Wofür der Holländerturm eigentlich steht

Die Niederlande in Bern (Teil 7)

Häufig werde ich gefragt, ob der «Holländerturm» in Bern eigentlich eine Windmühle ohne Windflügel sei. Gebäudenamen und -formen legten dies jedenfalls nahe.
Ich muss dies regelmässig verneinen!
Das Gebäude stammt aus dem 13. Jahrhundert und war ursprünglich ein Teil der Stadtbefestigung gegen den natürlichen Graben hin, jetzt als aufgefüllter Bärenplatz bekannt. Die Form dürfte von jener einer «Motte» herrühren, einem mittelalterlichen Wehrtürmen, die auch bei uns verbreitet war.
Der beste Beleg für den Irrtum der populären Namenskunde ist, dass der Name «Holländerturm» erstmals erst um 1896 nachgewiesen ist. Davor hiess er «Raucherturm».
Den anfänglichen Namen hatte er von den Offizieren in fremden Diensten während des 30jährigen Krieges. Als sie nach 1648 aus den Niederlanden nach Bern zurückkehrten, waren viele süchtig und suchten nach einen Ort, um ungestört paffen zu können. Dafür erwarben sie den leerstehenden Wehrturm, bauten die Dachkammer aus und nutzen sie quasi als erstes «Fixerstübli» der Stadt.
1891 feierte man Bern gleich mehreres: zuerst 700 Jahre Stadtgründung, dann 600 Jahre Eidgenossenschaft. Der Raucherturm wurde renoviert und verharmlosend in «Holländerturm” umbenannt.
Nun kann man diese Namensänderung auch in einem anderen Kontext deuten. Bestehend bleibt der Bezug zur Niederlande!
1891 wird in der Schweiz der 1. August erstmals als Bundesfeiertag begannen. Freisinnige und Katholisch-Konservative schlossen politischen Burgfrieden. Letztere bekamen einen Sitz im bisher rein freisinnigen Bundesrat, eingeführt wurde die Volksinitiative.
Hintergrund dafür waren die Folgen des 1874 eingeführten Referendumsrechts. Die Freisinnigen, die bis dann alle Wahlen gewonnen hatten, verloren nun zahlreiche Volksabstimmung in Serie.
Das zwang sie, ihr Verhalten im Parlament zu ändern. Statt die Mehrheitsmeinung gegen Widerstände durchzudrücken, waren nun Verhandlungen zwischen Mehr- und Minderheit angesagt, um das Ergreifen des Referendums zu vermeiden.
Die Politikwissenschaft sieht darin den Uebergang zur Konsensdemokratie. Zu deren Eigenheiten gehört, dass die politischen Prozesse auf Kompromisse angelegt sind. Das wird der Wettbewerbsdemokratie gegenüber gestellt, bei der, wie beispielsweise in Grossbritannien oder den USA von Wahl zu Wahl die politische Macht neu verteilt und dann ungebrochen ausgeübt wird.
Nun ist der Erfinder dieser Typologie, Arend Lijphart, ein bekannter niederländischer Politologe. Er hat das alternativen Demokratiemuster anhand der niederländischen Demokratie entwickelt. Geprägt wurde sie durch die konfessionelle Spaltung und die vorrangige Vertretung städtischer Interessen im Staat. Beides hat die führende Rolle liberaler Parteien in der Politik geführt.
Das ist ja in der Schweiz ja nicht gross anders. Und, in beiden Staaten war man bemüht, Konsensregeln zu etablieren und den politischen Konflikt zu mindern: die Parität der Konfessionen und die Inklusion ganzer Gesellschaftsgruppen durch politische Vermittlung. Das Proporzwahlrecht steht sinnbildlich dafür, das eine Mehrparteiensystem, aber auch eine Mehrparteienregierung begründet hat.
Gelehrige AnhängerInnen fand Lijphart nicht ganz überraschend bei den PolitikwissenschafterInnen der Uni Bern. Allen voran hat Adrian Vatter eine schweizerische Version der Theorie der Konsensdemokratie entwickelt. Andere wie Alexander Arens und Rahel Freiburghaus stossen da nach. In ihrem jüngsten Beitrag schreiben sie, dass sich die Schweiz von einer idealtypischen Wettbewerbsdemokratie im 19. Jahrhundert (1848-1891) zu einem Extremfall der Konsensdemokratie (1946–92) entwickelt hat. Seit 1993 ist eine Re-Normalisierung zu beobachten. Dabei folgte man über die Zeit Vorbildern aus der USA “”SisterRepublic”), Deutschland (“Sozialdemokratie”) und der Niederlande (“Konfliktlösung”).
Lijphart bemerkte allerdings einmal, die neuerlich intensive Beschäftigung mit dem Konsensmodell sei eine Folge ihres schrittweisen Zerfalls. Das begann in der Niederlande früher ein als in der Schweiz, wird aber in beiden Staaten sichtbar.
Eine Ursache dafür ist der tiefgreifende Wandel der Religionslandschaft. So ist in den Niederlande seit 2015 die Mehrheit der EinwohnerInnen konfessionslos; in der Schweiz waren es bei der jüngsten Erhebung 25 Prozent, Tendenz steigend!
Dahinter stehen Entkirchlichung der Gesellschaften durch Säkularisierung. das erlaubt individualisierte Lebensläufe. Es trifft die reformierten Glaubensgemeinschaften stärker als die katholische. Ihre Zahl ist denn in beiden Ländern hinter die der Konfessionslosen, aber auch der Katholiken zurückgefallen.
Vielleicht sollte man vor dem Holländerturm über diese Tendenzen des sozialen und politischen mehr nachdenken, als nach den jederzeit inexistenten Windflügel zu suchen. Prominent hingewiesen wurden wir nämlich durch einen niederländischen Wissenschafter.

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

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