6. Station: Lobbying gegenüber dem Bundesrat

Wir stehen vor dem Eidg. Finanzdepartement. Man könnte auch sagen, vor dem Herzstück der Bundesverwaltung – vielleicht sogar des Bundesrats. Wie lobbyiert man hier?


«Wir haben den besten Finanzminister der Welt», sagte einst die FDP über Bundesrat Hans-Rudolf Merz. Dasselbe meint nun auch die SVP, weil der Kassenwart Ueli Maurer heisst.

Auf und ab der Verschuldung
Seit 2004 schliessen die Jahresrechnungen der Schweiz nicht nur positiv ab. Sie sind auch positiver als vorgesehen. Eine Milliarde mehr als erwartet ist schon ganz normal!
Anders als in vielen Ländern konnte die Schweiz in jüngerer Zeit Schulden abbauen. Vom 124 Milliarden Franken 2003 sind sie 2018 auf unter 100 Milliarden gesunken.
Die stärkste Schweizer Waffe gegen Staatsverschuldung ist die Schuldenbremse. 2001 wurde sie eingeführt. Sie verpflichtet den Bund, Einnahmen und Ausgaben über einen Konjunkturzyklus hinweg im Gleichgewicht zu halten.
Doch das alles änderte sich 2020 angesichts der COVID-19 Problematik!
Der Gesundheitsminister sieht sich Ende Jahr 7’500 corona-verstorbenen Menschen gegenüber.
Der Finanzminister rechnet mit Defiziten von 30 Milliarden Franken.
Ueli Maurer klagt, wir stünden heute etwa da, wo wir uns vor einem Vierteljahrhundert befanden. Verschiedene ÖkonomInnen sehen es gelassener: Schulden machen koste angesichts der geltenden Zinsen fast nichts.
Und siehe da: Die Nationalbank verteilt 2021 neu 6 statt 4 Milliarden vom Gewinn an die leidenden Kantone. Und der Bundesrat verdoppelte die Beiträge für die Corona-Härtefälle jüngst auf 5 Milliarden CHF Franken.

Von viel Lob …
Während der ersten Corona-Welle wurde der Gesamtbunderat für seine Covid19 Politik gelobt. Er hat im März entschieden gehandelt, harte Massnahmen ergriffen und die Schweiz hinter sich versammelt. Nach knapp drei Monaten konnte die ausgerufene ausserordentliche Lage in eine besondere Lage zurückgeführt werden.
Selbst für den Finanzminister Maurer gab es Blumen, speziell für sein Vorgehen bei den Bürgschaften für Unternehmen ohne genügende Liquidität, die 20 Milliarden CHF umfassten. Wie die NZZ am Sonntag erfuhr, kam der Deal an einer Telefonkonferenz mit 330 TeilnehmerInnen zustande. 250 von ihnen kamen von den Banken, 80 aus dem Finanzdepartement. Staatssekretärin Daniela Stoffel vom EFD meinte im Interview, die Einigung sei deshalb so reibungslos verlaufen, weil ihr Gegenüber, Jörg Gasser, Direktor der Schweizerischen Bankiersvereinigung, ihr Amtsvorgänger im EFD gewesen sei. Enge Verbindungen zwischen Staat und Spitzenverbänden seien im Vollzug unter Zeitdruck von Vorteil.

… zu viel Tadel
Zwischenzeitlich hat die öffentliche Meinung gekehrt. Wir befinden uns mitten in der zweiten Welle. Die Todeszahlen sind erneut in die Höhe gegangen. Altersheime gelten als Sterbehospize. Das Long-COVID-Syndrom bei genesenen PatientInnen tritt auf. Ebenso werden psychische Erkrankungen zum Thema. Das mutierte Virus aus Grossbritannien hat die Lage nochmals verschärft.
Das Vertrauen in die Lösungskompetenz des Bundesrats ist drastisch gesunken. Seine Politik wird heftig kritisiert. Sogenannte Massnahmen-SkeptikerInnen sind aufgetaucht. Libertäre beschimpfen den Staat. Die SVP möchte die Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie ganz aufheben. Gesucht wird nach Sündenböcken – im Bundesrat und immer bei der anderen Seite.

Regieren ohne und mit Spitzenverbänden
Der emeritierte Politologe-Professor von der HSG, Silvano Moeckli, stellte auf Twitter die Frage, wie es komme, dass das gleiche politische System die erste Pandemie-Welle gut, die zweite jedoch schlecht bewältigt habe.
Seine Antwort aus dem Quasi-Experiment: Im Frühling seien alle überrascht worden. Die sonst so einflussreichen Verbände hätten nur zustimmend zur bundesrätlichen Politik reagieren können.
Das habe sich mit dem Ende der besonderen Lage geändert. Ohne öffentliche Debatte habe sich im Wechselspiel von Behörden und Anspruchsgruppen die Auffassung durchgesetzt, die Schweiz könne sich einen weiteren Lockdown nicht mehr leisten. Die Pandemie solle mit weichen und kostengünstigeren Massnahmen bekämpft werden.
Geboren wurde der «Schweizer Weg» durch die Pandemie!
Heute wissen wir: Er ist gescheitert. Vielleicht hat er die zweite Welle sogar begünstigt. Unvorbereitet ist die Schweiz jedenfalls in diese Phase gerutscht. Der Bundesrat hat sich inzwischen öffentlich dafür entschuldigt.

Neokorporatismus oder Neo-Neokorporatismus
Überblickt man das ganze Corona-Jahr, wird die Wirksamkeit des Neokorporatismus klar. Allen Unkenrufen zum Trotz, es nicht vorbei mit der Verbindung von Regierung und Verbänden.
Richtig ist, dass die Exekutive angesichts grosser Herausforderungen weiter gestärkt und die Legislative weiter geschwächt wurde.
Zudem verändert hat sich der Charakter der lobbyierten Interessen. Begründet wurde der Verbandseinfluss ursprünglich als Beitrag zum Allgemeinwohl. Heute erscheinen sie mehr als Beitrag zur Interessendurchsetzung. Die Verbände nehmen gezielt Einfluss auf einzelne Massnahmen.
So entsteht keine Strategie. Da sind Skigebiete offen, aber Schulen müssen geschlossen werden. Da sind Restaurants zu, aber Blumenläden offen.
Zielgerichtet gehandelt hat der Gesamt-Bundesrat mit seiner Tourismuspolitik. Zu den drei halböffentlich zelebrierten Tourismuskonferenzen lud stets er ein, angeführt von der damaligen Bundespräsidentin. Verhandelt wurden Stützmassnahmen für die Tourismusbranche. Unterstützt wurde sie auch mit einer umfassenden Werbekampagne des Bundes. Bundesrat Maurer lief im Parlament zur Höchstform auf, als er leidenschaftlich dafür warb, im Sommer in der Schweiz zu bleiben. Für einmal herrschte Einigkeit in der Corona-Politik!
Der Normalfall ist das nicht. Bisweilen wird man den Eindruck nicht los, man wurstle sich durch.
Regieren findet heute im Dreieck aus Exekutive, Lobbies und Öffentlichkeit statt. Letzteres passt nicht zur Regierungsweise im zweiten Weltkrieg.
Man müsste von Neo-Neokorporatismus sprechen. Government, big-business and public are the new power elite!

Und weiter …
Wir verlassen das Regierungsviertel nun. Jedenfalls fast! Denn noch fehlt uns eine Institution, die gerne vergessen geht.
Machen wir uns auf die Suche nach dem missing link!

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

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