Bern Colonial

Wenn Karl Johannes Rechsteiner vor dem Berner Rathaus Leute für seine Stadtführung «Bern Colonial» versammelt, füllt er den Platz mit Leib und Seele. Kommunikationsbeauftragter für die Kirchen ist er, in Nebenamt Chocolatier im Emmental und Aktivist bei Cooperaxion.org. Für diese Organisation, die kritisch zum Kolonialismus steht, macht er auch seine Stadtwanderung.

Der Dreieckshandel der Moderne
«Dreieckshandel» ist sein übergeordnetes Thema. Im Gefolge der Entdeckung Amerikas durch den Genuesen Cristoforo Colombo entwickelten sich typische Handelsbeziehungen über den Atlantik: Von Europa nach Afrika wurden beispielsweise Waffen geliefert, von Afrika nach Amerika namentlich Sklaven verschifft und von Amerika nach Europa vorwiegend Baumwolle eingeführt. Alles mit dem gleichen Schiff!
Das weiss man höchstwahrscheinlich aus dem Geschichtsunterricht in der Schule noch. Doch Rechsteiner genügt es nicht: Ihn interessiert der «Kolonialismus ohne Kolonien».
Zum Beispiel denjenigen der Schweiz!
Rechsteiners These: Ueber Migration, Warenhandel, Finanzgeschäfte, militärische Hilfen, ideologische Rechtfertigungen war die Schweiz Teil eben eben diesems Kolonialismus. Natürlich gehört sie auch dazu, weil die Kritik an ihm mitunter aus der Schweiz kommt.

Die Stadtwanderung
Der Stadtwanderer erinnert zuerst an das Ende des Berner Bankenplatzes vor präzis 300 Jahren. In wenigen Wochen ging die führende Berner Bank Malacrida zu Grunde. Sie war über die Börse in Paris an der Mississippi-Gesellschaft Frankreich beteiligt, als diese in Louisiana mit der Sklavenwirtschaft für den Staat erwirtschaften sollte. Doch die Blase platzte im August 1720 und vernichtete Vermögen. Es war die erste grosse Spekulationsblase Europas, die sich im Nichts auflöste – und auch das patrizische Bern substanziell betraf. Die Bank selber musste in einem mühsamen Prozess aufgelöst werden und verschwand für immer.
Vor der Franzosenkirche ging es Rechsteiner wie erwartet um hugenottische Flüchtlinge, die hier ihr eigenes Gotteshaus hatten. Sie brachten neue Handwerkstechniken nach Bern, so die Indienne Stoffe aus Baumwolle in allen Farben. Dafür importierten sie die Rohstoffe. Mit dem neuen Erwerbszweig kam auch neues Denken nach Bern. Hieronymus Küpfer war ihr erster Fabrikant am Sulgenaubach und familiär eng mit Samuel Henzi, dem hingerichteten bürgerlichen Revolutionär verbandelt.
Kulturelle Spuren des Kolonialismus ortet der Stadtführer aus dem Emmental bei der «Zunft». «Zunft zum Mohren» mag er nicht mehr sagen. Aber man sieht auf seiner Wanderung das Zunftwappen an der Rathausgasse. Die Kritik an den stereotypen Darstellungen mit schwülstige Lippen, fliehender Stirn kommt sofort: Sie soll an ein grosses Maul mit kleinem Gehirn erinnern! Der Streit um die Symbolik ist in Bern schon vor Jahren entbrannt. Seit «Black Lives Matter» ist sie wieder hochgekommen. Rechsteiner hält nichts von den historischen Herleitungen zur Rechtfertigung. Das Wappen sei aus der Belle Epoque und spiegle typisch rassistische Vorstellungen, die man hier nicht so nenne.
Eindrücklich sind Rechsteiners Schilderungen der «Menschenschauen», beispielsweise auf dem Waisenhausplatz. Menschen aus Afrika, einzeln, in Familien oder Sippen wurden zur Belustigung der Einheimischen regelrecht ausgestellt und dienten der nationalen Selbstfindung an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert: Sie sagten, so wie in Afrika sind wir nicht. Uns geht es seit der Gründung der Schweiz gut. Wir können den Armen sogar helfen. Kombinierte Tier- und Menschenschauen fanden übrigens im Zirkus bis 1964 statt.
Kolonialwarenhändler wurden ab 1800 auch in Bern beliebt. Es gab sie beispielsweise als «Drogerie&Kolonialwaren Salzmann», direkt neben dem Holländerturm. Heute steht da eines der «Starbucks». Das passt! Denn Kaffee gehörte nebst Baumwolle und Takak zu den wichtigsten Importwaren im Dreieckshandel. Namentlich mit dem Tabak kam auch die Nikotin-Sucht nach Europa und Bern. Beispielsweise mit den Berner Offizieren in niederländischen Diensten, die sich nach dem 30jährigen Krieg von 1618 bis 1648 den Wehrturm kauften, um da in Abgeschiedenheit ungestört ihrem verbotenen Verlangen nachgehen zu können.

Lust auf mehr
Die Führung aus dem Hause Cooperaxion ist aus dem Leben gegriffen, anschaulich und lehrreich zugleich. Natürlich inspirierte sie mich zu weiteren gedanklichen Stationen. Etwa vor dem Haus an der Junkerngasse, wo einst der Universalgelehrte Albrecht Haller wohnte. Sein Sohn, verheiratet mit einer Niederländerin, eröffnete einen der ersten Kolonialwarenladen in Bern. Dessen Sohn wiederum, Karl Ludwig, wurde als Autodidakt der führende Staatstheoretiker der Anti-Aufklärer. Mit seinem «Patrimonialstaat» leugnet er das aufkommende Naturrecht vollständig, propagierte dafür den Erhalt der göttlichen Ordnung.
Die Abschaffung der Sklaverei, die während seiner Zeit in halb Europa heiss diskutiert wurde, war für ihn grundlegend falsch: Denn die Sklaverei verdanke ihren Ursprung der Menschlichkeit, indem man Feinde nicht töte, sondern ihnen die Gelegenheit gebe, «beständigen Dienst» zu leisten. Man verkaufe auch nicht Sklaven, sondern das Recht auf deren Arbeit, schrieb Haller 1818. Auch für die Versklavung von Kindern der Sklaven hatte er ein Argument bereit: Im Erwachsenenalter könnten sie die Kosten für Wohnung, Nahrung und Unterricht dank ihrer Erziehung durch Arbeit selber wettmachen.
Da gibt es nach Columbus auch in «BernColonial» noch viel mehr zu entdecken, als man sich bis vor kurzem ausmalte.