religion ist gerade im säkularen zeitalter angesagt

bald sind ferien angesagt. zu den büchern, die ich mir hierfür aufgespart habe, gehört das monumentale buch “Ein säkulares Zeitalter” von charles taylor. der tages-anzeiger und andere bringen heute eine vorschau, was mich erwartet.

charles_taylorcharles taylor, 2008 mit dem “nobelpreis” für philosophie ausgezeichnet, wird mich in die ferien begleiten – wenigstens in buchform.

der kanadier charles taylor gilt als einer der markantesten philosophen der gegenwart. er forschte und lehre sein leben lang als politologe über westliche identität, den kapitalismus, die multikulturelle gesellschaft und die moralphilosophie. der beinahe 80jährige wurde dafür mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem kyoto-preis, dem “nobelpreis” für philosophie.

anders als in der besprechung seiner werke, die der wiener korrespondenten guido kalberer für das zürcher publikum vornimmt, empfinde ich taylors gedankengänge nicht immer klar, wohl aber vielfältig. denn es geht ihm um den stellenwert der religion in der säkularisierten welt.

diese sieht er als spezielle entwicklung, bestimmt durch reformation, aufklärung und kapitalismus. sie hat die anti-magie, die anti-religion und das anti-kollektiv entstehen lassen. der mensch wird als individuum verstanden, das seinen nutzen maximiere, als vernunftwesen, das sich nach nichts anderem richte als der ratio, und zum subjekt, das allen ritualen ablehnend gegenüber stehe.

genau das sei global gesehen nicht die norm, nicht einmal in der christlichen welt. deshalb würden säkularisierte kulturen die religiosität generell unterschätzen. immer weniger menschen glauben an gott, doch verringere sich die zahl nicht, welche von der kraft des glaubens überzeugt seien, sagt der gläubige katholik. seiner eigenen kirche wirft er vor, das bedürfnis der menschen nach spiritualität zu unterschätzen und zu verkennen.

soweit verstehe ich die analyse gut. doch dann beginnen meine fragen. etwa dann wenn taylor behauptet, die demokratie sei an sich kein bollwerk gegen die unvernunft. erst die christlich fundierte demokratie garantiere dies. denn menschenrechte seien unabdingbar, und die solidarität unter einander auch. und die seien aus dem christentum entstanden.

da zucke ich irritiert zusammen. ist das alles humbug, was ich bei den aufklärern gelesen habe? die waren viel religionskritischer. mehr noch: ist es richtig, dass man neuerdings fordert, es brauche christliche grundwerte, um fundiert politisieren zu könnnen? für mich ist das ein wenig wie vor der aufklärung.

ich weiss, charles taylor ist kein vereinfacher. ihm geht es um synthesen. nichts fürchtet er so, wie wenn atheistInnen und fundamentalistInnen aufeinander prallen. er fordert integration, nicht ausgrenzung. denn gesellschaftliche entwicklung ergebe es nur, wenn man sich achte, austausche und mische.

doch bin ich gespannt, ob er mich in den ferien von seinem christentum überzeugen wird – oder mir jemand aus der leserschaft aktuelle moralphilosophie beibringt.

stadtwanderer

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

2 Gedanken zu „religion ist gerade im säkularen zeitalter angesagt“

  1. ps: die erste version vom mittag wurde nicht vollständig auf den server überspielt, sorry!

  2. Ein hervorragender Kommentar, danke Stadtwanderer. Dabei ist die Demokratie auch schon von den Aufklärern kritisiert und relativiert worden, einerseits von Konservativen wie Edmund Burke, andererseits aber auch in der Westschweizer Schule des Naturrechts, angefangen von Jean Barbeyrac bis zu Emir de Vattel und Jean-Jacques Burlamaqui. Die Aussage “Das Volk hat immer recht” stammt übrigens von Kardinal Fleury aus dem 18. Jahrhundert, war auf den relativ demokratischen Genfer Conseil général bezogen und ziemlich zynisch gemeint, was auch Micheli du Crest aufgefallen ist, dem Schweizer Nelson Mandela, der ohne Happy End zwanzig Jahre Einzelhaft auf der Aarburg erlitt.

    Die sog. christlichen Werte werden nie voll mit dem demokratischen Prinzip kompatibel sein, worauf u.a. auch der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels von 1956, der grosse christliche Schriftsteller Reinhold Schneider aufmerksam gemacht hat. (Um dies festzustellen, muss man nicht zu den FundamentalistInnen gehören. Letztere Schreibweise ist und bleibt läppisch und behindert eine ernstzunehmende Diskussion.)

    Pirmin Meier, Historischer Schriftsteller, Beromünster

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