe bis in die 1960er jahre nachgewirkt. betroffen waren davon die familien-, die schul- und die religionspolitik, denn die katholische und die reformierte schweiz habe sich weitgehend in sondergesellschaften entwickelt. erst in der gegenwart ist diese teilung verschwunden.
drittens, nochmals anders ist der verlauf der sprachenteilung. letztlich mit der verfassungsrevision von 1871/4 ausgebrochen, seien fragen der zentralisierung ihr hauptthema gewesen, dem in der französischsprachige scwheiz der föderalismus oder in der italienischsprachige der regionalismus gegenüber gestanden sei. auf dem höhepunkt habe sich der sprachengraben nach dem ersten weltkrieg befunden, und auch die ewr-debatte 1992 habe die schweiz nochmals entlang dem rösti-graben geteilt.

das büchlein von werner seitz bietet eine schematisierte lektüre der schweizer geschichtean, die im kern auf den wahlen und volksabstimmungen und ihren regionalen ergebnissen seit 1848 basiert, wie sie der politologie wolf linder mit seinen mitarbeiterInnen bereits vor einigens jahren in buchform präsentiert hat. denn anhand dieser vermisst der statistiker neuartig die tiefe und dauer der gräben, und er bestimmt die phase des auf- und abstiegs von gesellschaftlichen teilungen.

nebst solchen stärken hat der band aber auch schwächen. das zeigt sich vor allem am (zu knappen) umgang mit dem stadt/land-gegensatz. mag man damit noch einverstanden gewesen sein, dass der autor die soziale spaltung der schweiz mit der begründung des mangels an aussagekräftigen daten aus den regionen wegliess, gibt es beim stadt/land-gegensatz kein pardon.

denn dieser wird in den sozialwissenschaften (und im bundesamt für statistik!) seit jahren nicht mehr so schematisiert gesehen, wie ihn seitz darstellt. einerseits sind die städte via pendlerströme und massenmdien in der ganzen nachkriegszeit weit ins land hinaus gewachsen, und sie haben ihre werte in die agglomerationen verbreitet. anderseits trennt die globale vernetzung seit den 90er jahren des 20. jahrhunderts immer mehr metropolitane zentren von peripheren agglomerationen, sei es in wirtschaftlicher oder kultureller hinsicht. wo die verschiedenartigen agglos letztlich stehen, weiss man heute allerdings nicht, doch ist genau das entscheidend. denn geht zum beispiel um gleichstellung der geschlechter, obsiegt regelmässig die urbane schweiz, derweil sich die rurale immer häufiger durchsetzt, stimmen wir über die kulturelle öffnung des landes ab. doch agglomerationen scheint der autor nicht zu kennen.

zudem, stein rokkan, auf dessen modernisierungstheorie sich seitz explizt beruft, hat seine thesen in den 60er jahren des 20. jahrhundert formuliert. mit seinem cleavage-konzept hat er bahnbrechende arbeiten geleistet. seine folgerung, mit der regelung der industriellen konfliktes zwischen arbeiter und kapital in den westlichen gesellschaften habe die entwicklung ihr ende genommen, hat sich allerdings als fataler fehler in der geschichte der konfliktlinien europäischer gesellschaften erwiesen. entsprechend arbeitet die politische soziologie heute nicht mehr damit, sondern versucht mit theoretischen weiterentwicklungen zur nachindustriellen gesellschaft innovationen im denken auszulösen. folgt man etwa dem st. galler politologen daniele caramani, beruhen die aktuelle spaltung auf dem nachmaterialismus in urbanen gegenden und oberen schichten einerseits, dem antiglobalismus ihrer widersacher in ruralen landesteilen und unteren schichten anderseits. simon bornschier und silja häusermann entwickeln seit einigen jahren an der uni zürich ganz neue konfliktanalysen, um zu verstehen, was in nachindustriellen gesellschaften vor sich geht, doch seitz umgeht sie grossräumig.

im vorwort schreibt werner seitz, seine idee, eine geschichte der gräben in der schweiz zu verfassen, sei vom rüegger-verlag sofort positiv aufgenommen worden. voller tatendrang sei er deshalb auf die insel groix in der bretagne gereist, doch sei er nicht mit einem druckfertigen manuskript nach hause gekommen. genau das denkt man sich auch nach der lektüre des buches. geliefert wird eine genese der konfliktlinien in der schweiz, verbunden mit einer materialreichen analyse von direktdemokratischen entscheidungen. die beiden kapitel über die kulturelle teilung des landes in konfessionen und sprachen in vergangenheit und gegenwart sind geglückt, derweil die strukturelle teilung in funktionale räume und soziale schichten bruchstückhaft bleiben.

entsprechend bleibt der anspruch, mit dem buch eine umfassende untersuchung zu den politsichen gräben in der schweiz in der hand zu halten, nur teilweise eingelöst.

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