herodot – vater der geschichtsschreibung

geschichte soll lehren, meinte der grieche herodot, und verfasste vor fast 2500 jahren erstmals nicht nur ein epos oder eine chronik, sondern ein philosophisch inspiriertes geschichtswerk. der weit gereiste historiker, geograph und völkerkundler in einem beeindruckt bis heute, selbst wenn seit den römern bis heute vielfältige kritik an seinen historien aufgekommen ist. eine erste kleine auseinandersetzung mit der prioniertat der gelebten geschichtserzählung, – aus den ferien des stadtwanderers, – folge 1!

gelebte geschichte, egal ob erzählt oder geschrieben

als ich geschichte studierte, kam er nicht vor. die geschichte der geschichte begann mit dem historismus, der deutschen form der geschichtsphilosophie. dieser entstand anfangs des 19. jahrhunderts als abgrenzung zum wirken napoléons. für die historiker des historismus sind die staaten und männer die treibenden kräfte in der geschichte. diese ist denn auch in hohem masse politische geschichte. anders als in frankreich und england hat sich die geschichte in deutschland lang nicht mit der sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichte befasst, die ich im verlauf des studium doch noch kennen lernte.

seit wann man geschichte hat, erzählt und schreibt, interessierte mich ebenfalls gegen ende des studiums, und so begann meine beschäftigung mit der theorie der geschichte. ich wählte das sogar als prüfungsfach bei walther hofer. auch er war ganz dem historismus verpflichtet, wenn auch in modernisierter form. und mit ihm konnte man so herrlich streiten, und in dieser dialektik wurden einem these und antithese bewusst, egal wer sie vertrat. Damals war meine ablehnung des historismus klar, und das führte mich in anlehnung wie in den späten 70er üblich von der historischen sozialwissenschaft zur soziologie und schliesslich auch zur politikwissenschaft und meinungsforschung.

das interesse an diesen fragen ist bis heute wach geblieben. und dabei gegnete ich ihm doch noch: herodotus, dem vater der gelebten, erzählten und geschriebenen geschichte, der von 484 bis 425 vor unserer zeitlebte, und der mit seine historien eine neue gattung in der griechischen literatur begründete. Wohl ist er nicht der begründer der geschichtswissenschaft, aber er ist der begnadete erfinder des weltlichen geschichtsverständnisses.

leben, werk und würdigung von herodot

schon herodots leben war für seine zeit spektakulär: er wurde in halikarnassos in kleinasien (heute bodrum in der türkei) geboren. schon als junger mann unternahm er viele und lange reisen nach persien, aegypten, babylonien und ans schwarze meer. dort lernte er die vorderorientalische welt kennen, die ihren höhepunkt schon hinter sich hatte. mit dem ganzen erfahrungsschatz, den er so gesammelt hatte, schloss er sich einer gruppe von stadtgründern an, welche das süditalienische thurioi entstehen liessen. um 450 verliess er seine gründungsgemeinschaft, um als gelehrter nach athen zu gehen, wo er mit den grossen seiner zeit, sophokles und perikles, in kontakt trat. hier – oder in thurioi – ist er auch gestorben.

seine lebenserfahrungen fasste herodot zunächst in kleinere, in sich zusammenhängende geschichten, später logoi genannt. diese trug er als erstes in der öffentlichkeit vor, sprach auf athens plätzen so, dass er interessierte zuhörer fand. seine anhänger waren ihm wichtig, und ihre reaktionen auch, denn sie lehrten ihn, den geschichten eine form zu geben, die lebendig und fest zugleich war. so entstand ein geschichtswerk aus der praxis, als sammlung von eigenen ansichten und traditionen, mit denen herodot gross geworden war. bis heute ist sein 9bändiges lebenswerk im buchhandel und (teilweise) auf internet gefragt.

cicero, der grosse rhetoriker, der führende politische gegenspieler von caesar und der glücklose verteidiger der römischen republik, lobte herodot als „vater der geschichtsschreibung“, tadelte ihn aber auch als „erzähler zahlloser märchen“. diese ambivalenz in der würdigung des weltreisenden, des stadtgründers und des gelehrten herodots ist bis heute geblieben. niemand kommt an ihm vorbei, wenn man die geschichte der geschichte ausrollt, doch alle rümpfen ein wenig die nase.

der philosophierende tausendsassa

warum das? herodot war zunächst ein tausendsassa, ein pionier in vielen gebieten. er befasste sich mit politischen fragen, verglich verfassungen und gab ratschläge, was gut und schlecht ist. er verstand sich auch als geograph, der vorgab, wie die welt und ihre karte auszusehen haben. und er war ein völkerkundler, der seine, aber auch fremde kulturen durch eigene anschauungen kannte. das alles machte er mit verve, was in seinem erzählerischen talent bis heute zum ausdruck kommt.


karte: die welt als insel, gezeichnet nach den vorschlägen herodot, im 5. jahrhundert vor unserer zeit. die konturen und proportionen rund um das östliche mittelmeer und das schwarze meer, die herodot von seinen reise her kannte, stimmen auffällig gut. wo der augenschein jedoch fehlte, stimmen auch die angenommenen verhältnisse sichtbar schlecht.

sodann verfasste herodot seine geschichte nicht als epos und wirken der götter oder als chronologie und gedächtnis der herrschenden. nein! erstmals verband mit herodot ein historiker seinen bericht mit einem philosophischen thema. Denn es ging ihm um die frage, wie es kommen konnte, dass persien, dass über dem alten vorderorientalischen gleichgewicht der mächte in aegypten, babylonien, medien und lydien zu einer imperialen grossmacht aufgestiegen war, in der schlacht von marathon gegen den stadtstaat athen verlor.


karte: verlauf des persischen krieges in griechenland, der mit dem überraschenden sieg athens endete, und der herodot zum verfassen seiner historien veranlasste. der marathonlauf erinnert bis heute an den sieg der athener 490 vor unserer zeit in der schlacht von salamis

philosophie war damals in hohem masse morallehre. und genau darum ging es herodot. dem bedenkenlosen handeln stellte er das bewusstsein für das eigene tun gegenüber. das war (und ist) nicht selbstverständlich, sondern der anfang aller selbstreflexion. seine lehre war eine art corporate governance, denn sie beinhaltete vorschriften über verantwortung, aber auch über leistung, erfolg und schuld. und: seine morallehre war eine grosse warnung vor hochmut. der gescheiterte aufstieg der perser stand für ihn sinnbildlich dafür; während athen noch rein war. doch es musste gewarnt werden, gleiches wie in den zerfallenden reichen des orients zu begehen.

herodot aus sicht des stadtwanderers


heute ist man vorsichtiger mit aussagen, wie sie herodot machte. man treibt wissenschaft; dafür kann man auf den schultern anderer stehen, die vor einem ihre lebensweisheit in den grossen diskurs um sinn und wahrheit eingebracht haben. man muss auf all dies vorher erbrachten leistungen referieren, und man kennt auch alle enttäuschungen, welche die wissenschaft ausgelöst haben.

ob die geschichte uns etwas lehrt, wird heute überwiegend bezweifelt. den moralisten und optimisten stehen skeptiker und pessimisten gegenüber. da passt herodot nicht mehr so richtig hinein.

und dennoch ist herodot, der nie geschichte studiert hat, der geschichtsschreibung wie kein anderer begründet hat. Seine kritierInnen hat er allesamt überlebt, weil er geschichte gelebt hat. Weil er sie selber verkörpert hat. Weil es sie vortragen konnte. und weil er ihr eine literarische form gegeben hat. das ist mehr, als viele gescheite chronisten heute können, oder theoretiker je zu denken wagen.

vielleicht ist das auch das unergründliche geheimnis der geschichte, die sich allen versuchen zum trotz immer wieder gegen die verwissenschaftlichung gesperrt hat. mich jedenfalls hat das schon im studium überzeugt, bei meinen damaligen lehrern walther hofer und erich gruner genauso wie bei meinen späteren vorbildern unter den schweizer historikern, walter burkhardt und jean-rudolph von salis. ohne es damals schon zu wissen: sie alle war für, während oder nach meinem studium herodots schüler, die auf mich wirkten.

für herodot waren seine historien erkundungen. er war reisender. er war wanderer. stadtwanderer. er besuchte führungen, und verwickelte seine mitmenschen in klärende gespräche. damit hat er wie kein anderer die klassisch-griechische geschichtschreibung begründet. durch ihn hat die geschichtsschreibung eine bis heute nachwirkende form erhalten. doch er überzeugte schon zu seiner zeit. er hat die alten kräfte der geschichte, die götter und die helden der vergangenheit und der gegenwart, nicht geleugnet. er hat ihre kunde jedoch mit den eigenen anschauungen verbunden, die er mündlich und schriftlich weiter gegeben hat. seine bleibende leistung ist, pionierhaft die reichhaltigkeit der kulturellen erklärungen, die seine zeit anbot, persönlich gesammelt und für die nachwelt festgehalten zu haben.


grafik: vorstellung der entwicklung der menschheit, wie sie im 20. jahrhundert karl jaspers als philosoph des westlichen und technischen zeitalters entwickelt worden ist, und zahlreiche weltgeschichtliche betrachtungen heute noch prägt.

gelebt hat herodot in einer zeit, die karl jaspers als einschnitt in der menschheitsgeschichte interpretiert hat: der achsenzeit: die alten hochkulturen, die aus den ersten zivilisationen hervorgegangen waren, hatten, wie in aegypten, ihren höhepunkt erreicht. der hellenismus griechenland war die kulturell aufstrebende kraft. mit ihm entwickelte sich gerade im 5. jahrhundert die dialektik von orient und occident, deren synthese europäische imperien entstehen liess, während ihre aufsplitterung religiöse welten begründete. Das kulturelle erwachen in der achsenzeit, das kunst, religion und philosophie veränderte, weckte herodots neugier, die ihn zu seinen geschichten antrieb, ohne zu ahnen, was aus der welt und seinen historien werden würde.

selbst einstein und der stadtwanderer zähl(t)en herodots werk zu ihrer bevorzugten lektüre. ueber sein (und ihr) grosses thema, dem krieg und dem frieden, hielt herodot für seine leser in zwei sätzen, die prägnanter nicht sein können, fest:

im frieden begraben söhne ihre väter. im krieg väter ihre söhne.

stadtwanderer

Literatur
Herodot: Historien. Ditzingen 2002

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

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