schock: sergius golowin und das burgunder sind nicht mehr

bei einer meiner ersten stadtrundgänge nach meiner rückkehr nach bern war ich schockiert. das “burgunder “ist nicht mehr, ausgerechnet! meine beiz, das kleine café, das letzte symbol voreidgenössischer geschichte in bern, ist während meinen sommerferien eingegangen.

sergius golowin (1930-2006), bild aus dem café litteraire (foto: stadtwanderer, anclickbar)

doch das war nicht alles, das mich schockierte. auch sergius golowin verstarb, als ich in schweden war. er ist am 17. juli 76jährig von uns gegangen. auch wenn ich jetzt ein bisschen spät dran bin, einen moment inne halten muss ich da schon!

meine erste direkte begegnung


als ich 1980 nach bern kam, kannte ich hier wenige leute. ein paar
archivmäuse von meinen historischen recherchen als student, einige bewohnerInnen aus der damaligen wg-szene, – und sergius golowin! erstmals begegnet war ich ihm an einer dichterlesung in der aarauer “tuchlaube”. kurrlig kam er mir damals vor, wie von einer anderen welt. in seiner skurilität hat er mich aber angezogen. wir war gleich per du mit ihm, – schon in der ersten diskussion. damals war mir das sehr wichtig.

ich bin sergius in bern wieder begegnet, als ich, mehr verwirrt als interessiert, im berner altstadt-labyrinth zu meinen ersten abmachungen hetzte. ich habe mich immer wieder verlaufen, und ich habe deswegen zahlreiche treffen verpasst. da passierte es: ich bin sergius wieder begegnet! doch er kannte mich nicht mehr, siezte mich erstaunt, – und er war sichtlich mit sich und seiner welt beschäftigt:

er studierte die lauben.
er musterte die gassen.
er befragte die häuser.
er philosophierte in den cafés.
er versank gerne in der stadt bern.

ein satz hätte damals über die stadt genügt, den er hätte mir geholfen.

auf und ab während der ersten lektüre

ich wollte wissen, was einen menschen so vereinnahmen kann, dass er wie ein gefangener wirkt. ich begann seine bücher zu lesen: “lustige eidgenossen” und “frei sein wie die väter waren” bildeten den anfang. später schlug ich nach, im “lexikon der symbole”, und noch viel später in den “mythen der menschheit”. ich lernte so eine welt kennen, die mir ziemlich fremd war. ich verstand wenig von dem, was da stand.

ich war damals keine 30 und auf erlebnisse aus. ich hatte kaum lebenserfahrung, war aber politisiert. ich wollte veränderungen sehen, nicht symbole interpretiert bekommen. mit bewegten taten, nicht worte. und mit diesen rügte der schriftsteller golowin immer wieder den materialismus der damals jungen historikergeneration. gegen den zeitgeist der 70er jahre empfahl er dafür das studium der kulturgeschichte, der einfachen volksgeschichten und der lebensweisheiten von fahrenden. das alles wollte mir gar nicht passen, schien mir unaufgeklärt, unpolitisch, unwichtig. ich beschloss, mich für vergangenes wieder an bert brecht und für gegenwärtiges an max frisch zu halten.

die öffnung zur zweiten lektüre

die alternativ-bewegung der 80er jahre öffnete auch mich für den post-materialismus. und ich begann mich, vorsichtig genug, ein zweites mal für sergius golowin zu interessieren. ich lernte die biografie des bernrussen kennen, ich vernahm vieles über den bibliothekar aus burgdorf, man las den frühen nonkonformisten unter den kulturschaffenden allenthalben, – und gelegentlich machte er sogar als landesringpolitiker im grossen rat von sich reden.

die zweite lektüre stiess mir die türe auf zum werk von golowin. zu seiner eigenen ruhe, zu seiner liebe zu den menschen, zu seinem respekt vor der schöpfung, zu seiner hingabe für magie, zu seinen kenntnissen über geschichten, und seiner begeisterung für bern.

seit ich stadtwandere, ist mir sergius golowin noch näher gekommen. seine “stadtgespenster”, seine “stadtlauben” und die “stadtbeizen” mit seinem vorwort liegen bei mir ganz oben auf der bücherbeige. selbstverständlich habe ich lektüre von seinem “adrian von bubenberg und die krone burgunds” aufgearbeitet. ich ärgere mich heute nicht mehr über ihn, sondern über mich, über meine verpassten chancen.

es ist phänomenal, wieviel er wusste, das die andern vergessen hatten, wieviel er beschrieb, das ausser ihm niemand mehr sah, und wieviel er mitteilt, selbst wenn man nicht mit ihm reden kann.

sein reiches erbe bleibt

ich glaube, sergius golowin war nie sehr reich, – wenigstens nicht im wörtlichen sinne. im übertragenen war er es dafür ausgesprochen: er hat gesammelt, ohne zu horten; er hat gesichtet, ohne zu besitzen; und er hat vererbt, ohne ein testament zu machen.

lieber spät als nie, sage ich dafür gerne: danke, sergius golowin, für alles, was ich zu lernen gelernt habe, was ich sonst nicht gekannt hätte!

sein erbe wird bleiben, und seine bücher werden auch mich weiter begleiten.


berner restaurant burgunder, im sommer 2006 ebenfalls von uns gegangen (foto: stadtwanderer, anclickbar)

jetzt um so mehr, wo er, fast schon symbolisch, mit dem café “burgunder” von uns gegangen ist.

stadtwanderer

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

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