2. Station Demokratie und Macht – ein Spannungsverhältnis

Wir stehen auf dem Bundesplatz. Manchmal ist er voll von Menschen, die demonstrieren. Dann fällt einen weniger auf, dass die Gebäude rund herum fast alle Banken sind. Wie steht es um das Verhältnis von Demokratie und Macht?.

Unsere Demokratiegeschichte ist institutionell geprägt und vielen bekannt: Der Bundesstaat wurde 1848 gegründet. Die Volksrechte wurde 1874 erstmals eingeführt. Die Zauberformel datiert von 1959. Nur beim Frauenstimmrecht wurde es 1971.
Eine weniger bekannte Interpretation von Demokratie habe ich Ende der 1970er Jahren während meinem Studium an der Universität Zürich kennen gelernt. Man las «The Power Elite» von Charles Wright Mill. Der Soziologe analysierte die USA nach dem Zweiten Weltkrieg. Er hielt fest, dass der Staat, das Militär und die Wirtschaft zu einer Superballung von Macht zusammengewachsen seien, welche die Demokratie bedrohe. Ausgerechnet Dwight Eisenhower machte daraus den «militärisch-industriellen Komplex», kurz MIK.

Ergebnisse aus der Forschung
Heutige TheoretikerInnen der Demokratie sprechen kaum mehr vom MIK. Will man die enge Beziehung von Wirtschaft und Staat benennen, verwendet man den Begriff «Korporatismus». Gemeint ist die Integration dieser Interessen in die staatlichen Entscheidfindung. Genau genommen spricht man vom Neokorporatismus oder liberalen Korporatismus. Denn die Mitgliedschaft in Wirtschaftsorganisationen ist heute freiwillig, anders als es etwa führen mit den Zünften war. .
Hanspeter Kriesi, der Schweizer Wright Mills, schrieb vor diesem Hintergrund seine wegweisende Habilitationsschrift. Aufgrund von Experteninterviews erstellte er eine Rangliste der zugeschriebenen Macht für die Schweiz der 1970er Jahre. Sie sah den Gewerkschaftsbund an der Spitze, gefolgt vom Vorort (Schweizerischer Handels- und Industrieverein), der Vorläuferorganisation der economiesuisse. An dritter Stelle war der Gewerbeverband, womit sich alle drei vor dem Bundesrat, weiteren Branchenverbänden und den politischen Parteien einreihten. Das war Neokorporatismus pur. Der Bundesrat regierte mit dem ‘big business’ unter Einschluss der Gewerkschaften.
Pascal Sciarini, Kriesis wichtigster Schüler, wiederholte die Studie 30 Jahre später. Sein neuer Hauptbefund: Der Verbandseinfluss war gesunken. Nur economiesuisse konnte sich auf der Höhe des Bundesrats halten. Vor beiden lag mit der SVP eine erneuerte Regierungspartei. Hinter ihnen kommen alle anderen Parteien im Bundsrat. Sie rangieren noch vor den weiteren Verbänden und neu den Spitzen der Finanzverwaltungen in Bund und Kantonen. Die Forschenden Sciarini, Fischer und Traber hielten auch fest, nicht mehr das vorparlamentarische Verfahren entscheide heute; vielmehr seien die Kommissionen im Parlament massgebend.
Eine eigene Studie mit direktem Bezug auf das Lobbying bestätigte einiges hiervon. Dafür liess ich LobbyistInnen die jeweils anderen LobbyistInnen einschätzen. So erfuhr ich Allerlei zum heutigen Thema. Mein Hauptergebnis war, dass der Einfluss des Lobbyings steigt, je intensiver er betrieben wird. Mein Ranking sah economiesuisse, den Dachverband der Wirtschaft, an der Spitze, umgeben von Umwelt- und KonsumentInnenverbänden. Der Bundesrat kommt selbstredend nicht vor, aber die Parteien, die Verwaltung und die Kantone erscheinen plötzlich als wichtige Lobbygruppen.

Popularisierungen in den Medien
Solche Erkenntnisse sind zwischenzeitlich als Populärwissenschaft in den Massenmedien angekommen. Zu Zeiten Kriesis war das der Tages-Anzeiger-Journalist Hans Tschäni. Für ihn waren die 300 GeneralistInnen und SpezialistInnen der Schweizer Politik, recht gut abgeschottet, unsere Machtelite.
Gut 30 Jahre danach gab ein Schweizer Autorenkollektiv, das für die deutsche Zeitung «Die Zeit» recherchierte, eine andere Antwort. Sie nahmen an, auch in fortgeschrittenen Demokratien gäbe es eine Entwicklung zur «Postdemokratie». Die Institutionen würden weiter bestehen, aber Experten hätten die Macht übernommen. Sie würden Entscheidungen so gestalten, dass der Demos beherrscht werden könne. Immerhin stellen die Autoren bezogen auf die Schweiz eine typische Reaktion auf die Herrschaft der Technokraten fest. Hier sei es nämlich zu einer «Retrodemokratie» mit aktiver Zivilgesellschaft und Massenmedien im Zentrum gekommen. Diese würden Demokratie inszenieren. Hauptdarsteller sei der Volkstribun Christoph Blocher mit seiner SVP. Er bilde in der pluralistisch gewordenen Demokratie mit vielen Playern das eigentliche Machtzentrum.

Wahlen und Corona zeigen in verschiedene Richtungen
Heute kann man erneut die Frage aufwerfen, ob diese Deutung noch stimmt. Die Polarisierung durch die Rechte und Linke hatte wohl 2015 ihren Höhepunkt. 2019 verloren SVP und SP die eidg. Wahlen. Auch die grossen Medien verlieren ihr Publikum zusehends, und es gibt vielerorts populistische Expertenkritik. Schliesslich haben zahlreiche Interessengruppen ihre Vertretung im Parlament bei den letzten Wahlen eingebüsst. Dazu gehören gerade die Sozialpartner, aber auch die GesundheitspolitikerInnen.
Politische Macht gewonnen haben die VertreterInnen der Grünen und die Frauen. Sie erreichten im Jahr der Klima- resp. Frauenwahl Spitzenwerte. Das alles spricht für wieder mehr Pluralismus in einer sich ändernden Gesellschaft.
Bis COVID-19 kam! 2020 erlebten wir eine massive Neubelebung des neokorporatistischen Arrangements. Denn seit der «zweiten Welle» sind Verbände der Wirtschaft und der Freizeitindustrie, aber auch Fachleute wie EpidemiologInnen und Massenmedien von zentraler Bedeutung, wenn es um Einflüsse auf den stark geforderten Bundesrat geht. Ist das schon ein Neo-Neokorporatismus?

Und weiter …

Auf geht’s, zur Suche, wo die Macht im Regierungsviertels versteckt ist!

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

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