Die Schweiz hat ein Regierungssystem sui generis.

Zwischen Bundeshaus Ost und Parlamentsgebäude

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Weder präsidentiell noch parlamentarisch
1848 war umstritten, wer den Bundesrat wählen sollte. Die Wogen gingen zwischen Parlament und Volk hin und her. Schliesslich obsiegte die Palramentswahl. Ausschlaggebend war, dass der Bundesrat als Kollektiv funktionieren sollte und nur die Parlamentarier das nötige Gespür hierfür hätten.
Aus heutiger Sicht fehlt damit das wichtigste Element eines präsidentiellen Regierungssystems. Denn dafür ist die Legitimation durch Wahl unabhängig vom Parlament entscheidend.
Allerdings, hat die Schweiz auch kei parlamentarisches Regierungssystem. Zwar wählt das Parlament die Regierung, doch kann es sie nicht stürzen, und die Regierung kann das Parlament nicht auflösen. Das wären die zentralen Merkmale.
Man spricht deshalb von einer parlamentsgebundenen Regierungsgewalt. Staatsrecht und Politikwissenschaft bezeichnen es als Beispiel sui generis, als ein Fall für sich, weil aus sich selber entstanden und deshalb für den Einzelfall angemessen.
Wichtig ist die Pfadabhängigkeit. Die Tagsatzung der alten Eidgenossenschaft war ein Kollektivorgan, das Direktorium während der Helvetischen Republik war es auch. Erst Bonaparte hatte mit dem Landammann der Schweiz, einem Regierungschef auf ein Jahr, in Richtung Präsident (oder König) experimentiert. Das hielt 10 Jahre -solange der Kaiser auf den europäischen Schlachtfeldern gewann.
Mit dem Bundesstaat lebte der Posten des Landammanns eingebettet wieder auf. Auch der heutige Bundespräsident, ursprünglich für äußere und innere Sicherheit zuständig, amtet für ein Jahr. Republikanischer geht nicht! Ganz bewusst werden seine Kompetenzen klein gehalten, denn der Bundespräsident soll nicht mehr als ein „Primus inter Pares“, ein Erster unter Gleichenartigen, sein.

Kollegial- und Departementalprinzip
Zu den Eigenheit des Regierungssystems der Schweiz zählen bis heute das Kollegial- resp. Departementalprinzip. Gemeint ist damit, dass der Bundesrat in wichtigen Fragen als Kollegium entscheidet, derweil der Departementschef untergeordnete Angelegenheiten alleine bestimmen kann. Maßgeblich sind die wöchentlichen Bundesratssitzungen, bei denen das sachverantwortliche Mitglied den Antrag stellt und die anderen mit Mitberichten kurz vor der Entscheidung Unterstützung oder Opposition signalisieren. Im besten Fall herrscht große Einigkeit, oder aber es entscheidet die einfache Mehrheit in einer Abstimmung.
Man hat mehrfach versucht, das Regierungssystem der Schweiz zu modernisieren, ist damit aber gescheitert. Prominent der Fall war das bei der letzten Verfassungsrevsion 1999. Aus Angst, das Gesamtprojekt könnte an diese Frage scheitern, gliederte man jedoch die Staatsleitungsreform aus. Konkret diskutiert wurden danach die Zweiteilung der Regierung mit 5 BundesrätInnen und einer Anzahl Minister für die Verwaltungsführung, die Einführung vom Staatssekretariaten für spezielle RegierungsaUfgaben und die Verstärkung der Generalsekretariate an der Seite der Bundesräte.
Auf Ersteres hat man ganz verzichtet, teilweise realisiert wurde dagegen das Andere. Heute kann der Bundesrat maximal 10 Staatssekretariate namentlich für den austausch mit dem Ausland bezeichnen. Aktuell hat die Schweiz heute sechs davon – das Departement für Auswärtige Angelegenheiten gleich zwei. Effektiv handelt es sich aber um herausgehobene Amtdirektoren. Erhöht wurde auch die Schlagkraft der Generalsekretariate. Dies bietet namentlich den Parteien sse der Kabinettsbildung. Kritiker meinen, das habe den Einfluss der Parteien auf die Regierung noch gestärkt, nicht aber den einheitlichen Auftritt.
Nicht durchgesetzt hat sich die mehrfach diskutierte Stärkung des Regierungspräsidiums. Weder die Amtszeitverlängerung über ein Jahr hinaus, wie es einzelne Kantone kennen, noch die Etablierung eines eigentlichen Präsidialdepartementes wie in städtischen Exekutiven wurden eingeführt. Schubladisiert wurde auch eine Aufteilung auf neun statt sieben Departemente. Die Angst, eine vergrößerte Regierung bräuchte eine stärkere Führung, war hier maßgeblich.

Nicht Wahlen, sondern Volksabstimmungen kontrollieren die Regierung
Die wichtigste Kontrolle der Regierungen in der Schweiz geschieht nicht durch Wahlen und Abwahlen, sondern durch Volksabstimmungen. Mehrparteienregierung und Volksabstimmungen gehören eng zusammen. Denn man ist bestrebt, Politik in die Regierung zu tragen, nicht der Volksabstimmmung zu überlassen. Je mehr Parteien regieren, desto eher scheint das erfüllt. Zudem zentriert die Referendumsdrohung Entscheidungen meist schon im Ansatz. Die Poltik des Bundesrats ist deshalb in aller Regel gut eingemittet, allenfalls leichtes rechts oder links davon. Auch sonst herrscht Pragmatismus vor. So hat der Bundesrat ein feines Sensorium entwickelt, um die Schlagkraft von Volksinitiaitven zu zähmen. Normalerweise empfiehlt Ablehnung, in 2 von 5 Fällen realisieren er oder das Parlament indirektes Entgegenkommen auf dem Gesetzesweg. Geht einmal etwas schief, muss dasRegierungsmitglied nicht zurücktreten, sondern Besserung gelobigen. Stabilität geht über alles!

Polarisierung, Reparlamentarisierung und die vierte Position im Bundesrat
In jüngster Zeit spricht man von einer gewissen Reparlamentarisierung des Regierungssystems. Die Mächte verlagere sich von der Exekutive zur Legislative, wo sie ja 1848 auch war. Namentlich der Nationalrat löst sich zusehends von der Agenda der Rgierung, und der Ständerat ist bisweilen in der Lage, eigene Lösungsalternativen vorzuschlagen, wenn die Regierung blockiert ist. Das hat viel mit der Polarisierung zu tun, dem schwindenden Konsens in der Politik und der Profilierung von Parteien (resp. Blöcken) in der Öffentlchkeit zu tun.
Die personelle Zusammensetzung des Bundesrat blieb bis heute entscheidend. An sich ist klar, dass das System nur funktioniert, wenn die Regierung aus ihrer Mitte heraus wechselnde Mehrheit zulässt. Gewinnt und verliert immer die gleiche Seite, entsteht rasch Unzufriedenheit. Lange kam diese von links, namentlich ab 2007 jedoch von rechts. Die Zeiten der großen Einigkeit scheinen vorbei zu sei. Der jetzige Bundesrat ist, wie die Politik insgesamt, polarisiert.
Bis 2003 hatten FDP und CVP im Bundesrat eine numerische Mehrheit, und häufig auch ein abgestimmtes Regierungsprogramm. Mit den heutigen VertrerInnen von SP und SVP liegt die Mehrheit bei den Polparteien, jedoch ohne gemeinsamen Projekte. Solange die BDP im Bundesrat vertreten war, erschien die Mehrheitsbildung für SP, CVP und BDP einfacher, seither ist es für SVP und FDP schneller möglich.
Die politische Position des vierten Bundesrates von rechts oder links her gesehen ist heute die maßgebliche im Regierungssystem der Schweiz.

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Der Hybrid. Zunehmend ein Mix an Demokrateimuster

Ausblick auf den Berner Hausberg, den Gurten, von der Terrasse neben dem Bellevue aus

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Fragt man eine Runde, was die Eigenheiten der Schweizer Demokratie seien, bekommt man eine Antworten sicher: Volksabstimmungen wie sonst nirgends.
Zweifelsfrei: Mehr als 600 nationale Volksabstimmungen kann niemand außer uns vorweisen. Und trotzdem: Die Spezialitäten der Schweizer Demokratie sind umfassender, sagt die Politikwissenschaft. Sie hat sich ausführlich mit den Konsequenzen der Volksrechte auf politische Systeme beschäftigt.

Mangelnder Wettbewerb um die ganze politische Macht
Namentlich amerikanische Demokratietheorien machen Volksherrschaften an der Oeffnung von Oligarchien, dem Wettbewerb um politische Aemter und der Partizipation der Bürgerschaft fest. Entscheidend ist, dass es mindestens zwei Machtzentren gibt, die um die politische Macht kämpfen und sich bei der Besetzung von Ämtern abwechseln.
Oligarchien aus Zeiten des Ancien Regimes und ihre Sprengung habe ich ausführlich beschrieben. Obersprengmeister war Napoleon Bonaparte, doch blieb er politisch erfolglos. Erfolgreicher war eine gute Generation nach ihm die liberale Bewegung. Sie öffnete wirtschaftliche und politische Märkte.
Der politische Wettbewerb blieb hierzulande unterentwickelt. Zu stark wirkte die Tradition der Tagsatzung nach, jeder Kanton solle durch eine Stimme repräsentiert werden. Das war auch im jungen Bundesstaat so, wo es lange eindeutig bestimmbare Hochburgen gab (und teilweise immer noch gibt). Das sicherte der FDP bis zur Einführung des Proporzwahlrechts für den Nationalrat die absolute Mehrheit. Dafür schrieb man hierzulande schon früh Bürgerpartizipation (der Männer) hoch. Der Bundesstaat führte das allgemeine Wahlrecht ein und löste damit das vorherrschende Zensuswahlrecht ab. Mit der Verfassungsrevision von 1874 ging man landesweit zur Referendumsdemokratie, mit der Zulassung der Volksinitiative zum halbdirekten Demokratie über. Bis heute schreibt man Partiziaption auf allen Staatsebenen in vielfältigster Form hoch.
Mindestens zwei Machtzentren hat die Schweiz seither auch. Denn es gibt mehrere Wege, um an die Spitze der politischen Macht zu kommen. Nicht wirklich zum Tragen kam jedoch die Idee des vollständigen Machtwechsels. Die FDP ist seit 170 Jahren Regierungspartei im Bund – Weltrekord! Der Mangel an Wettbewerb hat vor allem die Hegemonie der Männer älter werden lassen als in vielen Demokratien, die direkt aus Monarchien entstanden.

Proporz- und Verhandlungsdemokratie, aber keine Konsensdemokratie mehr
Die Politikwissenschaft kennt heute feinere Konzepte für die Bestmmung von Demokratiemuster als die US-Theorien der 60er Jahre. Dazu gehören die Modelle der Verhandlungsdemokratie, der Proporzdemokratie und der Konsensdemokratie.
Verhandlungsdemokratie meint, dass nicht die einfachen Mehrheits-/Minderheitsverhältnisse die politischen Prozesse bestimmen, sondern Vermittlung. Das entwickelte sich in der Schweiz namentlich mit dem Referendum, das der Parlamentsminderheit mehr Macht als üblich in die Hände gab. Parlamentarische Mehrheiten sicherten seit den 1870er Jahren die Machtausübung nicht mehr hinreichend, weshalb die führende FDP zum Verhandeln gezwungen war, Katholisch-Konservative berücksichtigen musste und so ihre Opposition zähmen könnte. Die Aufnahme eines ihrer Mitglieder in den Bundesrat 1891 war typisch hierfür.
Proporzdemokratie meint, dass alle relevanten gesellschaftlichen und politischen Kräfte an der Regierungsbildung beteiligt werden – seltener paritätisch, häufiger proportional. Dieses Muster entstand in der Schweiz schrittweise: Den Bundesrat bildeten ab 1891 zwei, aber 1929 drei Parteien, allerdings alle bürgerlicher Natur. 1943 ging man zur Einbindung auch der SP über, was dauerhaft allerdings erst 1959 gelang. Bei der SVP gab es 2007 bis 2009 resp. 2015 einen Unterbruch im Prinzip resp. in der anteilsmäßigen Vertretung.
Gerne bezeichnet man die Schweiz als Konsensdemokratie. Entscheidend sei die Konsenssuche unter Partnern, nicht das Powerplay unter Gegnern. Im Zweiten Weltkrieg waren wir zweifelsfrei eine Konsensdemokratie (selbst mit autokratischen Zügen). Der ch das hat schrittweise nachgelassen. Spätestens seit den 90er Jahren hat sich dies jedoch geändert. Geblieben sind zwar institutionelle Zwänge zur Kooperation wie der Föderalismus und die Volksrechte. Doch das Eliteverhalten entspricht nicht mehr dem Konsensmuster. Vielmehr dominiert heute die Bündelung der politischen Macht nach Sachfragen und der bewusste Entscheid zwischen Konsens- und Konflitksuche bei der Willensbildung.
Die Politikwissenschaft spricht deshalb heute von einem Hybrid, einer Mischung aus Konsens- und Mehrheitsdemokratie.

Institutionelle Zwänge, gewandelte politische Kultur
Die Gründe hierfür werden in der politischen Polarisierung einerseits gesehen, dem institutionellen Gefüge anderseits. Bestimmend sind zuerst die föderale Grundstruktur mit Kantonen, mit Zweikammernsystem im Parlament und Ständemehr bei Verfassungsänderungen. Sodann ist die Macht der Parteien mit der Einführung des Proporzwahlrechts und der Möglichkeit zu panaschieren und kumulieren gebrochen worden. Wir haben national seit 1919 keine Mehrheitsparteien mehr, vielmehr ein ausdifferenziertes Parteiensystem und eine Regierungszusammensetzung mit in der Regel vier Parteien. Das hat die Position des Parlaments geschwächt, jene der Regierung gestärkt. Prägend ist auch das Regierungssystem selber mit dem Kollegialprinzip (nicht Kollegialitätsprinzip!) und der direktdemomratischen Kontrolle der Exekutive Das befördert zentrierte Politik mit viel Pragmatismus und wenig Weltanschauung.
Der Wettbewerb wiederum kommt bei Volksabstimmungen zum Tragen, insbesondere mittels Volksinitiativen. Sie sind der Ort, wo klare ideologische Positionen vertreten werden können, die institutionell nicht repräsentiert sind. Ein recht freier Wettbewerb ist auch möglich, weil es kein Verfassungsgericht gibt. Kein Richter kann Bundespolitiker, die über die Verfassung hinaus legiferien, einschränken.
Der Wettbewerb zeigt sich zunehmend auch bei der Besetzung der Exekutiven. In den Kantonen sind nur nur noch in einer Minderheit der Fälle alle großen Partien vertreten, in der Mehrheit fehlt eine der Polparteien, sei es die SP (in der Zentralschweiz) oder die SVP (in der Suisse romande). Selbst die Bundesratszusammensetzung ist nicht mehr sakrosankt. Auch jetzt, wo die parteipolitische Zusammensetzung wieder ausgeglichen ist, geht die Diskussion um die vierte Position resp. um Mehrheiten von rechts, von links oder aus der Mitte heraus. Die politische Kultur entspricht nicht mehr dem Konsensideal.

Konkordanz und Wettbewerb
Die Ursprünge der Proporzdemokratie sind alt, sie haben das gütliche Einvernehmen zwischen Konfessionen, Sozialpartnern und Regierungsparteien entstehen lassen. Verhandlungsdemokratie beförderte vor allem das Referendum. Wir sind wegen dem Föderalismus, den Volksabstimmungen und dem Proporzwahlrecht eine Konkordanzdemokratie, allerdings mit politischem Wettbewerb angereichert. Von den hehren Idealen des einvernehmlichen averhandelns ist nicht mehr viel übrig geblieben. Wenn man heute der Schweizer Politik zuschaut, könnte man auch von einer Konsensdemokartie ohne Konsens sprechen.
Eben, ein Hybrid!

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