potenzial der ethnohistorie

seit herodot oszilliert geschichte zwischen geschriebener und nicht-geschriebener variante. dabei favorisiert die geschichtswissenschaft die schriftliche form, weil sie der kritik besser zugänglich ist. das hat seine guten gründe! doch nun erhebt die ethnohistorie den vorwurf, dass so wesentliches der überlieferung unerfasst bleibe und im geschichtsbewusstsein verloren gehe. und der stadtwanderer doppelt nach; sie verschliesst einem den blick auf geschichte, die noch nicht geschrieben wurde, aber in grosser zahl rund um uns herum existiert. soweit die these zu meiner auseinandersetzung mit herodot und seinen folgen, – 3. teil!

folge 1: herodot – vater der geschichtsschreibung

folge 2: räume sehen und lesen lernen

unterschätzte ethnohistorie


während meines geschichtsstudium bekam ich von der verbindung der historie mit der ethnologie nur wenig mit auf den weg. ethnologie galt uns damals bestenfalls als erneuerte völkerkunde, die durch den missbrauch im dritten reich diskreditiert war. was danach folgte, war der versuch einiger intellektuellen, die nicht mehr kolonisierte, aber weiterhin traditionelle Welt zu verstehen. sie zu studieren, erschien mir wenig lohnend.

einen ersten gegenpunkt setzten die befreiungsbewegungen in aller welt, über die die medien im gefolge des vietnam-krieges berichteten. sie waren anti-amerikanisch, anti-imperialistisch, und sie hatten die sympathien meiner generation, was sich in der lektüre von unzähligen rororo-taschenbüchern äusserte. ernsthaft studieren konnte man dieses neue teilfach der geschichte jedoch nicht, und wenn sich einer wie (der schon früh verstorbene) albert wirz daran machte, da sah man darin den versuch, einen ganz spezialisierten lehrstuhl an einer fernen uni zu erwerben.

zwischenzeitlich hat sich die ethnologie kräftig gewandelt, und sie beginnt uns weltverständnis gründlich zu verändern. sie lehrt uns, die kulturellen selbstverständnisse der religionen, der philosophien und der sozialwissenschaften zu entdecken und zu reflektieren. dabei macht sie nicht halt vor der geschichtswissenschaften. wie alle kulturwissenschaften unterliegt sie zeitlichen und räumlichen einflüssen, ist sie selber kulturell gefangen.

assmanns und müllers grosser wurf

das markanteste buch, das ich hierzu letztes jahr in den schwedischen wäldern zu lesen begonnen und jetzt endlich verstehe, heisst „Der Ursprung der Geschichte“. herausgegeben wurde der sammelband von jan assmann und klaus e. müller.


(foto: schweden-wanderer, anclickbar)

der historiker assmann war bis vor kurzem professor für aegyptologie an der universität heidelberg; er erhielt 1998 mit dem deutschen historikerpreis die begehrtes auszeichnung der profession und hat seither eine fast unübersichtliche zahl von büchern, artikeln und interviews veröffentlicht. klaus e. müller ist emeritierter professor für ethnologie an der universität frankfurt und arbeitet seither an verschiedenen kulturwissenschaftlichen instituten. auch er hat in den letzten 10 jahren zahlreiche bücher veröffentlicht.

die beiden herausgeber beschäftigen sich mit ihren mitstreiterInnen mit den archaischen kulturen, dem alten ägypten und dem frühen griechenland. dabei geht es ihnen nicht um die schon so oft erzählte ereignisgeschichte: sie beschäftigen sich auch nicht mit neuen erkenntnisse der archäologie. vielmehr beschäftigt sich das wissenschaftsteam mit dem Verhältnis von zeit und geschichte, mit den geschichtsverständnissen vor herodot.

der verschlossene blick auf die orale ueberlieferung


vor allem im einleitenden kapitel von klaus e. müller zum ursprung der geschichte wird eine faszinierende ethnologische theorie von gegenwart, vergangenheit und zukunft, dem entstehen von erinnerung, ihre aufbewahrung und ihre darstellung vorgeführt. es geht darum, wie zeitverständnisse überhaupt entstehen, wie traditionen gebildet werden, wie trennungen davon perspektiven eröffnen und zurückgelassenes historisieren. und genau damit werden die voraussetzungen der geschichte geschaffen: denn nicht nur texte, auch kulturen archivieren wissen, sind gedächtnisse, museen vergangener zeiten gleich, die so in die gegenwart reichen.

das gebotene ist nicht zuletzt eine raffinierte kritik am geschichtsselbstverständnis der profession im gefolge herodots. denn geschichte ist viel älter als die vorherrschende geschichte der geschichtsschreibung vorgibt. geschichte existierte auch ohne die philosophie der griechen und das alphabet der phöniker. geschichte ist eine viel grundlegendere kulturelle leistung des menschen.

das alleine lässt aufhorchen, – und mahnt zur vorsicht: völker ohne schrift werden gemeinhin auf tieferem kulturellen niveau angesiedelt als solche mit schrift. und völker ohne schrift gelten deshalb den meisten als geschichtslos. damit sind wir wieder nahe bei wertlos, so wie die aussereuropäische geschichte in meinem studium. und wir sind auch bei herodots selbstverständnis.

dieses denkschema geht nicht zuletzt auf herodot zurück: wie bis heute üblich, unterschied er führende hochkulturen von abhängigen pflanzerinnen- und züchterkulturen, diese wiederum hat er gegen hirtennomadische kulturen abgegrenzt, die sie schliesslich über sammlerinnen- und jägerkulturen zu stellen.

formen der oralen geschichte

um aus diesem, vor literalität geprägten kulturverständnis auszubrechen, muss man sich, so der sammelband von assmann und müller, den annahmen der griechischen geschichtsschreibung versagen:

. man muss die geschichte vor der geschichtsschreibung entdecken wollen. . man muss sich den nicht-schriftlichen formen der überlieferung öffnen.
man muss dabei der falle der alten überlieferungen entweichen, die herodot vor 2500 jahren endlich überwunden hatte.

das ist ihr modernes programm der ethnohistorie, die ueberlieferung sehr wohl kennt, wenn auch nicht in literarischer form.

auf dieser suche nach traditionellen überlieferungsformen hat die ethnologie ziemlich allgemein sechs gattungen gefunden, die nicht-schriftlich von vergangenem berichten; es sind dies:

. mythen, die von der entstehung der welt durch die götter erzählen;
. legenden und sagen, welche die grossen taten tradieren, die halbgötter und urahnen vollbracht haben,
. genealogien, die die stämme aufzeigen, die von der gegenwart zurück zu den urahnen führen,
. grabreden, die gehalten werden, wenn jemand bedeutsames verstirbt und damit der genealogie übergeben wird,
. preisgesänge, die von den taten lebender menschen berichten, wenn sie in der öffentlichkeit auftreten, und
. geschichten, die man sich im alltag vor allem über die vielseitige tun und lassen der herrschenden erzählt.

mythen, legenden, sagen und genealogien sind für das weltverständnis traditioneller gesellschaften von grundlegender und wenig hinterfragter bedeutung. grabreden, preislieder und geschichten ihrerseits tragen zur stärkung des gemeinschaftsbewusstseins bei.

das führt zur zentrale these der ethnohistorie: geschichte entsteht nicht mit ihrer verschriftlichung; sie setzt mit jeder ethnischer differenzierung ein. denn sie soll die unterschiedlichkeit der lebensformen erklären, die man in verschiedenen räumen, aber auch zu verschiedenen zeiten vorfindet. dabei neigen kulturen, die sich selber für besser halten, dazu, mit geschichte die bestehenden, ungleichen verhältnisse zu legitimieren.

die autoren gehen in der kritik an herodot noch weiter. er habe gar nichts neues erfunden. er habe nur die damaligen akzente des umfassenderen geschichtsbewusstsein verschoben. ihn faszinierten sagen, weil sie von sterblichen handelten; doch erklärten sie den gang der dinge nach dem persischen krieg nicht mehr. deshalb habe er sich der jüngeren und jüngsten vergangenheit zugewandt, die sich durch vertrauenswürdige gewährleute, durch augenzeugen und vom hörensagen bestätigen liess. denn sie galten als die verlässlichsten quellen, die einem die aktuelle veränderung erschliessen können. sie festzuhalten, war sein ziel, um athens gewachsene grösse zu zeigen und zu sichern. herodot sah seine stadt als d i e hochkultur seiner zeit; doch sie stand nicht unbestritten, nicht alleine da. sie musste sich gegen persien und sparta verteidigen, und genau deshalb habe herodot so geschichte als eindringliche warnung, als neue sage erzählt und geschrieben.

merkverfahren der ueberlieferung

selbst wenn man die kulturellen implikationen herodots geschichtsschreibung heute hinterfragen kann, eröffnen sich einem mit seinen quellen die merkverfahren der nicht-geschrieben geschichte. ss zeigt sich einem der weg, den die literale geschichte zurückgelegt hat, als sie die orale und gegenständliche tradierung überwand. zu den gängigsten verfahren der überlieferung zählten:

. merkörter: orte mit namen und wege dazwischen, die einen folgezusammenhang zwischen den lokalen geschehnissen herstellten,

. merksachen: objekte aus beuten (insbesondere waffen) oder sonstigem erinnerungswert (grabsteine und menhire, reliquien und sakralobjekte, die vererbt wurden und in geheimbünden zum sprechen gebracht werden konnten

. merkhölzer und merkschnüre, die das zählen auf einer reise oder bei tauschgeschäften erleichterten, oder an vereinbarte treffen erinnerten

. merkmotive, die durch reim, versform, sprechgesang oder als lieder vorgetragen wurden, wobei melodien und rhythmen für ganze geschichten stehen

. merkbilder wie darstellungen der urzeitwesen und porträts grosser ahnen in den versammlungshäusern.

der nutzen für die vergangenheit und die gegenwart


spannend ist dieses geschichtsbuch, weil es die kulturellen leistungen der griechischen geschichtsschreibung und der historiographie, die sich darauf bezieht, nicht leugnet. doch es historisiert sie, lässt sie selber zu geschichte werden, um eines zu verstehen: geschichte wurde nicht erfunden, vielmehr hat sie selber geschichtliche ursprünge. diese erkennt die literatur seit herodot nicht, weil sie in ihrer eigenen kulturellen tradition gefangen ist. diese zu überwinden, gelingt jedoch der ethnologie. denn sie macht klar, dass überlieferung nicht literal, sondern oral entsteht. und orale traditonen der ueberlieferungen entstehend aus symbolen, zeichen, die der mensch mit objekten, tönen, bildern und wörtern ganz bewusst setzt, um das erinnern zu erleichtern, selbst wenn man örtlich oder zeitlich vom geschehen entfernt ist.

nun zeigt die ethnologische erkundung in der gegenwärtigen welt, dass dieser übergang auch heute noch stattfindet. deshalb lassen sich in gegenwart wie in der vergangenheit die traditionellen formen der tradierung und ihre techniken der memorierung studieren. sie sind heute genauso so, wie sie es früher waren, vordergründung individuelle leistungen, in denen sich jedoch kollektives erinnern äussert. das ist die aufgabe der historikerInnen nicht erst sein herodot, sondern auch ihrer kulturell älteren vorfahren.

an diesem dedankengang der ethnohistorie fasziniert mich weniger das tor zu den ganze alten kulturen. vielmehr spricht mich an, dass sich damit auch türen für die alltagsgeschichte öffnen, die bei weitem nicht immer verschriftlicht ist. dazu meine vorläufigen anregungen.

nicht-schriftliche formen der alltagsgeschichte wieder erkennen

erstens, wer erinnert sich nicht schon daran, vor bilderfolgen mit zeitlichem sinn gestanden zu sein? Ist nicht der heutige film das adäquate medium der alltagsgeschichte?

zweitens, wer erinnert sich nicht an kinderreime, schulgedichte, weihnachtslieder und demo-skandierungen? bedient sich nicht die werbung heute massiv der merkmotive mittels slogans und musak?

drittens, wer hat nicht selber schon einen knopf ins taschentuch gemacht (also sie noch nicht aus papier waren!), oder mit dem sackmesser kerbhölzer geritzt, und weiss heute noch, was er oder sie damit memorieren wollte? ist nicht das armband der kinder die heutige form, ferienerinnerungen aufzubewahren?

viertens, wer war noch nie in einer kunstwarenhandlung, wo man exotische teppiche und skulpturen ausgestellt hat? ist nicht die schatulle, in der man erbstücke aufbewahrt, die geheime form des familienzusammenhalts?

und fünftens, wer war noch nie auf einem vita-parcours, bei dem man erinnert wird, welche vergessen gegangenen Bewegungen für einen gesunden Körper nötig sind? ja, damit bin ich bei meiner pointe: ist nicht die stadtwanderung die heute adäquate form der nicht-schriftlichen vermittlung von stadt- und landesgeschichte, von raum- und kulturgeschichte?

mehr über filme, werbung, armbänder, schatullen als kulturelle ueberlieferungstechniken, wenn ich wieder stadtwandern kann!

stadtwanderer

jan assmann im perlentaucher.de

klaus e. müller im perlentaucher.de

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

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