die burgunder- und die alemannenthese für die geschichte des schweizer raumes – und für meinen lebensraum

ende der serie: “burgund in bern”

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in den meisten schulbüchern geht die geschichte anders als in meinem blog. da kamen die alemannen in der silvesternacht des jahres 406/7 scharenweise über den zugefrorenen rhein. sie nutzen die machtschwäche roms, die durch den truppenabzug nördlich der alpen entstanden war. sie drangen das aaretal hinauf und schwärmten in die seitenarme aus. und bald war fast das ganze mittelland alemannisch, genauso wie es heute ist. eigentlich sind die alemannen die nachfolger der helvetier, zwischen denen die römer eine weile über die schweiz regierten. die alemannen aber gehörten nie zu einem königreich, waren immer frei und bildeten dann 1291 die eidgenossenschaft, zwischenzeitlich gut 700 jahre alt.

das ist die alemannenthese. in der neuen geschichtsschreibung der schweiz, wie sie von den spezialisten der spätantike und frühen neuzeit, etwa von professor reinhold keiser an der uni zürich oder dr. justin favrod von der uni lausanne vertreten wird, zeichnet für die das 5., 6. und 7. jahrhundert ein ganz andere bild. von diesem habe ich mich inspirieren lassen, als ich meine burgunderthese in den vorangegangenen blogbeiträgen entwickelt habe. hier nochmals die grundlegende argumentation.

die schwäche der alemannenthese

gegen die alemannenthese spricht vor allem die spätantike geschichtsschreibung. demnach waren die alemannen kein germanenvolk, das aus dem norden kam. vielmehr entstanden sie nach 260 aus der germanischen stämmen, die den zerfall des limes zwischen rhein und donau nutzten, um sich rechts des rheins, aber auf römischem gebiet niederzulassen. ihnen bot man einen föderatenvertrag an, der sie verpflichtete, den boden zu bebauen und militärdienste zu leisten. sie sollten die grenzen für die römer und gegen weitere germanen schützen.

das arrangement klappte bis etwa 350 gut. doch dann brachen alle schutzwälle, selbst wenn sie rhein hiessen. die alemannen drangen weit über die germania links des reihen in die belgica vor und bedrohten selbst die kaiserstadt trier. kaiser julian eilte in den norden, und er besiegte die alemannen 357 bei argentorate, dem heutigen strassburg. danach setzte man den föderatenvertrag aus und heuerte die burgunder, deren vorhut im main-gebiet lebten für den gleichen zweck an; weiter im norden übernahmen die franken diese aufgabe.

407, als die römer unter general stilicho ihre truppen in britannien und gallien nach süden beorderten, um die nach italien vordringenden westgoten aufzuhalten, nutzten verschiedene stämme das effektive machtvakuum: allen voran die vandalen, die sueben und die alanen, die tief ins gallische gebiet eindrangen und selbst nach spanien weiterwanderten. in ihrem gefolge setzten auch die erst burgunder über, um zwischen worms und strassburg rechts des rheins zu siedeln. von einer grossen einwanderung der alemannen ist indessen nirgends die rede. ihre lektion von strassburg wirkte noch nach, denn nach ihrer militärischen niederlage im jahre 357 verharrten sie in ihrem refugium rund um den schwarzwald.

die stärke der burgunderthese

es waren die burgunder, die 435 vor den hunnen, zwischenzeitlich mit den römern verbündet, auswichen. wiederum war trier das ziel der eindringlinge, das die römer nicht zuliessen. die militärisch besiegten burgunden wurden danach in die sapaudia verfrachtet und ebenfalls mit einem föderatenvertrag bedient. lange glaubte man, diese sapaudia sei das rhonetal nach genf gewesen. heute geht man eher davon aus, es sei die maxiama sequania gewesen, das gebiet der sequaner und helvetier mit den zentralen orten vesontio (das heutige besançon) und aventicum (das heutige avenches). archäologische funde, aber auch die schriftlichen berichte über die ausdehnung der burgunden sprechen für diese auffassung.

von hier aus dehnten sich die burgunden nach der schlacht auf den katalaunischen feldern, welche die römer gegen die nun verfeindeten hunnen schlugen, die aber zu destabilisierung des weströmischen kaiserreiches führte über genf hinaus aus und wurden nach 455 die herren nicht nur des aare-, saane- und broyetales, sondern auch des rhone-, saone- und doubstales. Hier hatte ihre spätere burgundia denn auch ihr zentrum, und hier regierten die burgundischen unterkönige in den spätantiken römerstädten.

die verbindung von germanischen burgunden, die nun sesshaft geworden waren, und der galloromanischen bevölkerung gelang der burgundern mit ihrer volksgesetzgebung unter könig gundobad. die christianisierung der burgundern, wie man sie jetzt nennen konnte, gelang unter könig sigismund, der mit st. maurice in agaunum das burgundische hauskloster nahe des genfersees schuf.

die nachfolger der keltischen helvetier, die romanisiert worden waren, sind die burgunden, die sich ebenfalls von der römischen kultur angezogen fühlten. die alamannen, die sich der gallorömischen kultur verschlossen, scheiden also aus!

militärisch waren die burgunder jedoch nur solange stark, als sie in der römischen armee auftreten und römische heere mit germanischen söldnern führen konnten. auf sich gestellt waren die burgunder jedoch zu schwach, sich vor allem gegen die mächtig ausgreifenden franken zu bestehen, weshalb sie den schutz zuerst der westgoten, dann der ostgoten suchten und fanden. nach dem tod ihres königs theoderich konnten sie dem fränkischen druck nicht mehr wiederstehen und wurden erobert.

die einheit des rhonetals mit seinen seitenarmen und des aaretales mit zuflüssen zerfiel jetzt allerdings. der arc lémanique, würde man heute sagen, blieb burgundisch und wurde von orléans aus fränkisch regiert, während das plateau davon abgetrennt zum fränkischen königreich kam, das in reims sein zentrum hatte. hier regierten die ripuarischen franken, das heisst die am wenigsten romanisierten, die unter könig theuderich I. vor allem die gebiete rechts des rheins erschliessen und neu ordnen wollten, um eine ausdehnung des oströmischen reiches zu verhindern.

der prägende konflikt zwischen burgundern und der alamannen

das ist der moment, indem die alamannen, die in der geschichtsschreibung häufiger alamannen genannt werden, wieder ins spiel kommen. vorher waren sie nie ein königreich gewesen; vielmehr kann man sie nach 496, als sie von den franken besiegt wurden, als fränkisches herzogtum ansprechen, wurden aber am oberrhein bald zu einem ostgotischen protektorat. jetzt, wo die goten vom oströmischen kaiser bekämpft wurden und die franken am nach osten ausgriffen, waren die alamannen unter ihren herzögen als teile der fränkischen eroberungszüge in italien willkommene, aber nicht durchschlagend erfolgreiche helfer.

es erscheint am plausibelsten, dass die alamannen zwischen 534 und 555 über den rhein drängten. sie waren ein teil der fränkischen expansion dieser zeit. sie siedelten sich unter anderem wieder dort an, wo sie 357 vertrieben worden waren, nämlich im heutigen elsass, und drangen auch das aaretal hinauf nach süden vor. wie weit sie dabei kamen, bleibt umstritten. in der regel geht man aber davon aus, dass mitte des 6. jahrhunderts im aaretal ein mischung der burgundischen und alamannischen bevölkerung entstand.

der sich anbahnenden kultur- und herrschaftskonflikt, den man 561 mit der aare als natürlicher grenze regeln wollte, wird im harmonisierenden schweizerischen geschichtsbewusstsein gerne, aber zu unrecht vergessen, denn er ist der ursprung der heute sprachregionalen gegensätze, die auch kulturunterschiede darstellen.

man kann das auch so sagen: am ende der völkerwanderungszeit waren burgunder, alamannen (und langobarden) im gebiet der heutigen schweiz, welche die galloromanischen und rätoromanischen überlagerten, aber in sehr unterschiedlichem masse in die vorherrschende kultur integriert waren. am wenigsten war das offensichtlich bei den alamannen der fall.

deshalb zerfallen die römischen zentren, die von den alamannen umgeben waren ganz. typisch hierfür ist vindonissa, das heutige windisch bei brugg, das 517 nachweislich noch burgundisch war, dann aber ganz abgeht. ganz so drastisch war die situation im westlichen plateau nicht, aventicum, das notdürftig gehalten wurde, blieb noch bestehen, doch verliess auch hier der bischof seinen angestammte sitz, um in lausanne – und dort auf den höchsten und damit sichersten hügel – ruhe vor dem sturm zu finden.

der fränkische bruderkrieg, der 561 zuerst im norden zwischen den königen in reims und tournai ausgebrochen war, fand nach 595, dem tod von könig childebert, seine fortsetzung am oberrhein. childbert hatte zu seinen lebzeiten bestimmt, dass sein beiden söhne, theuderich, in frankreich besser als könig thierry, und theudebert, in deutschland mehr als könig dietrich geläufig, die königreiche von austrien und burgund erhalten sollten, die sich wie neustrien als zuverlässige regionen nach dem zerfall der spätantiken strukturen erweisen hatten.

doch die grenzziehung zwischen beiden war nicht eindeutig, seit die alamannen den rhein überschritten hatten und im elsass und im aaretal siedelten. vereinfachend legte childebert den rhein als grenze fest, folgte damit wenigstens in der alten maxima sequania der alten grenze, täuschte sich wohl aber über den wandel der gesellschaft. thierry und dietrich mussten sich 610 im elsässischen seltz treffen, um die grenzstreitigkeiten zu bereinigen. dabei wurde thierry überrumpelt, denn die alamannen griffen im elsass und im aaretal flächendeckend an. Im aaretal dürften sie bei dieser gelegenheit die ansiedlung burgundischer bevölkerung mindestens bis über die saane nach westen verdrängt haben. Gesicherter orte der burgunder war jetzt aber nicht mehr das plateau, sondern der lausanne mit dem dortigen bischof.

die folgen für die schweizergeschichte

mit der burgunderthese bekommt die geschichte im gebiet der schweiz während der völkerwandung ein neues gepräge:

erstens, die alemannenthese, die ein unmittelbare nachfolge der germanischen alamannen auf die keltischen helvetier postuliert, muss zeitlich und örtlich revidiert werden. Im unteren aaretal dürfte die burgundische besiedlung nie bedeutsam gewesen sein; ihre herrschaft dürfte von der existenz von vindonissa abgehangen sein. das obere aaretal, samt dem saane- und broyetal dagegen dürfte mindestens auf der linken seite, das zum gebiet von aventicum zählte, bis zum weggang des dortigen bischofes primär burgundisch bevölkert gewesen sein. Die archäologie, aber auch die ortsnamenforschnung sprechen hierfür. hier folgten die alamannen den galloromanen und burgundern vor allem als plünderer, ohne dass sie je das gebiet beherrscht hätten. gerade für den raum der späteren stadt bern sind diese gewichtung nicht ohne bedeutung.

zweitens, für die schweizer raumgeschichte bedeutsam ist aber, dass die alamannen nicht ein freies volk waren, sondern untertanen der römer, der franken, der goten und wiederum der franken, mit denen sie sich selten auf längere zeit gut verstanden. sie liessen sich nach militärischen niederlagen einbinden, kannten aber kaum je stabile herrschaftsverhältnisse, die das hätten garantieren können. deshalb blieben die alamannen für wen auch immer unsichere kantonisten. das erschwerte es auch, sie zu christianisieren. der bischof in konstanz, um 600 eingesetzt, weil mainz zu weit weg war, um die alamannen zu bekehren, war nie eine autorität bei ihnen, und die mönchen, die man den alamannen bis mitte des 8. jahrhunderts schickte, wurden entweder erschlagen oder wanderten wieder aus. damit vertiefte sich der ethnische, kulturell und sprachliche graben zwischen den burgundern und alamannen, soweit, dass nur eine grenzraum zwischen ihnen, wohl zwischen aare und saane, und die strenge hand der karolinger über ihnen das zusammenleben nebeneinander sicherte.

dieses nebeneinander bewirkte aber auch andere entwicklungen, die sich im 9. jahrhundert, als die fränkische macht zerfiel zeigen sollten. das grosse thema dieser zeit, in der das königreich burgund von st. maurice, und das schwäbische herzogtum von chur aus wieder entstanden, war es, formen der friedlichen koexistenz der bauern- und kriegergesellschaften zu entwickeln, die sich nicht mehr verstanden. adelsheiraten, imperiale vorgaben, zähringischer strassen- und städtebau legte die grundlagen dazu, dass sich im 13. jahrhundert verschiedenste eidgenossenschaften als städte- oder landbünde entwickelten, die nach der grossen pest von 1350 zusammenschlossen und im sempacherbrief von 1393 nach der vertreibung der habsburger aus dem aaretal resp. im stanser verkommnis, das nach dem sieg über die letzten burgunder aus dijon geschlossen wurde, die grundlage für die schweiz legte, die sich 1495 von der reichsreform, 1648 von heiligen römischen reich deutscher nation und 1815 von frankreich emanzipierte, um 1848 zur schweizerischen eidgenossenschaft zu werden.

die schweizerische eidgenossenschaft hat die helvetischen wurzeln der schweiz in der eisenzeit wieder und die befreiungsgeschichte von habsburg in der nationalgeschichtsschreibung betont. mit ihr wurde die alemannengthese populär, in den 30er jahren des 20. jahrhunderts sogar doktrinär. letztmals aufgewärmt worden ist sie anfangs 2007 in der weltwoche, welche die schweizer geschichte kurz vor dem wahljahr neu ausrollen wollte.

die folgen für meinen lebensraum und meine lebenswelt

in der geschichtsschreibung seit johannes von müller, in der die brugunderthese immer eine grössere rolle gespielt hatte, sieht man das ganze in einem grösseren zusammenhang: demnach die schweiz nicht 1291 gegründet worden, sondern schrittweise entstanden, und erst 1648 selbständig resp. erst 1848 souverän geworden. vorher war sie aber ein bisweilen essentieller, bisweilen randständiger bestandteil des römischen, später des römisch-fränkischen und schliesslich des römisch-deutschen reiches. Und in diesem spielte burgund, das in der völkerwanderungszeit entstanden war, am ende des 9. jahrhundert wieder als selbständiges königreich entstehen sollte, nach 1034 als unselbständiges königreich letztlich bis 1378 bestand, und in der person von karl dem kühnen, 1475 wieder entstehen sollte, eine erhebliche rolle.

diese aufzuspüren als teil der herrschafts- kultur- und raumgeschichte meines lebensraumes, war der sinn der kleinen, ersten serie über burgund in bern, die hiermit vorläufig abgeschlossen wird.

stadtwanderer

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

6 Gedanken zu „die burgunder- und die alemannenthese für die geschichte des schweizer raumes – und für meinen lebensraum“

  1. hallo baba,
    so kann ich das nicht stehen lassen.
    darf ich dich bitte, dich zu artikulieren? – einen beitrag zur diskussion zu leisten?
    \\\"sch…\\\" ist, mit verlaub, kein argument!

  2. Ich frage mich echt, wieso solche Leute bloggen. Jemanden auf die Schippe nehmen ja, Kommentare in der Fäkaliensprache nein!

  3. Sehr ausführlicher Blog, leider sogar zu ausführlich für mich im Moment! Ich lerne zur Zeit für die Ortsnamengeschichte in der Schweiz und bin daher auf diese Seite gestossen, um Infos zur Burgunderthese zu sammeln.

    Zitat: \\\\\\\"Die archäologie, aber auch die ortsnamenforschnung sprechen hierfür.\\\\\\\" genau dieser Satz bringt die Frage auf den Punkt, was die sprachgeschichtliche Beweisführung angeht. Ich möchte daher den Autor Stadtwanderer fragen, auf welche Daten er sich hier bezieht? Denn die Ableitung der -ens Suffixe, resp. -enges Suffixe der Ortsnamen wird z.B. bei Zinsli, der zugegebenermassen auch schon älter ist, in Frage gestellt, resp. nicht direkt unterstützt! (Doch leuchtet mir persönlich die Argumentation der Burgunderthese durchaus ein, zumal wie richtig erwähnt wurde eine spezifische Häufung dieser Endungen im burgundischen Raum finden kann, welche analog zu einer alemannischen Besiedlung sicher als solche angesehen werden könnte.)

    Archeologische Daten kenne ich keine expliziten, welche die Burgunderthese stützen, mein Fachgebiet beschränkt sich leider nur auf die Sprache.

    Für eine (auf)klärende Antwort auf phippe@hotmail.com herzlichen Dank im Voraus!!

  4. Hallo lieber Stadtwanderer,
    finde es sehr erfreulich, dass man/Du sich/dir die Mühe mach(s)t und die Geschichte der Burgunder in der Schweiz beleuchte(s)t und dabei die Vorgeschichte dieses Stammes stationsmäßig skizzier(s)t. Ich erforsche derzeit die Ortsnamen in Ober- und Unterfranken (liegt in Nordbayern und ist bajuwarisches Beutegut von Napoleons Gnaden :-)). Derzeit kann ich ca. 100 Ortsnamen burgundischer Herkunft in besagter Region ausmachen. Es sind die Reste jener rechtsrheinischen Burgunder, die Sokrates Scholastikos um 430 beschreibt, wie sich sich einer hunnischen Streitmacht von 10000 Krieger mit Erfolg erwehren konnten. Burgundische Ortsnamen beschreibt ja bereits Gamillscheg in seinem grundlegenden Werk über die Burgunder für dein Heimatland und Burgund. Auch im Wormser Gebiet und im Elsass lassen sich Spuren der Burgunder im Ortsnamenschatz nachweisen. Nächstes Jahr werde ich ein Büchlein über das Erbe der Burgunder in Franken verfassen. Bei Interesse kann ich gerne ein Exemplar zuschicken.
    Mit herzlichen Grüßen und den besten Wünschen aus Bamberg
    Joachim

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