Freiburg. Lüthy. Kanisiusbuchhandlung. Und die Aufklärung.

In seiner fundamentalen Diskursanalyse behandelt der französische Historiker und Philosoph Michel Foucault den langsamen Wandel von gesellschaftlich vorherrschenden Deutungsmustern. Dabei geht es namentlich um die Wissenschaft, welche dir Religion ablöst. Ein Beispiel.

Das alte Bahnhofbuffet in Freiburg
Vor einem Dritteljahrhundert hatte ich mit anderen im damals imposanten Buffet des Freiburger Bahnhofs eine lange Sitzung mit Geschichtsprofessor Urs Altermatt der Uni Fribourg. Es ging um die Ausgestaltung eines SNF-Forschungsprojekts zum kommenden politisch-kulturellen Wandel.
Wir entschieden uns, von der konstanten und gebundenen politischen Beteiligung auszugehen und zu fragen, was angesichts neuer Symptome daraus werden würde.
Eine der erwarteten Folgen war, dass die politische Partizipation nicht verschwinden, aber fallweise und damit punktueller werde. Klassische Parteien mit loyalen BürgerInnen an der Basis werden an Bedeutung verlieren. Gruppierungen, die neue Strömungen in der Gesellschaft mit ihren aktiven Menschen aufnehmen, werden dafür aufstreben. Das werde zwar nicht die Stabilität der alten Parteien garantieren, dafür Fester mit aktuellen und umso interessanteren Einsichten in die Gegenwart eröffnen.

Zögern vor der Buchhandlung Lüthy
Vis-A-vis des Freiburger Bahnhofgebäudes findet sich heute die Buchhandlung «Lüthy». Daneben steht «Kanisiusbuchhandlung».
Auf Internet präsentiert sich die Buchhandlung so: «Das siebenköpfige Team um Gilberte Graf und Johanna Jutzet steht den Kunden mit persönlichen Buchempfehlungen zur Seite. Besuchen Sie unsere Kinderbuchabteilung, schmökern Sie in unserer Auswahl an Romanen, und finden Sie aktuelle Sachbücher und Fachbücher oder einen guten Reiseführer – so wie das grösste Angebot an englischen Büchern in der Region.»
Im ersten Moment hatte ich Bedenken, die Buchhandlung zu besuchen. Nicht das Frauenkollektiv schreckte mich. Vielmehr ließ mich der Untertitel zögern.
Denn in den 1960er Jahren, als ich noch in Freiburg lebte, war Kanisisus die führende katholisch-konservative Buchhandlung für Literatur. Von da kam auch der Index. Darauf standen Bücher, die man nicht lesen durfte. Meine Familie kannte den Index auch Jahre nachdem wir von Freiburg weggezogen waren.

Der Jesuit Kanisisus
Peter Kansisius, 1521 in Nijmegen geboren, starb 1597 in Freiburg. Dazwischen machte er eine mustergültige katholische Karriere während der Gegenreformation. Früh trat er dem neuen Orden der Jesuiten bei, später machte er ihn zur bestimmenden Kraft der katholischen Kirche gegen die Protestanten in Deutschland.
Den angebotenen Bischofsstuhl von Wien lehnte er ab, betätigte sich aber als Prediger im Stephansdom. Papst und Kaiser empfahlen ihn deshalb als Domprediger in Augsburg. Das nahm er an. 1580 kam er nach Freiburg im Uechtland, um das Gymnasium St. Michel zu gründen. Es sollte zur Eliteschule für die französischsprachige katholische Schweiz avancieren.
Kansisius wird gelobt, den Augsburger Religionsfrieden von 1555 respektiert zu haben. Seine Kritik an den Reformierten war gemässigt. Umso heftiger waren seine Aussagen zu Hexen.
In seinen Augsburger Predigten machte Kanisius Frauen, die nicht konform lebten, für das zunehmend schlechte Wetter und wachsenden Missernten seiner Zeit verantwortlich. Er warf ihnen auch Kindsmord und Kannibalismus vor. Augsburg, bis anhin humanistisch, kippte und löste in Mitteleuropa eine neue Welle von Hexenverfolgungen aus.

Gelebte Aufklärung
Ich war froh, im «Lüthy» einer zeitgenössischen und weltoffenen Buchhandlung zu begegnen. Die Rubrik «Religion» im oberen Stock befindet sich fast ein wenig versteckt um die Ecke rechts. Papst Franziskus steht da nicht unerwartet im Mittelpunkt. Gut sichtbar ausgestellt ist das Buch des Vatikan-Insiders Andreas Englisch, der über die konservative Gegnerschaft des heutigen Kirchenführers berichtet.
Besonders interessiert hat mich die benachbarte Abteilung „Aktualität“ mitten in der grossen Bücherwand. Sie bietet so ungefähr alles, was man heute als interessierte ZeitgenossIn liest. Mitten drin findet sich auch das Buch «Klima und Gesellschaft in Europa», das die beiden Berner Klimaforscher Christian Pfister und Heinz Wanner jüngst veröffentlicht haben. Damit haben eine neue Wegmarke für die historische Klimatologie gesetzt.
In diesem Werk findet sich auch die heutige Einordnung von Kansisus’ Predigten. Denn seine Zeit war die der kleinen Eiszeit. Das Klima kühlte sich merklich ab. Gletscher wuchsen. Dörfer verschwanden. Die landwirtschaftliche Produktion ging zurück. Hunger breitete sich aus. Und es kamen verheerende gesellschaftliche Spannungen auf. Statt sie zu erkennen und anzugehen, suchte die damalige Kirche nach Schuldigen, und fand sie namentlich bei Frauen. Und Kanisisus mitten drin!

Mein Lob
Dem engagierten Frauenkollektiv im «Lüthy» gebührt meine volle Anerkennung. Sie beteiligen sich aktiv an der Erneuerung vernünftiger Sichtweisen auf die Welt. Unvermittelt wurde ich an Michel Foucault und seine historische Diskursanalyse erinnert!
Voraussetzung dafür war wohl der politkulturelle Wandel. Unsere damalige Forschungshypothese, wonach vorherrschende Parteien einen Funktionsverlust erleiden würden, bestätigt sich gerade in Freiburg eindrücklich. Die Grünen waren jüngst die große Gewinnerin in der früheren CVP-Stammlande. Alte Seilschaften wurden durch neuen Netzwerke abgelöst, Priesterdünkel durch Frauenpower ersetzt. Und religiöse Deutungsmuster werden von wissenschaftlicher Aufklärung widerlegt.
Gerne wäre ich auf ein Bier ins Bahnhofbuffet nebenan gegangen. Am liebsten mit dem Lüthy-Team. Aber die Halle steht nur noch in meiner Erinnerung. Darum: auf ein virtuelles Prost!

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

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