Stadtwanderung Ochsenbein 6: Das doppelte Grundgesetz

Wir stehen vor dem «Restaurant zum Äusseren Stand». 1831 wurde hier die liberale Kantonsverfassung erarbeitet, und es war 1848 der formelle Tagungsort der Verfassungskommission. Am 12. September 1848 wurde hier die neue Bundesverfassung unterschrieben.

Die Entscheidung, das Volk über die neue Verfassung entscheiden zu lassen, war ein notwendiges Wagnis. Denn man stellte sie als Revision des Bundesvertrags von 1815 dar. Dieser sah jedoch gar keine Revisionen vor und postulierte die alleinige Souveränität der Kantone, vertreten von der Tagsatzung. Vom Volk war damals noch nirgends die Rede. Zudem war der Vertrag von Grossbritannien, Russland und Österreich verfügt worden, – ohne Schweizer Beteiligung. Jetzt wollte man die Verfassung eines souveränen Staates in Kraft setzen. Dafür braucht es die demokratische Legitimation.
Ganz so sicher, war sich die letzte Tagsatzung allerdings nicht. Die Vertretung der Kantone musste einstimmig entscheiden. Doch genau dies hatten die die Kantone nicht getan.
Wie entscheiden?
Hätte die Nation und der Bundesstaat schon bestanden, hätte die Mehrheit entschieden. Und die Minderheit hätte sich fügen müssen. Da würde sie das auch ohne die Voraussetzung machen?
Dreieinhalb unterlegene Kantone akzeptierten die mehrheitlich Entscheidung der Stände und der Völker. Drei blieben hart: Uri, Schwyz und Obwalden. Sie mussten zur Mitgliedschaft im Bundesstaat gezwungen werden.
Das war, staatsrechtlich ein Bruch, deshalb wird er auch als revolutionärer Einschnitt bezeichnet.
Am 12. September erklärte man die neue Verfassung für angenommen. Unterzeichnet wurde sie von den Spitzen der Tagsatzung. Das waren Alexander Funk, der letzte Präsident, und Johann Ulrich Schiess, der Eidgenössische Kanzler.
Allerdings beliess man den Bundesvertrag von 1815 vorerst in Kraft. Man hatte also ein doppeltes Grundgesetz. Aufheben wollte man den Vertrag erst nach der Schaffung der erforderlichen Institutionen. Das war am 6. November für das Parlament und am 16. November für die Regierung der Fall.
Die heutige Geschichtsschreibung geht denn auch eher von einem Prozess der Staatswerdung mit wichtigen Stufen aus. Es braucht zwei Anläufe, und es gab ebenso viele Rückschläge. Am Schluss wagte man den Schritt nach vorne. Heute weiss man: zurecht!
1848 flossen verschiedene Philosophien in unseren Staat ein:
. die doppelte Souveränität von Volk und Ständen mit Bund und Kantonen als eigene Leistung,
. der Bikameralismus aus der Vereinigten Staaten und
. die Bürger- und Menschenrechte aus der Französischen Revolution.
Letzteres wurde zumindest aus heutiger Sicht am wenigstens konsequent durchgesetzt. Das hatte mit dem freisinnigen Projekt zu tun: Über dem Binnenmarkt der sich etabliert hatte, sollte es ein staatliches Konstrukt geben. Individual- und Sozialrechte mussten erst noch vollständig ausgebildet werden.

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

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