christoph blocher und die politische kultur

der 9. dezember 2003 war für mich ein einschnitt. ruth metzler wurde aus der landesregierung abgewählt, und christoph blocher wurde neuer justizminister der schweizerischen eidgenossenschaft.der moment hat mich bewegt, – “ein einschnitt, eine änderung, ein bruch”, ging es in mir vor.


in der nähe meiner wohnung: asylunterkunft, gelegentlich auch mit leuten aus der türkei, – und einer botschaft: “rechts abbiegen verboten!” (foto stadtwanderer)

der kampf der politischen kulturen

es ging mir nicht einmal um die person von ruth metzler, sondern um den mechanismus, der diesen tag bestimmte. denn es war sichtbar geworden, dass der zauber der zauberformel von 1959 verschwunden war. nicht mehr das proportional-ausgeglichene, nicht mehr das gemeinsam-kooperative sollte regieren, sondern der kampf um köpfe und richtungen. und dafür gibt es seither nur noch eine “formel”, wie der budnesrat zusammengesetzt wird.

mehr noch: nicht mehr die verblassenden parteien, wurde mir damals schon klar, würden diesen kampf führen, sondern der bundesrat selber, besser gesagt die markanten personen unter den bundesrätInnen gegeneinander. das war der wandel, der sich vor drei jahren schon mal ankündigte!

“der kampf der kulturen”, lautet der berühmte titel eines der berüchtigsten bestseller der politikwissenschaftlichen literatur der gegenwart. genau diesen kampf der kulturen spürte ich kommen, als ich mich entschied, ein bisschen weniger tagespolitik, dafür ein bisschen mehr politische kulturen der schweiz zu verfolgen. ein projekt, das mir ein wieder professor hierzu angeboten hatte, gab mir die berufliche basis. das stadtwandern, das ich genau seit dem 9. dezember 2003 bewusst pflege, schenkt mir den nötigen freiraum für erkundungen.

das argument des bundesgerichtspräsidenten

guisep nay, der präsident des bundesgerichtes, gehörte zwischenzeitlich zu meinen begleitern auf der stadtwanderung. corina casanova, die vizebundeskanzlerin der schweizerischen eidgenossenschaft, zu deren ehren ich eine spezialtour vorbereitet hatte, hat ihn 2005 mit auf den weg genommen.

es war ausgerechnet das wochenende, an dem sich bundesrat blocher mit dem bundesgericht über deren reorganisation in den wochenendpostillen stritt. bundesrichtet nay musste deshalb zwischenhin weg, hatte ein tuttifrutti aus burgunderhistorien und blochergeschichten, – eine richtige berner platte also! immerhin, beim mittagessen in der krone berns hatte ich zeit, einmal direkt den puls eines bundesrichters zu fühlen, wenn der gerade am steigen ist.

nun hat eben diese guisep nay über die sonntagspresse erneut zugeschlagen: auslöser ist christoph blochers auftritt in der türkei gewesen, verbunden mit seiner schelte an die adresse des antirassismus-gesetzes. es “verwildert die politische kultur, wenn sich die politiker nicht an die gewaltenteilung halten und den richtern anweisungen geben”, konterte nay blochers idee für eine baldige gesetzesrevision. doch diese ist nach nay gar nicht nötig. weder sei alles verboten, noch alles erlaubt. vielmehr würden meinungsäusserungsfreiheit und menschenwürde vom bundesgericht geschützt. und dann: “das volk hat das gegebene spannungsverhältnis zugunsten der wahrung der menschenwürde der von rassismus bedrohten bevölkerungsgruppen gelöst.”

soweit die richterlichen wort. bundesrat blocher lässt derweil ausrichten, er werde hart bleiben, und für seine idee kämpfen. dem bundesrat sei das bekannt gewesen, liess der konfliktpolitiker verlauten, und machte sich übers wochenende über den andern konfliktpolitiker im gremium, pascal couchepin, der sich schockiert über kollege blocher zeigte, lustig.

meine vorläufige wertung

ganz ehrlich: ich verstehe, wenn man, ausgehend vom polit-kulturellen verständnis der schweiz, volksrecht vor gerichtsrecht setzt. ich bin nicht automatisch gegen blocher und für nay. dessen argumentation von gestern war aber messerscharf richtig: bei der antirassismus norm steht volksrecht über gerichtsrecht. nur wer volksrecht mit volksmeinung gleichsetzt und das mit volksentscheid verwechselt, kann dem widersprechen. denn: über das antirassismusgesetz haben wir in einer volksabstimmung entschieden, und wir haben es – gegen die empfehlung der svp – angenommen.

wenn der svp präsident das gesetz sturm laufen würde, wäre mir das gleich; irgendwo würde ich das sogar erwarten. wenn aber der justizminister das tut, ist es mir nicht egal; zuviel an glaubwürdigkeit der schweiz im in- und ausland steht da auf dem spiel, als dass man es dem wahlkampf einer partei überlassen kann.

noch klarer und deutlicher: meinungsäusserungsfreiheit ist die basis der demokratie, gerade auch der direkten demokratie. man tut gut daran, diesen wert hoch zu halten. meinungsäusserungsfreiheit ist aber nicht grenzenlos, vor allem dort nicht, wo es um verstösse gegen die menschenrechte resp. menschenwürde geht.

die widersprüche in christoph blochers argumentation

der sich abzeichnende politische kulturwandel überrascht übrigens umso mehr, weil sich gerade christoph blocher noch vor jahresfrist weigerte, abstimmungskämpfe zu vorlagen seines departementes zu führen, und er in person demonstrativ vorlebte, dass es nicht sache des bundesrates sei, gefällt volksentscheidungen zu kommentieren.

das erste hat er im vorfeld des asylgesetzrevision schon mal kräftig dementiert; zu aktiv hat er seinen eigenen abstimmungskampf geführt, um seinen grundsätzen treu zu bleiben. doch auch das andere scheint er zunehmend zu desavourieren: selbst volksentscheide sind für den jüngsten svp-bundesrat kein tabu mehr!

am meisten überrascht aber, dass christoph blocher den bundesrat über seine genauen absichten in der türkei nicht ins bild gesetzt hat. er hat zwar über seine reise informiert, nicht aber über seine kritik an antirassismus gesetzt. wie hiess es so schön: seit christoph blocher im bundesrat ist, werde nicht mehr nur genickt, sondern hart zur sache diskutiert!

meine ausnahme! – blochers ausnahme?

“keine tagespolitik zu betreiben”, war mein grundsatz für den stadtwanderer. beschrieben werden sollten geschichte und aktualität der politischen kultur der schweiz. genau das steht heute aber zur debatte; und da kann ich einfach nicht schweigen … doch ich will mich bessern, und ich hoffe bundesrat blocher auch!

auf jeden fall werde ich vergangenheit und zukunft der schweizerischen politischen kultur in geschichte und gegenwart weiterhin aufmerksam
verfolgen und kommentieren.

stadtwanderer


die debatte hält unvermindert an, auch in der blogosphäre!

einen pointierten standpunkt contra blocher, im vergleich zum auftritt chiracs in der türkei, hat der auswandererblog eingenommen:
wallfahrer-blocher

einen ebenfalls pointierten standpunkt contra blocher, vor allem auch im vergleich zu berlusconi-italien, hat der ignoranz.ch eingenommen:
blocher schaut nach italien

einen ebenso pointierten standpunkt pro blocher, als sendungskritik an der “arena” hat side effects eingenommen:
alles blocher oder was?

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

2 Gedanken zu „christoph blocher und die politische kultur“

  1. hhhmmm
    fast hätte ich \’vergessen\’ dir für diesen brief zu danken.
    auf die auslösende wirkung bin ich ja gespannt – sie folgt sicher nicht gleich bei fusse…

  2. Ich wünsche dem Blocher dass er in lebensgefahr gerät und ausgerechnet von einem Jugo gerettet wird! Ob er wohl nachher auch noch eine so grosse Rechtsextremistenklappe hätte?

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