de la volonté contre tous

ich war am wochenende in ermatingen. der verein für zivilgesellschaft hielt auf dem wolfsberg seine zweijahrestagung ab. die fragestellung lautete: wer regiert die welt?


mein verständnis von öffentlicher meinung: wassertropfen, durch innere übereinstimmung und äussere abgrenzung bestimmt. öffentliche meinung als ein einziger, riesiger wassertropf trifft das wesen des instabilen phänomens nicht.

es gab viele verschiedene antworten. auf die will ich hier gar nicht einzeln eingehen. denn verschiedenes, was zum volk, zum national/bundesstaat, zu massenmedien, zu ngos und internationalen organisation gesagt wurde, hat mich angeregt. das wird in meine kommenden posts einfliessen.
aufgeregt hat mich jedoch das einleitungsreferat zum zweiten tag. gehalten hat es norbert bolz, professor für medienwissenschaft an der tu berlin.
sein auftritt war zwar phänomenal. er sprach 30 minuten frei, wanderte locker auf der bühne von rechts nach links und von links nach rechts. und machte rhetorisch keinen fehler, weder in sprache noch im auftritt.
falsch war, meines erachtens, seine diagnose als ganzes. demnach ist die demokratie nämlich am ende, denn sie verkomme zur demokratischen diktatur, so die professorale these.
gemäss bolz werden wir total beherrscht, von formal gewählten regierungen und von dümmlichen massenmedien, zusammengehalten durch demoskopie. diese trias bilde die neue macht, egal wo. ihr hauptzweck sei es, politik von den bürgern fernzuhalten und umgekehrt: die bürger auf distanz zu den mächtigen abzusperren. das geschehe, indem die heutigen intellektuellen nicht mehr intervenierten, um die herrschaft zu fordern, sondern definierten, was politisch korrekt sei, um das volk ruhig zu halten. und wer sich nicht mehr äussern dürfe, getraue sich nicht einmal mehr zu denken.
es war eine art rousseau à l’envers, die wir präsentiert erhielten. die volonté de tous habe sich verkehrt in die volonté contre tous!
politisch dominierend sei immer noch die linke, die jedoch vor ihrem ende stehe, und die rechte aus der öffentlichkeit ausschliesse, um die kulturelle hegemonie zu verteidigen. gegen diese seien nur wenige immun: unternehmer, techniker und (unabhängige) wissenschafter.
nicht alle symptone, die norbert bolz beredet beschrieb, sind meines erachtens falsch. ärgerlich war mehr ihre auswahl – und ihre kombination.
wer von den teilnehmenden politisch ganz rechts stand, hatte seine freue, als der professor erläuterte, es gäbe zwischenzeitlich empfehlungen für disseratationen, frauen würde mit vorteil nur frauen zitieren, denn männer machten umgekehrtes auch. linke wiederum empörten sich, weil da einer ideologie in reinkultur produziere. frauen gehörten an den herd, der klima wandel finde nicht statt, und neger soll man neger nennen dürfen, waren die einschlägigen provokationen.
manche, die ihren analysen keinen festen weltanschaulichen standpunkte unterlegen, waren schlicht erstaunt, wie reduktionistisch ein wissenschafter die welt erklären kann. vielleicht, könnte man einwenden, wer einmal designkommunikation gelehrt hat, kennt keinen anderen anspruch.
mich zum beispiel hat vor allem geärgert, dass er an einer schweizer tagung vor allem zur deutschen politik- und parteienverdrossenheiten sprach und von aus unreflektiert verallgemeinerte. was hier sache ist, interessierte den potsdamer gar nicht. denn da wären einwände gegen die schöne these zuhauf gewesen: erstens, zu den vorteilen des politischen systems gehört es, dass es keine so absolute trennung zwischen volk und behörden gibt, wie das in deutschland der fall sein mag. zweitens, die politische partizipation beschränkt sich hierzulande nicht auf das wählen und zwischendurch auf das schweigen; wir können regelmässig abestimmen und den politische kurs von regierung und parlament periodisch korrigieren. drittens, der gelebte förderalismus führt dazu, dass wir viele kantonale, städtische und kommunale laboratorien haben, in denen wir mal etwas austesten können, wenn es zu nichts taugt ohne aufsehen wieder abschaffen können, wenn es aber gut ist, rasch schule macht.
das sind nur einige elemente, die sich aus der zivilgesellschaft ergeben und positiv auf diese zurückwirken. so ist die staatsverschuldung in der schweiz weit unter dem schnitt anderer länder, und wenn sich dies zu ändern droht, realisieren wir eine schuldenbremse, die weltweit keinen vergleich zu scheuen braucht. so ist der bürgerInnen-sinn in der schweiz verbreiteter, dafür sind die parteien schwächer und mit ihnen auch der staat.
mehr noch, ich zweifle auch, ob der befund hinter der these von bolz mehr als eine karikatur selbst in deutschland ist. die sarazin-debatte, die wohl grösste kontroverse um das gesellschaftliche leben der letzten jahre, will so schlecht zu dem passen, was und der medienprofessor glaubhaft zu machen versuchte. denn sie zeigte: es gibt intellektuelle, die, wie es ihre aufgabe ist, intervenieren. es gibt möglicherweise politische korrektheit, die das nicht fördert, anders als diagnostiziert, aber auch nicht verhindert.
frontal gegen bolz gewendet ist meine, in der literatur gut abgestützte, (pluralistische) definition von öffentlicher meinung. die tendiert nämlich, anders als vorgetragen, nicht dazu, einheitlich zu sein. daran glauben nur autoritäre. vielmehr ist es gerade ihr wesen, immer wieder in teile zu zerfallen, je mehr man sie mainstreamen will. das ist nicht nur die voraussetzung für die demokratische meinungsbildung; es ist auch ihre sicherung! entgegen den behauptungen der antidemokraten, die demokratie als totalitär verschrien.
wie gesagt, eine antwort auf die frage, wer die welt regiert, ist auch das nicht. eine klärung zu einer fehldiagnose schon.

stadtwanderer

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

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