Ochsentour, Teil 6: Stärken und Schwächen der Schweiz von 1848

Ochsenbeins Leben endete tragisch. An den Fall eines abgewählten Bundesrats hatte man im Voraus nicht gedacht. Ochsenbein verdingte sich zweimal als hoher Offizier in französischen Diensten. Ansonsten betätigte er sich als Schriftsteller. Mehrfach geriet er in einen Rechtshändel, und auch sein versuchter Wiedereinstieg in die bernischen Politik – nun als Konservativer – missriet. Zu allem Elend löste sich auch noch ein Schuss aus seiner Jagdflinte, die seine Frau tödlich traf. 1890 verstarb er vereinsamt.
Die Geschichtsschreibung hat Ochsenbein lange verdrängt. Eine Biografie von Rolf Holenstein, 2016 erschienen, hat ihn aus der Versenkung geholt. Sie ist bemüht, eine korrekte Erinnerung aufzubauen, die sowohl dem Erfinder der modernen Schweiz wie auch der umstrittenen Persönlichkeit gerecht wird.

Wofür steht 1848?
Man hat die 1848 geschaffene Demokratie lange verklärt. Sicher, man war auf dem Kontinent der Pionier, als es um eine moderne Republik ging, die auch Demokratie- und Föderalismusprinzipen berücksichtigte. Das kannte man in Europa nicht. Frankreich startete zwar gleichzeitig, bog aber nach wenigen Jahren wieder Richtung Monarchie ab. Von den anderen Nachbarn muss man hierzu gar nicht sprechen.
Der Bundesstaat ist auch die einzig bleibende revolutionäre Staatsgründung von 1848. Alle anderen scheiterten. Die Monarchen gewannen wieder politisches Terrain zurück und hielten sich meist bis zur Katastrophe am Ende des Ersten Weltkriegs.
Doch war die Demokratie von 1848 unvollständig. Sie entsprach dem Wunsch der Liberalen, die blockierenden Strukturen des Ancien Regimes zu überwinden, eine stabile Rechtsordnung auf übergeordneter Ebene zu schaffen und die wirtschaftliche Entwicklung in Gang zu bringen. In Anlehnung an den EWR von 1989 könnte man auch von einem SWR sprechen, einem schweizerischen Wirtschaftsraum, der 1848 ohne Zölle, mit einheitlicher Währung und wirtschaftlichen Freiheiten entstand.

Mängel von 1848
Eine liberale Demokratie im heutigen Sinne kannte man damals nicht. Es fehlte an gesicherten Grundrechten für alle, klarer Gewaltenteilung und Frauenwahlrecht.
Die Schweiz verstand sich als christlichen Staat und gewährte den Juden in der Schweiz keine Niederlassungsfreiheit. Es brauchte die energische Drohung eines Handelskriegs vor allem durch Frankreich und eine unplanmässige Verfassungsrevision, um hier Abhilfe zu schaffen.
Man schloss auch die Frauen von der Politik aus, denn das damalige Gesellschaftsbild basierte durchwegs auf der patriarchalen Familie, deren männlicher Haushaltsvorstand eine öffentliche Rolle spielen sollte, nicht aber seine Ehefrau.
Auch institutionell hatte die Bundesverfassung Mängel. So gab es 1848 noch kein ständiges Bundesgericht, nur eine ad hoc Schlichtungsstelle bei Streit zwischen Bund und Kantonen.
Aus heutiger Sicht fehlten auch die Volksrechte. Sie waren zwar mit der möglichen Totalrevision der Bundesverfassung kryptisch angelegt. Volksentscheidungen in Grundsatz- und Sachfragen kamen erst 1874 mit dem Gesetzesreferendum und 1891 mit der Verfassungsinitiative hinzu.
Damit hängt zusammen, dass man 1848 stark vom angelsächsisch geprägten Demokratiemodell der repräsentativen Demokratie ausging. Mehr- und Minderheiten hatten sich aus dem Bürgerkrieg ergeben. Doch der parteipolitische Regierungswechsel blieb ganz aus. Die Volksrechte verhinderten da ein zugespitzte Dramatik, waren aber keine vollwertiger Ersatz.
Auch avancierte man mit den festgelegten Amtszeiten für Regierung und Parlament nicht zu einer parlamentarischen Demokratie, wo die Regierung das Parlament und das Parlament der Regierung das Vertrauen entziehen kann.
Vielmehr brauchte es 1918 eine soziale Revolution, um die dauerhafte freisinnige Vorherrschaft im Bund zu beenden, damit auch den 1848er Staat zu transformieren.

Bilanz
Was bleibt? Kurzfristig war die Ueberwindung des Bürgerkriegs entscheidend, mittelfristig zählte der demokratische Lernprozess.
Volksrechte stabilisierten die neuen Institutionen. Sie zwangen zur Entwicklung von Verhandlungskulturen im Parlament. Und die Kollektivregierung förderte die Integration von ausgeschlossenen Gruppen.
Die Bundesverfassung von 1874 stärkte mit Gewaltenteilung, Judenrechten und Referendumsmöglichkeit die Demokratie mehr als die weltweit führende Demokratie. Ueberholt wurden wir dann 1893, als Neuseeland erstmals demokratische Wahlen, Volksrechte und politische Rechte einführte. Zum Paradoxen der Schweizer Demokratisierung gehört, dass wir beim Männerwahlrecht Pioniere, beim Frauenwahlrecht aber Nachzügler waren.

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

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