wissenschaft, futurologie, geschichte und literatur – und wie das alles zusammenhängt

kann man in der gegenwart die zukunft mit wissenschaftlichen mitteln erkennen? vielleicht oder teilweise, antworte ich und füge bei: man kann in der geschichte die fakten und in der literatur die zusammenhänge sehen, die einem sonst entgehen.

das buch der zukünftigen zukunft
diesen sommer hatte ich (unter anderen) zwei ähnliche, wenn auch ungleiche bücher im ferienreisegepäck. das erstes heisst “Die nächsten 100 Jahre“. verfasst hat es der amerikanische politikwissenschafter george friedman, seit 1996 leiter des privaten instituts “stratfor”, das für regierungen, armeen und medien die (amerikanische) zukunft analysiert.

9783593389301_png_6637360friedman nennt drei überragende momente für das 21. jahrhundert, die ihn optimistisch stimmen: die anhaltende macht der usa, das ende der bevölkerungsexplosion und die neuen energien aus dem weltall. das krisengerede der gegenwart in der angelsächsischen welt mag er gar nicht hören. über den islam spricht er auch nicht gerne. chinas wirtschaftsmacht reicht in seiner einschätzung vielleicht an die japans, aber nicht amerikas. sie werde soweiso an ihren eigenen widersprüchen zerbrechen, ist er überzeugt. dafür sieht er zwei andere staaten aufkommen: die türkei, welche den europäischen kontinent, insbesondere deutschland einnehmen werde, und japan, das den usa den krieg erklären werde. nicht im pazifik werde der stattfinden, sondern im weltall – und von den vereinigten staaten von amerika gewonnen werden. das werde den usa die weltherrschaft sichern, deren grenzen nicht aussen-, aber innenpolitisch begründet seien: der spanisch geprägte südwesten der usa, der erst spät von mexiko zu den usa kam, sei das grösste pulverfass des landes, an dem es auch auseinander brechen könne.

wenn man das so liest, ist man zunächst beeindruckt. denn dem autor gelingt es, sich nicht vom kräuseln der ereignisse an der medialen oberfläche der ist-zeit einnehmen zu lassen. anders als seine kollegen argumentiert er auch nicht mit ökonomischen zyklen. vielmehr sucht er nach den ganz langen wellen, die den gang der geschichte sicherer fassen als alles ander. und dennoch bleibt man skeptisch. denn friedman glaubt, dass es nur ein zukunft, nämlich die der usa, gibt, die man erkennen, indessen nicht wirklich beeinflussen kann. das kommt bei seinen kunden sicher gut an, doch nichts belegt, dass es so kommen muss.

das buch der vergangenen zukunft
an die erkennbare zukunft glaubte vor präzise 100 jahren auch der deutsche journalist arthur bremer. 22 seiner zeitgenossInnen forderte er auf, aus damaliger sicht über die zukunft zu schreiben. nicht so global, wie es friedman heute macht, sondern fein säuberlich in lebensbereiche aufgeteilt – über die zukunft des krieges also, jene des friedens, der frauen, der arbeiter, der religion, des soziallebens, der erziehung, der literatur, des theaters, der musik, der kunst, des sports, der medizin und der weltuntergänge. alles zusammen ergab das die vielzitierte anthalogie “Die Welt in 100 Jahren“.

03636717nwenn man mein zweites zukunftsbuch im ferienreisekoffer aus heutiger sicht liest, gibt es sicher ein schlüsselmoment: vorausgesagt wird, dass 2010 das telefon, damals in der ersten oder zweiten generation, drahtlos in der westentasche versorgt und somit auch überall mitgenommen werden könne, um sich jederzeit zu informieren und mit allen mitzuteilen …

bingo! könnte man nun rufen und glauben, die entwicklung von sachen wie dem handy liesse sich genau vorhersehen. doch auch dieser schein trügt. denn das gegenbeispiel wäre die erdbeere, die in brehmers buch in einem jahrhundert anwächst wie orangen, weil sie so mehr ertrag abwirft. das mag es heute in den laboratorien der gentechnologen geben, eine verbreitung wie die mobile telefonie hat sie nicht gefunden.

das ist es also nicht, was das genre auszeichnet. denn seine stärke liegt nicht in der prognose von ereignissen, sondern in der einsicht von zusammenhängen. editor georg ruppelt, der ein sensibles vorwort zur neuauflage des bestsellers von 1910 verfasst hat, insistiert denn auch auf die treffsicherheit der vorausschau bezüglich des entscheidenden zusammenspiels von technik, politik und gesellschaft in brehmers werk – oder plakativ gesagt, auf die bedeutung des fortschritts für die entwicklung des menschen und seiner gesellschaften.

getrieben wird dieser fortschritt beispielsweise durch die elektrizität, die in vielen lebensbereichen vorteile bringt, sich deshalb auch durchsetzt und dabei die an die möglichkeiten der produktion stösst, sodass der fortschritt zwischen technischen innovationen und zivilisationskritik oszillieren, die sich trotz faszinierenden neuentwicklung mit endlichkeit unserer ressourcen beschäftigt.

kurzfristig stimmte vieles von dem, was brehmer 1910 veröffentlichte, nicht. statt völkerverbindendem luftverkehr, politischer einigkeit, reichtum für arbeiter und der emanzipation für frauen, gab es 1914 den grossen krieg. die nationen europas brachen gegeneinander auf, die frauen wurden an den herd und in die fabriken geschickt, ohne rechte zubekommen, und die werktätigen männer mussten an die front, wo sie, wie noch nie in der weltgeschichte, als kanonfutter auf den schlachtfeldern der zerstörung starben. sie auch der aussagekräftige buchillustrator brehmers, ernst lübbert.

die sozialisten leisteten mit ihren revolutionen zwar einen betrag zum ende des krieges, doch entstand damit nicht demokratien, sondern volksrepubliken, die während siebzig jahren um die vorherrschaft in der welt kämpften, ohne sie zu erreichen. und um den inhaber genau dieser langfristigen globalen macht als treiber der geschichte geht es bis heute in den zukunftsschauen, die es immer wieder wert sind, gelesen zu werden.

die bücher über zukunft heute und gestern im vergleich
eines ist mir bei den lektüren diesen sommer klar geworden: die soziale futurologie, die zukunftsoptimisten wie friedman verbreiten, gibt es nicht wirklich.

sicherer sind zukunftstrends für 10, 30 vielleicht auch 50 oder 100 jahre, die in der energieversorgung, verkehrspolitik, infrastrukturwicklung oder im stadtbau ihren stellenwert in planung, entwicklung und distrubution von gütern und dienstleistungen haben. doch dabei bleibt es in allen wissenschaftlich-technischen ableitungen aus den möglichkeiten der gegenwart.

die geschichte ist keine rückwärts gewandte prophetie, wie es der philosoph friedrich schlegel formulierte. und ihre umgekehrung ist auch keine vorwärtsgerichtete geschichtserzählung, wie ruppelt schreibt. denn geschichte beschäftigt sich immer erst im nachhinein mit dem, was war. was wir, auch was hätte werden können, ist und bleibt die aufgabe der freieren literatur. diese kunstform macht uns klar, was jenseits von fakten die wesentlichen zusammenhänge sind, welche auch die gegenwart im strom der veränderungen erscheinen lassen.

stadtwanderer

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

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