Ochsenbein. Unser Verfassungsvater von 1848. Meine Einleitung zur heutigen Stadtwanderung für das GS EDA


links: Beschlussfassung zur Gründung des Bundesstaats, 1847; rechts: Aufruf zum Frauenstreik nach Rentenaltererhöhung für Frauen. Beides liegt 175 Jahre auseinander, aber nur 10 Meter von einander entfernt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren.

Am Montag nach dem letzten eidg. Abstimmungswochenende versammelten sich hier mehrere hundert Frauen, um gegen die beschlossene Erhöhung des Rentenalters zu protestieren. «Was bleibt, ist die Wut und Enttäuschung», erklärte die Wortführerin Tamara Funiciello. Dafür wurde sie anschliessend heftig kritisiert. Ihr Einspruch sei aggressiv und undemokratisch gewesen, monierten vor allem rechte Kommentatoren. Sie warfen der Nationalrätin vor, radikal gegen Volksentscheidungen zu sein.
Der Vorwurf des Radikalismus kommt heute normalerweise vom entgegen gesetzten politischen Pol. Entsprechend unterscheidet man Links- und Rechtsradikalismus.
Nicht so im 19. Jahrhundert: Der Radikalismus hat seinen Ursprung in der liberalen Freiheit- und Demokratiebewegung. Radikale Demokraten waren für die Entmachtung der Kirche im Staat und für die Einführung der republikanischen Staatsform. Und sie befürworteten das allgemeine Wahlrecht – jedemfalls für Männer.
Mitte des vorletzten Jahrhunderts waren Radikale auch in der Schweiz gegen die katholische Kirche, die in Luzern, Freiburg und Pruntrut von erzkonservativen Jesuiten angeführt wurde. Dafür waren sie auch bereit, mit Waffen zu kämpfen. Den Sonderbundskrieg von 1847, unser letzter Bürgerkrieg, gewannen sie. Davor gab es zwei paramiliärische Angriffe von Freischärlern, der zweite noch blutiger als der Bürgerkrieg.
Der Umsturz in den katholischen Kantonen formte die Grundlage der Bundesstaatsgründung. Basis war die erste selber geschriebene Verfassung, die demokratische Institutionen und elementare Grundrechte mit dem Ziel beinhaltete, wirtschaftlichen Aufschwung durch die Industrialisierung zu sichern.
Die tragende Bewegung von damals war der Freisinn, in dem sich radikale, liberale und demokratischen Strömungen zusammenfanden. Der erste Schritt der Bundesstaatsgründung gelang innert Jahresfrist. Der zweiten, die Bildung einer Nation dauerte länger, vielleicht dauert er bis heute an.
Deshalb sprechen die geistigen Nachfahren von damals meist von einer Willensnation. Verwendet wurde der Begriff prominent von alt Bundesrat Kaspar Villiger, der ein Buch dazu verfasste.
Geprägt wurde der Begriff jedoch vom französischen Historiker Ernest Renan, der ihn für eine gewollte Gemeinschaft brauchte, die sich aus Bürgern verschiedenster Ethnien, Sprachen und Konfessionen zusammensetze und durch eine Elite zusammengehalten werde.
Wie das damals kam, ist Gegenstand unserer Stadtwanderung. Dabei steht Ueli Ochsenbein, der erster Berner Bundesrat aus dem Jahre 1848, im Zentrum. Doch es geht nicht nur um ihn. Die Führung handelt von der “Stunde Null” des Bundesstaates, wie es Ochsenbeins Biograf Rolf Holenstein einmal nannte.
Einen Vorgriff auf das, was kommt, mache ich hier schon: die Radikalität der 1848er Jahre war ausgeprägter als die der protestierenden Frauen heute. Beide richteten sich gegen weisse, alte Männer. Gemeinsam ist auch, dass beide Initialzündungen hier ihren Anfang nahmen.
Der grosse Unterschied: Der Frauenstreik vom 14. Juni 2023 wurde ausschliesslich von Frauen auf dieser Bank ausgerufen, der Wille zur Staatsgründung wurde im Innern dieser Kirche vor der Kanzel ausschliesslich von Männern ausgedrückt.
Nun los!

Stadtwanderer

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

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