“dann bin ich gerne langweilig”

er nahm sich zeit. sie auch. sie kam zur zeit, er zu spät. die so anfallende zwischen-zeit füllte spontan der vorgänger des abwesenden, sodass das eigentliche zeit-gespräch zur zeit nicht ganz zur zeit begann.

für den fall, dass sie, meine leserinnen und leser, nicht verstehen, worüber ich schreibe: heute fand in bern das abonnenten-gespräch der zeitung “Die Zeit” statt, moderiert von giovanni di lorenzo, chefredaktor eben dieses deutschen intelliganzblattes. sein gast im berner hotel “national” war bundespräsidentin eveline widmer-schlumpf. eingeleitet werden sollte das ganze durch ein paar freundliche worte von roger de weck, heute generaldirektor der srg, vormals chefredaktor der “zeit”. und weil sich sein nachfolger in diesem amt mit dem flugzeug verspätete, moderierte der freiburger das verlängerte vorgespräch mit der bündnerin aus dem stegreif. die bundespräsidentin war richtig gut drauf, als das eigentliche promi-gespräch zur person, zur politikerin, zur verhandlungsführerin und zur staatsfrau einsetzte.

giovanni di lorenzo hatte gegen die in einfachem grau-schwarz gekleidete, schnell denkende und eloquent argumentierende juristen keinen einfachen stand, denn die “präsidentin”, wie er frau widmer-schlumpf wiederholt betitelte, blieb allem drängen zum trotz sich selber treu: sie sprach dossierfest zur sache, blieb sachlich, wenn sie herausgefordert wurde, und sie trug zur versachlichung bei, wenn emotionen im spiel gebracht wurden.

sie sei als mitglied der svp bundesrätin geworden, habe die konkordanz nicht gebrochen, sagte widmer-schlumpf. sie habe sich der wiederwahl gestellt, weil sie einen beitrag zu vermittlung leisten wolle, zwischen links und rechts, zwischen behörden und volk, flocht sie ein. sie befürworte unversteuerten gelder auf schweizer banken nicht, wolle aber mit vergangenem recht nicht brechen, war ihre botschaft. schliesslich würde sie es gut finden, wenn sie in gesprächen mit finanzspezialisten nicht die einzige frau wäre, auch wenn die halbe-halb-quote nicht ihre sache sei. das alles war klar.

zu gerne hätte animator di lorenzo hätte eine präzise aussage gehabt, wann die schweiz mitglied der europäischen union sein werde. doch die bundespräsidentin wich geschickt aus, sagte, vielleicht, wenn sie ihre grosskinder hüten werde, vielleicht, wenn die eu vom zentralismus abgekommen sein werde, vielleicht auch nicht, denn die schweiz habe den bilateralen weg eingeschlagen, der vorteile für beide seiten beinhalte, deshalb auch schon 10 jahre funktioniere und weiterentwickelt werden könne. der chefredakteur aus dem norden war sichtlich enttäuscht; den er und seine berufskollegInnen hätten sich über eine fette schlagzeile in der hängigen sache gefreut. widmer-schlumpf dazu: das habe sie vermutet und entsprechend habe sie geantwortet.

“ich bin gerne langweilig”, wenn die medien politik nur dann spannend fänden, wenn man verkürzen, zuspitzen und provozieren könne. das sei nicht das geschäft der politik, jedenfalls nicht der ihrigen. sie sei mit diskutieren in der familie politisch geworden, habe als mutter gelernt, streit zu schlichten und habe schon in der familie im team zu arbeiten. das sei ihre überzeugung als demokratin, die anders als andere konsequent ihre linie verfolge. politik sei für sie, probleme zu erkennen, tragfähige lösungen zu finden und dafür zu werben, im der regierung, in kommissionen, in versammlungen wie der heutigen.

sie wisse darum meinte die bundespräsidentin, medien bevorzugten eine andere leseweise des politischen. das habe sie vor allem während der ersten hälfte des jahres 2008 durchschaut, als die bündner svp aus der mutterpartei ausgeschlossen worden und es unklar gewesen sei, wen sie im bundesrat vertrete. mit der gründung der bdp sei die situation bereinigt worden, sei raum entstanden für einen neustart, den sie für sich und das land nutzen wolle. in der heiklen phase habe sie ein tagebuch geführt, von dem es drei exemplar gäbe; ihre kinder würden es erhalten, wenn sie nicht mehr lebe, damit sie wüssten, was ihre mutter verändert habe. journalisten würden es nie einsehen können, und eine biografie zu schreiben, plane sie nicht. wenn das langweilig sei, sei sie gerne langweilig.

natürlich hatte die populäre politikerin längst bemerkt, dass sie an diesem abend alles andere als langweilig war und trotz des schwierigen startes das publikum voll und ganz in ihren bann gezogen hatte. selber habe gestaunt, mit welcher gewandtheit die bundespräsidentin reagierte, als der moderator gas zu geben suchte. die frau auf felsberg war auch erstaunlich gelöst, lachte bisweilen, spielte mit den augen und überraschte mit entwaffnenden antworten.

schade, dass die zeit so schnell verflog – zu gerne hätte man sich an diesem abend mehr zeit für eine sternstunde der politik genommen.

stadtwanderer

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

2 Gedanken zu „“dann bin ich gerne langweilig”“

  1. Bin froh, sind Frauen im Spannungsfeld der Politik stark genug, feinsinnig zu argumentieren.

    Danke für den eloquenten Beitrag.

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