wahlen in wohlen

seit 1999 ist wohlen im kanton bern meine wohngemeinde. mit amtlich bestätigten 8897 einwohnerInnen ist der vorort der hauptstadt selber beinahe eine stadt, allerdings mit gemischt urban-ruralem charakter. denn den hauptsiedlungen in wohlen und hinterkappelen stehen zahlreiche dörfer gegenüber, die ihre ländliche eigenart bewahrt haben. und, das wachstum der aufstrebenden gemeinde ist jüngst ins stocken geraten.


stabübergabe, der abgewählte edi knecht, gratuliert dem nachfolger bänz müller (gut beobachtet vom stadtwanderer, genau rechts dahinter, in der braunen jacke)

lange war man in wohlen geteilt, zwischen bürgerlicher mehrheit und sozialdemokratischer minderheit. doch dann begann sich das politische gefüge aufzulösen. die freie liste des kantons bern hatte in den 80er jahren des 20. jahrhunderts just in wohlen ihren ursprung; grüne und grünliberale machen hier wachsende stimmenanteile. zudem gibt es seit wenigen jahren eine respektable bdp, und seit neustem auch ein liste integrale (sach)politik.

das von normalfall abweichende ergebnis
heute nun waren wahlen in wohlen – genau genommen der zweite wahlgang für das gemeindepräsidium. der erste war vor zwei wochen. bestätigt wurde damals die bürgerliche mehrheit in der gemeindeexekutive mit 2 fdp männern und je einer frau der svp und bdp. rotgrün kam unverändert auf drei sitze, neu 2 für sp plus und 1 für die grünen. zwei frauen und ein mann vertreten das linke lager in der exekutive.
umstritten war diesmal die wahl für das gemeindepräsidium. es ist besonders wichtig, denn der amtsinhaber übt es vollamtlich aus, während die andere regierungsmitglieder fast ganz ehrenamtlich arbeiten.
im ersten wahlgang schaffte der amtsinhaber, eduard knecht, von der fdp, das absolute mehr nicht, sodass sich in der zweiten runden er und sein sp-herausforderer stefan müller-bleuer, von allen bänz genannt gegenüberstanden.
nun obsiegte bänz müller, ganz genau berechnet mit 55,2 prozent der stimmen, bei einer beteiligung von 58,1 prozent. damit wechselt das präsidium wohlens von rechts nach links, der männliche gemeindepräsident sieht sich unverändert einem mehrheitlich weiblichen rat gegenüber, und wohlen hat eine kleine cohabitation mit linkem chef und rechter mehrheit.

die vorzeichen stand schon auf sturm

wie nur war das möglich? von den parteistärken her wäre der amtsinhaber der favorit gewesen: die bürgerlichen parteien machten vor zwei wochen 48 prozent der stimmen aus, rotgrün 32 prozent, und 20 prozent gingen an die verschiedenen ungebundenen kräfte resp. kamen von listen ohne parteibezeichnung.
schon der erste wahlgang zeigte, dass eine überraschung in der luft lag. denn knecht lag 146 stimen hinter seinem seinem herausforderer, und die wahl in den gemeinderat nach proporzwahlrecht schaffte er auf der fdp-liste nur als zweiter von zweien.
eine kleine analyse zum heutigen, deutlicheren ergebnis zeigt: wenn sp-müller alle stimmen von rotgrün bekommen hat, wenn er von der zusätzlichen beteiligung im zweiten wahlgang mehr als der amtsinhaber profitiert hat, müssen entweder alle unabhängigen stimmen an ihn gegangen sein, und etwa 10 prozent der bürgerlichen wählerInnen haben ihn, nicht knecht unterstützt. oder sein anteil bei den ungebundenen ist etwas geringer ausgefallen, dafür hat mehr er entsprechend mehr als jede 10. Stimme aus bürgerlicher hand erhalten.

das politikum
beim wahlapéro nach der ergebnisverkündung zeigten sich die freunde knechts selbstredend enttäuscht, jene müller offensichtlich erfreut. die meisten anwesenden waren erleichtert, dass eine klare entscheidung getroffen worden war. denn der horror der insider war ein hauchdünnes ergebnis.
bereits im wahlkampf war klar geworden, dass der amtsinhaber umstritten war. im ersten wahlgang trat die bdp mit einer eigenen kandidatin für das gemeindepräsidium an, zur grossen überraschung der fdp. dass sich herausforderer müller vorstellen kann, das amt auch halb- statt ganztags auszüben (und damit kosten zu sparen), hat ihm gewisse sympathien selbst in den reihen der svp verschafft. schliesslich die unabhängigen: die kleinparteien stellten zwar keine eigenen bewerbungen für die gemeindespitze, votierten aber in der ersten rund weitgehend für den neuen mann.
das ganze ist nicht ohne vorgeschichte. in der vergangen legislatur musste die schule in säriswil, einem der dörfer wohlens, geschlossen werden. das alleine war ein grosses politikum, das schliesslich mit einem eklat endet, als aufgrund unterschiedlicher auffassungen über das vorgehen die beiden sp-frauen mit vorwürfen an den gemeindepräsidenten zurücktraten. zum eigentlichen problem avancierte eine aussage des gemeindepräsidenten im rahmen der manchenorts laufenden debatte über ein nächtliches ausgehverbot für jugendliche. demnach habe man in wohlen einen minderjährigen mit wodkaflaschen zu nächtlicher stunden anhalten müssen, ohne dass der vorfall in den amtlichen polizeiprotokollen belegbar gewesen wäre. gemeindepräsident knecht musste sich in der folge entschuldigen, die in fahrt gekommene juso sah die gunst ihrer stunden gekommen, und mobilisiert seither gegen den politischen chef wohlens, ohne das dieser mit ihr ins gespräch fand. im wahlkampf kreiierten sie mit dem slogan „wir lassen uns nicht knechten“ das geflügelte wort der stunde. denn zwischenzeitlich wurde der vorschlag des gemeinderates für das ausgehreglement an der gemeindeversammlung abgeschwächt, und das referendum gegen den verbliebenen beschluss wurde von der jungen linken erfolgreich aufgegriffen. ein richtiges politikum also, und das mitten im wahlkampf.
die medien seien schuld, hörte man dieser tage des öfteren seitens der bedrängten bürgerlichen. sicher, sie haben den konflikt befeuert, erfunden haben sie ihn nicht. das war der initiale fehlers des gemeindepräsidenten. unterschätzt hat man in seinem wahlkampfteam, dass dahinter ein konflikt schwelt, in einer alternden gemeinde, deren bevölkerungszahl schrumpft, was sich negativ auf gemeindefinanzen und infrastrukturen auswirkt. der bisherigen politik ist es nicht gelungen, hier eine wende herbeizuführen, dass die angebote für heranwachsende im schulsektor zurückgehen, und für jugendliche in ihrer freizeit vor eher bescheiden sind. genau das goutieren nicht mehr alle, und genau das hat sie schlafgemeinde aufgeweckt und mit neuem politischem engagement erfüllt.

meine kurzanalyse der ursachen
auch wenn ich heute keine wahlanalyse im eigentlichen sinne gemacht habe. das normale raster, das ich hierbei verwendet hätte, hat mir geholfen, die sache rasch einzuschätzen: denn ganz allgemein entscheiden drei faktoren eine wahl, erstens, die langfristigen parteibindungen, zweitens, die themen, die im vorfeld diskutiert werden, und, drittens, die stärken und schwächen der spitzenkandidatInnen.
die parteibindungen hätte klar für den amtsinhaber gesprochen. wäre das bürgerliche lager geeint gewesen, und hätte es die übliche ausstrahlung auf die ungebundenen gehabt, wäre zur nomalen (bürgerlichen bestätigungs)wahl. das konfliktthema einerseits, die eigenschaften der kandidatInnen anderseits haben also zur abweichende entscheidung geführt.
denn der gewählte lehrer und der abgewählte ex-personalchef einer rüstungsfirma repräsentieren zwei generationen von politikerInnen, mit ganz anderen selbstverständnissen im kommunikativen umgang, mit der wohnbevölkerung, aber auch mit medien. denn sie sind gerade in anonymer werdenden gemeinden unerlässlich, um die kommunikation ausserhalb der politzirkel zwischen behörden und stimmberechtigten sicher zu stellen.

stadwanderer

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

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