geteilte zivilgesellschaft

sie war der star des tages: die deutsche bundesministerin ursula von der leyen. ärztin ist sie. sechsfache mutter ist sie auch. und familienministerin der gegenwärtigen regierung unseres nördlichen nachbar ist sie zudem. und sie hielt ein brillantes referat vor dem verein zivilgesellschaft.


bundesministerin für familien ursula von der leyen, die beim verein zivilgesellschaft eine brilliante rede hielt

deutsche familienministerin

an der tagung „jugend“ setzt die deutsche eher vorsichtig zu ihrem referat an, um den bezug zum publikum zu finden. Doch dann kommt sie bei ihrem eigentlichen thema mächtig in fahrt: die familienpolitik in der spätmodernen gesellschaft handelt sie brilliant ab. sie sprüht förmlich vor energie. die fliesst in jede ihrer gesten, und die untersützen wiederum ihre mimik. das ist wichtig, denn die grossleinwand hinter ihr schafft transparenz für alle zu allem, was die politikerin macht. Da vergisst man fast das überzeugende wort, obwohl auch dieses rhetorisch perfekt geschliffen sitzt.

sie führt das referat von der ausgangslage zu verantwortung und verwahrlosung durch die heutige familie, zu den befunden zur chancengleichheit und wahlfreiheit und schliesslich zu den massnahmen in deutschland. sie weiss um die nachteile, die bei fehlender familienstützung und später einschulung für die kinder und jugendlichen entstehen. ihre pointe ist: die bildungsrevolution seit den 70er jahren hat die werte der nachfolgenden eltern verändert, vor allem der frauen. jetzt gilt es, den veränderten werthaltungen rechnung zu tragen: arbeit, karriere und kindererziehung sollen für frau und mann in einklang gebracht werden. und da sei der staat gefordert.

geteilte reaktionen

in berlin vertritt ursula von der leyen die farben der schwarzen. während ihres fulminanten auftrittes auf dem ermatinger wolfsberg ist sie in zweigeteiltem blau gekleidet. doch angesichts ihre schlussfolgerung sehen einige der älteren semester in der mehrheitlichen männerrunde, die tito tettamanti versammelt hat, ganz einfach rot.

die jüngeren an der tagung „jugend“ haben ihre freude. den meisten unter ihnen spricht die deutsche familienministerin ganz einfach aus dem alltag und mitten ins herz. denn sie haben in ihren arbeitsgruppen über die heutige jugend zwischen 15 und 30 diskutiert.

sie haben vor und nach dem referat ihre alltagserfahrungen eingebracht. ihre lebensumstände in der heutigen gesellschaft kamen zur sprache. erziehung und bildung wurden debattiert. die berufsaussichten hat man ausgelotet. werte und vorbilder wurden einer kritischen würdigung unterzogen. selbst die gewaltbereitschaft hat man diagnostiziert, und die integrationsbereitschaft war ein spezielles workshop-thema.

liberale generationenmissverständnisse

ich bin in der gruppe über werte und vorbilder. die diskussion ist durch viele missverständnisse gekennzeichnet: da werden tugenden mit werten verwechselt. da argumentiert man, wie es sein sollte, nicht wie es ist. da spricht man von seinen erfahrungen als vater anstatt dass man die eigene tochter mitgebracht und auch hätte reden lassen. die anwenden jugendlichen repräsentieren vor allem die jugendorganisationen. doch der dialog unter den generationen, welche die 30jährige nationalrätin pascale bruderer zuleiten sucht, will nicht recht zustande kommen. symptomatisch hierfür:

ein gestandener fdp-politiker, jahrgang 1937, fragt einen jugendlich provokativ: ist die freiheit die mutter oder die tochter der verantwortung?
der antwortet nicht unüberlegt, und sagt mit überzeugung: die mutter!
sein gegenpart ist entsetzt, er repliziert wie aus der kanone geschossen: dann sind sie ein anarchist!
der wiederum zuckt schockiert zusammen. beim nachtessen offenbart mir der vertreter der generation, die in den 1980er geboren wurde, asiatischer abstimmung zu sein, an der hsg zu studieren und ein jung-liberaler zu sein.

ich denke mir, es war ein typisches gespräch für den dialog in der zerfallenden familie des freisinns, denn die konzepte der selbstverantwortung und der selbstverwirklichung, wie sie die verschiendene generationen vestanden, prallen unvermittelt, ja schon fast gereizt aufeinander.

gerne hätte ich das beim nachtessen mit roger köppel und markus somm, den führenden weltwöcheler, vertieft. sie hatten sich 2006 gegen jede form der neu finanzierung von familien stark gemacht, und waren damit in der volksabstimmung hochkant unterlegen. eigentlich wären beide an meinem tisch gesessen. doch sind sie nicht gekommen. gastgeber tettamanti, ihr grosszüger “chef”, entschuldigte sie ausdrücklich bei unserem tafelamjor andre daguet.

politischer small-talk

ja, auch über die hohe politik wird auf dem wolfsberg gesprochen. aber nur beim small-talk. „Wie geht es weiter mit dem bundesrat?“, ist die meist gestellte frage. programme haben vor allem die think-tanker von avenir suisse in der wettbewerbsorientierten seitentasche. Die familientasche ist auch bei ihnen leer.

auf dem wolfsberg bilden sie nur eine minderheit unter den tagungsgästen. die mehrheit redet lieber konkordanzkonform über rücktritte. „couchepin in eineinhalb jahren“, ist die häufigste schätzung. wer einen drauf setzt, spekuliert auch gleich über den rücktritt von merz auf ende 2009. „das ist auch der horizont für leuenberger“, äussern die misten. zu schmid schweigen sie überweigend. ein koordinierter dreier oder vierer-wechsel, sind alle überzeugt, hätte vorteile. die parameter der zusammensetzung des bundesrats liessen sich so neu bestimmen:

felix gutzwiller könnte als zürcher den ausserrhödler hans-rudolf merz ersetzen. ein welscher fdp-ler oder auch ein cvp-ler aus der romandie würde für couchepin bunderat werden können. und hilde fässler, die abgetretene sp-fraktionspräsidentin, könnte moritz leuenberger ablösen. das sind, kurz gesagt, die wettsieger des abends.

von den grünen im bundesrat sprechen nur wenige politschwergewichte. dafür reden aber unternehmer, die in ihren projekten, in ihrer firma oekologie und oekonomie schon längst auf der basis der vorherrschenden wirtschaftssystems versöhnt haben, umso lieber hierzu. sie wünschen sich ganz generell eine stärkung der ökoliberalen, diener hin oder her.

schweizer familienrealitäten

die sympathischste diskussion des tages habe ich mit einer unkonventionellen investorin. unternehmerin will carolina müller-mohl nicht bezeichnet werden. die taffe dame ist die erbin ihres früh verstorbenen mannes, die sich entschieden hat, sein werk konsequent fortzusetzen: sie ist jung. sie ist mutter. und sie erzieht ihr kind alleine. dabei zählt sie auf die unterstützung zahlreicher „tanten“. sie schaut, dass sie gut gebildet sind, aus der ganzen welt kommen, und ihr helfen, ihr kind glücklich zu erziehen. sie weiss, dass sie privilegiert ist. doch genau deshalb ist sie bereit zu kämpfen. für frauen in ihrer lebenssituation. für die integration der menschen in einer gesellschaft, in der multikulturalität ein faktum ist. und für toleranz.

die selbstbewusste investorin in die kommende wirtschaft und gesellschaft merkt, dass sie damit anstösst. häufig sei in gesellschaften die einzige ihrer generation, die einzige frau, und die einzige, die ein anderes familienmodell propagiere, meint sie, als sie mit mir anstösst.

ich spüre, dass die gelernte politologin mit einem studium an der fu berlin mit den schweizer familienpolitikrealitäten etwas hadert. aber ich merke auch die neue kraft, die von ihr, nicht von der grossväter-generation in der heutigen zivilgesellschaft ausgeht. diese ist geteilt, nicht vereint. und unverändert lebendig.

stadtwanderer

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

6 Gedanken zu „geteilte zivilgesellschaft“

  1. Danke, Stadtwanderer, für den illustrativen Bericht. Die Worte zum Generationenkonflikt in der Schweiz könnten noch deutlicher ausfallen. Denn die Gegensätze sind stark. Die ältere, nicht die älteste Generation von heute war ein grosser Profiteur und macht einen auf totale Besitzstandwahrung. Dass die jüngeren Menschen dabei vor die Hunde gehen, ist ihnen gleich!

  2. huch, das urteil ist hart. ist da wirklich ausbeutung im spiel? – das setzt doch den individuellen willen zur ausnützung vor.
    aus meiner sicht ist es eher so: die umverteilungsmechanismen begünstigen gewissen schichten von einkommen, alter und geschlecht. das funktioniert,auch wenn der einzelne das gar nicht so will.
    das scheint mir doch ein unterschied zu sein!

  3. Danke für den spannenden Beitrag. Nimmt mich noch wunder, wie viele Frauen unter all den Anwesenden Professoren, Politikern und Journalisten waren.
    Wäre schön, hätte die Schweiz auch eine Ursula von der Leyen hätte. Frage mich aber, in wie fern \\\"die werte der nachfolgenden eltern, vor allem der Frauen\\\" in der Schweiz tatsächlich verändert sind. Kinder haben ist auch hier wundervoll, aber wohl weniger leicht als anderswo, zumindest, wenn die eigenen Werte im Gegensatz zu jenen der Gesellschaft eben verändert sind.

  4. ja, die frage ist berechtigt!
    meine einschätzung: je jünger desto ausgeglichener. je älter desto einseitiger zugunsten der männer.
    doch auch an dieser tagung merkte man: das neue kommt, das alte verschwindet.
    die institutionen werden sicher noch durch das alte wertmuster bestimmt. doch auch sie sind langsam im umbruch.
    vielleicht ist gerade das auch ein grund für das gespaltene verhältnis zwischen den generationen der schweizerischen zivilgesellschaft.

  5. nochmals @ bianca

    wenn du mal magst, liess folgendes, von der pro senectute herausgegebenes buch:

    kurt seifert: verstehen, wer wir sind. streifzug durch die schweizer sozialgeschichte, zürich 2007

    das buch hat 2 teile: im zweiten werden 10 porträts von menschen gezeichnet, die im 20. jahrhundert gelebt haben. doch das ist nicht das wichtigste am buch. das findet sich nämlich im 1. teil. der versucht, eben dieses 20. jahrhundert so gerafft zusammenzufassen, dass man die lebensstationen der porträitierten einordnen – oder eben verstehen ! – kann. stationen dieser sozialgeschichte sind 1918 (bürgerkrieg), 1925 (schweizervolk), 1932 (politische pattsituation), 1939 (landgeist), 1946 (nachkriegstrauma), 1956 (begrenzte befreiung), 1964 (weltoffenheit), 1971 (kleine schritte der veränderung), 1980 (bewegung), 1989 (epochenwandel) und 1991 (ende des sonderfalldenkens).
    ich jedenfalls fand die letzten 5 kapitel erhellend, um mir wieder bewusst zu werden, wie sie die lebensbedingungen der menschen in den letzten 50 jahren, in denen ich gelebt habe, verändert haben.
    bei aller resitanz der tradition in der schweiz überwiegt da bei mir der eindruck des wandels, der modernisierung.

    vielleicht, und das macht ja auch die schweiz aus, gibt es dabei typische regionale unterschiede struktureller und kultureller art. dass sich der wandel räumich ungleich ausbreitet, ist gegenstand eine monumentalen zusammenfassung der schweizer statistik der gegenwart, welche das bfs jüngste geleistet hat. konsultiere hierzu:

    martin schuler et. al.: atlas des räumlichen wandels in der schweiz, bfs, zürich 2007.

    das steht sicher in \"deiner\" bibliothek!

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