Die demokratische Wende in den liberalen Kantonen

Vor der Justiz-, Kirchen- und Gemeindedirektion des Kantons Bern

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Die drei Tage vom 25. Juli (heute!!!) bis 27. Juli 1830 sind in Frankreich die “Glorreichen Drei”. Da fand die zweite französische Revolution statt. Gestürzt wurde der reaktionäre Königs Karl X. Ersetzt wurde er durch schwachen Nachfolger. Faktisch übernahm das Grossbürgertum mit dem Ziel, die Industrialisierung wie im Vorbild England voranzutreiben, die Führung im Königreich.

Die liberale Revolution in den Schweizer Kantonen
Was regelmässig vergessen geht: Die liberale Revolution von 1830 brach im Tessin, dem jungen, napoleonischen Kanton von 1803. Als man in Paris auf die Strasse ging, war das konservative Regime aus den Zeiten des Wiener Kongresses schon einen Monat weggefegt.
Die Liberalen setzten das Oeffentlichkeitsprinzip der Politik durch, ebenso die repräsentative Demokratie mit gewähltem Parlament und indirekt bestimmter Regierung, das Verfassungsreferendum und die Pressefreiheit. Das war der eigentliche Durchbruch zur Demokratie!
Das Vorbild machte in der ersten Hälfte 1831 im deutschsprachigen Mittelland Schule. Vielerorts kamen aufgebrachte Bürger in Versammlungen zusammen. Bevorzugte Orte waren kleine Städte von Uster bis Münsingen – wirtschaftlich dank Protoindustrialisierung wichtig, politisch aber weiterhin rechtlos. Die Bürger forderten die Absetzung der Aristokraten. Im Wallis und in Neuenburg war ihnen damit kein Erfolg beschieden. Und in Basel und Schwyz kam es zur Abtrennung von Kantonsteilen. In Basel sollte das bleibend sein.
Ein Siebnerkonkordat bestehend aus Zürich, Bern, Luzern, Solothurn, Aargau, St. Gallen und Thurgau kündigte an, die Liberalisierung der Politik weiter treiben zu wollen. Dagegen wehrte sich der Sarnerbund, bestehend aus Uri, Innerschwyz, Ob- und Nidwalden, Neuenburg und Baselstadt, mit einer Gegentagsatzung.
Das war ein Verstoss gegen den Bundesvertrag von 1815, Der Sarnerbund wurde militärisch aufgelöst!
Angestrebt wurde seitens der Liberalen auch eine Revision des Bundesvertrags von 1815. Oesterreich, Garantiemacht, reagierte mürrisch. Fürst Metternich erinnerte, der Bundesvertrag habe keine Revisionsklausel. Ohne Oesterreichs Zustimmung könne er nicht geändert werden. Schliesslich scheiterte das eingeleitete Vorhaben, da der Kompromiss einer unheiligen Allianz von Kantonen beider Seiten zum Opfer fiel.
Die Erneuerungsbewegung spaltete sich in der Folge in eine liberale Richtung, die die repräsentative Demokratie wollte, und in eine radikale, welche die Volksherrschaft mit direkter Demokratie anstrebte.

Die fest gleichzeitige Einführung der repräsentativen und der direkten Demokratie
Trotzdem, in den liberalen Kantonen war 1831 der Durchbruch zur repräsentativen Demokratie. Namentlich in den napoleonischen Kantonen gab es auch Forderungen nach weiteren Volksrechten. So in St. Gallen, wo man 1831 das Veto zu Parlamentsbeschlüssen einführte. Eine Kommission konnte entscheiden, ob die vom Parlament beschlossenen Gesetze im Sinne des Volkswillens waren und anzunehmen oder abzulehnen seien.
Der entscheidende Schritt geschah jedoch 1845 in der Waadt. Da nahm man eine Forderung aus der französischen Revolution auf und führte die Initiative ein, mit der die Bürger die Kompetenz der Volksgesetzgebung erhalten sollten. Entschieden wurde in einer Volksabstimmungen, wobei jede abgegebenen Stimme einzeln zählte. Das ist, was wir heute noch haben.

Die neue Partizipationskultur
Die Geschichtsschreibung nennt die Epoche der Schweizer Geschichte Regeneration oder Erneuerung. Entwickelt wurde eine die Partizipationskultur: Vereine schossen wie Pilze aus dem Boden, die als Schützen, Schwingern und Sängern zu Trägern einer erwachten Zivilgesellschaft wurden.
Namentlich die Radikalen setzen auf die Ausdehnung der politischen Rechte. Bis zu einem Viertel der Einwohner bekamen nun das Wahlrecht, derweil fast überall in Europa das Zensuswahlrecht galt, das nur wenigen Prozent Reichen politische Rechte einräumte.
Sattelzeit nennen die heutigen Historiker den Uebergang von der Stände- zur Bürgergesellschaft. Typisch hierfür war die Erweiterung der wenigen Oppositionsinstrumente gegenüber Aristokraten wie die herkömmlichen Bittschriften. Neu hatten sich vielerorts bürgerliche Clubs gebildet, die im Sinne der Aufklärungen über die gute Politik nachdachten. Literaten traten aus den Plan und entwarfen Bilder der Vergangenheit, die in die Zukunft weisen sollten. Das zündete auch im Volk. Vielerorts forderte man Versammlungen in der Tradition der Landsgemeinden. Bisweilen kam es auch zu unkontrollierten Aufständen.
So mischten sich bekannte Oppositionsinstrumente und neue Formen der politischen Einflussnahme.
Partizipationskulturen unterscheidet sich von der Untertanen- resp. Parochialkulturen. Erstere basieren auf einer passiven Bevölkerung, die von den Herrschenden ökonomisch gute Leistungen erwarten, aber keine politischen Ansprüche erheben. Das genügte dem Bürgertum nicht mehr. Zweiteres entstanden rund um kirchlich bestimmte Gemeinschaften, jedoch ohne übergeordneten Staatsbezug. Das war in den katholischen Gebieten noch vielerorts der Fall.
1830/1 geriet namentlich die Untertanenkultur in den alten Aristokratien durch die Befreiung der Individuen in Bewegung,
während sich die Männer in den Parochialkulturen der Landsgemeindeorte quer stellten. Das Kollektiv, das das Ueberleben sichern sollte, blieb hier im Vordergrund.

Früher Strukturwandel der Oeffentlichkeit, die Gründung von Gemeinden und Universitäten
Das Entscheidende geschah mit der Ausbreitung der freien Presse. Nach 1830 blühte sie dank Pressefreiheit auf und liess öffentliche Meinungen entstehen, die das Handeln der Behörden kritisch beäugten. Das war grundlegend anders als im Ancien Regime.
Jürgen Habermas nannte das den Strukturwandel der Oeffentlichkeit. In den alten Aristokratien habe es noch keine Trennung von Gesellschaft und Staat gegeben. Voraussetzung dafür sei die Erklärung der Menschenrechte gewesen, welche die individuellen Freiheiten erst ermöglichte. Erst das schuf den sozialen Raum, indem sich das Bürgertum ihren Platz in der Politik kämpfen konnte.
In der Schweiz muss man zwei Sachen beifügen. Erstens die Dezentralisierung der alten Aristokratien durch die Bildung von Gemeinden. Die mussten nun politisch geführt werden und trugen viel zur Erdung der liberalen Politik bei. Denn die bestand hierzulande nicht nur aus einer säkularen Weltanschauung, sondern auch aus Gemeinderäten, welche die Probleme der neuen Gemeinwesen aus dem Alltag heraus lösen mussten.
Die zweite Neuerung betrifft die Gründung bürgerlicher Hochschulen. Die Universitäten in Zürich, Bern und Genf entstanden alle in den 1830er Jahren, und sie waren weltweit die ersten ohne feudalen Ursprung. Nun waren es die Bürger, die Einfluss auf die Wissenschaft nahmen. In Bern etablierten sich vor allem einflussreiche Staatsrechtler von Ludwig Snell bis Ignaz Vital Troxler. Sie alle umtrieb ein Gedanke: die Gründung eines liberalen Bundesstaates mit demokratischer Ausrichtung.

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