russland : schweiz – was nur sage ich meinen journalisten auf der morgigen stadtwanderung?

morgen habe ich eine kleine stadtwanderung durch bern. für russische journalistInnen. das ist eine herausforderung, – und eine chance: zum beispiel, um über demokratie zu reden, und meinen gästen auf dem stadtwanderer etwas über russland zu erzählen.

ich bin froh, muss ich das alles nicht auf russisch machen; da würde ich glatt versagen. aber ich muss wenigstens ein wenig auf russisch denken können, um die schweizerische denkweise zu spiegeln.
ich werde morgen, wie gewohnt, beim gerechtigkeitsbrunnen beginnen. aber ich werde eine spezielle einleitung machen für meine gäste. zu staats- und regierungsformen nämlich.

die lehre der staats- und herrschaftsformen in der antike, im mittelalter und in der neuzeit

aristoteles, der als erster theoretiker verfassungen von staaten miteinander verglich, unterschied im 4. jahrhundert vor der zeit die herrschaft des einzelnen, der wenigen und der vielen. wenn sie das zum wohle aller machten, sprach er von monarchie, von aristokratie und von politie. war die herrschaft nur zum wohle der herrschenden, nannte es das tyrannis, oligarchie und ochlokratie. vereinfachend gesagt sah er in persien die herrschaft des einzelnen, in rom der wenigen und in den griechischen stadtstaaten der vielen verwirklicht.
mit der entstehung des römischen kaiserreiches unter augustus kurz vor der zeit, vor allem aber unter diokletian am ende des 3. jahrhunderts verengte sich die optik: man kannte nur noch die herrschaft des monarchen, des kaisers, zu dem, mit der anerkennung des christentums als staatsreligion im jahre 391, auch der papst aufstieg, und bei den christianisierten germanen nach der völkerwanderung auch der könig hinzu kam. das galt für das ganze mittelalter, in dem der bezug zum unter gegangenen und wiederauferstandenen römischen reich wach blieb.
erst mit der renaissance und dem politischen denken der neuzeit öffnete sich im 16. jahrhundert die perspektive wieder: neben die monarchie als erbin des mittelalters, trat bei niccolo machiavelli die republik als fortsetzung der antike in der gegenwart. beides waren nun die anerkannten, möglichen staatsformen, in denen der flächenstaat der moderne organisiert werden konnte. die monarchie war unverändert das kaiserreich, das heilige römische reich deutscher nation, konkurrenziert durch das russische zarenreich resp. das osmanische reich, ergänzt durch die königreiche in frankreich, england, spanien, portugal, dänemark, schweden, polen, ungarn, und die republiken fanden sich vor allem in den italienischen stadtstaaten, allen voran in venedig.
mit dem modernen staatsverständnis unterschied man aber stärker zwischen staat und herrschaft. das eine ist die form des verbandes, der seine mitglieder von denen anderer verbände trennt; das andere ergibt sich aus der gesellschaftlichen konstellation. so waren der kaiser sein reich nicht mehr eins. dieses existierte, auch wenn es keinen kaiser gab.
im zeitalter der aufklärung und der revolutionen, dem 18. und 19. jahrhundert, unterschied man deshalb, von wem die herrschaft ausgeht: von adeligen, wie in den monarchien, von priestern wie in den theokratien, und vom volk, wie in den demokratien. vor dem siegeszug der demokratischen herrschaft trennte man noch klar zwischen demokratie und diktatur als herrschaftsform, die nicht auf der wahln von regierung und/oder parlament beruht. bis heute spricht die politikwissenschaft deshalb von monarchien und republiken, von demokratien und diktaturen.


generelle erläuterungen: http://de.wikipedia.org/wiki/Regierungssystem
notiz: die schweiz kennt mit der direkten demokratie eine herrschaftsform, die in dieser (deutschen) klassifikation leider nicht weiter ausgeführt wird.

die regierungssysteme der gegenwart

die gegenwärtige politikwissenschaft geht noch etwas weiter. sie fragt auch, wie die spitze im staat organisiert ist. dafür verwendet sie normalerweise den begriff des regierungssystems. republiken zerfallen dann in staaten mit einem präsidentiellen oder parlamentarischen, neuerdings auch semipräsidentiellen regierungssystem. im ersten fall wird der präsident speziell gewählt, im zweiten fall nur das parlament. wenn der staats- und der regierungspräsident getrennte ämter sind, und der regierungspräsident sowohl vom präsidenten als auch vom parlament abhängig ist, spricht man von einem halb- oder semipräsidentiellen regierungssystem. bei den monarchien wiederum unterscheidet man zwischen absoluten, verfassungsmässigen oder konstitutionellen und parlamentarischen monarchien, je nachdem in welchem masse die herrschaft von einer oder mehreren quellen ausgeht.

russland und die schweiz im vergleich

was nun ist russland für ein staat, für ein regierungssystem?
zunächst ist die staatsform republikanisch. die herrschaftsform ist seit der verfassung von 1993 demokratisch. das regierungssystem ist halbpräsidenziell. der regierungschef untersteht dem staatspräsidenten, und er muss vom parlament bestätigt werden resp. ist diesem gegenüber rechenschaft schuldig. gegen diese charakterisierung gibt es recht breite kritik, denn die macht des präsidenten ist gross: er kann den regierungschef entlassen und das parlament auflösen. zudem wählt er die gouverneure, die im russischen föderationsrat (oberhaus) die hälfte der stimmen ausmachen und die duma, die russische volksvertretung (unterhaus), kontrollieren. schliesslich zeichnen sich zahlreiche russische medien durch eine ausgesprochene abhängigkeit vom staat ab, sodass man auch von einer gelenkten demokratie spricht.

und was ist die schweiz für ein politisches system, das ich meinen russischen journalistInnen erklären soll?
selbst wenn der begriff in der schweiz unüblich geworden ist, ist die schweiz von der staatsform her eine republik, genau genommen sogar eine bundesrepublik. die herrschaftsform ist ohne zweifel demokratisch. in den kantonen ist sie mit der direktwahl von parlament und regierung durch das volk sowohl parlamentarisch wie auch präsidentiell. auf der bundesebene ist sie parlamentarisch. – diese charakterisierung stimmte 1848. doch schon 1874 entwickelte sich die parlamentarische demokratie in der schweizerischen bundesrepublik weiter. in den kantonen war das teilweise seit der liberalen bewegung von 1830 der fall. die confoederatio helvetica, die schweizerische eidgenossenschaft, ihrerseits erweitere die volksherrschaft mit den bekannten volksrechten: das verfassungsreferendum, das zuerst nur totalrevisionen zuliess, wurde jezt zum obligatorischen verfassungsreferendum für partialrevisionen und erhielt mit dem fakultativen referendum auch die möglichkeit, über gesetze, die das parlament erlässt, nachträglich eine volksabstimmung durchzuführen. 1891 kam zudem die verfassungsinitiative hinzu, mit dem das stimmberechtigte volk selber verfassungsvorschläge machen kann. im 20 jahrhundert wurden diesen zentralen volksrechte erweitert (zum beispiel auf staatsverträge), verfeinert (zum beispiel beim dringlichkeitsrecht) und die nutzung wurde intensiver.
politikwissenschaftlich spricht man deshalb am besten von einer halbdirekten demokratischen herrschaftsform, im schweizerischen selbstverständnis von einer direkten demokratie, innerhalb des bundesstaates der schweizerischen eidgenossenschaft. damit ist sie einzigartig, – und genau das verschafft mir die ehre, morgen interessierte, russische journalistInnen durch bern führen zu dürften.

bilanz und fragen

wenn ich das morgen nur so schnell vor dem gerechtigkeitsbrunnen hinkriege, das es alle verstehen und behalten können! werde heute abend noch ein wenig üben … und mir noch gedanken machen, ob die einteilung vollständig ist: zwei mängel entdecke ich beim schreiben: das verhältnis von staat, parteien und medien wird zu wenig beleuchtet, gehört aber zum regierungssystem; und die politische kultur kommt zu kurz. doch gerade sie, in der orientierung der demokratie an konkurrenz oder konkordanz interessiert mich morgen wiederum ganz speziell.

der stadtwanderer

man sehe sich auch den nachstehnden kommentar von krusenstern an!

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

6 Gedanken zu „russland : schweiz – was nur sage ich meinen journalisten auf der morgigen stadtwanderung?“

  1. "Eigentlich möchte man die Gesichter der russischen Journalisten sehen – und ihre Gedanken hören können – wenn ihnen der brillante Erzähler Claude Longchamp vor dem Gerechtigkeitsbrunnen in Bern die schweizerische “Horizontale der Macht” erklärt (in Anspielung auf die russische “Vertikale der Macht” von Wladimir Putin)."

    (Zitat aus http://www.krusenstern.ch/?p=1248)

  2. ja, musste heute morgen auch schon an sie denken! das bild ist gut, ich werde es sicher verwenden. wohl aber eher in der synthese (zu den unterschieden).
    noch was: gibt es eine einfache und übersichtliche analyse zu
    medien und politik in russland? ich habe da gestern nichts gefunden, das mich erhellt hätte!

  3. 29. Februar 2008, 04:00 Uhr Von Florian Stark

    Russische Behörden schließen Europa-Institut in St. Petersburg

    Die private Universität war zu unbequem
    Über dem Türschloss hat das Gericht ein Siegel anbringen lassen: Eintritt verboten wegen mangelnder Brandsicherheit. So hatte es die Brandschutzbehörde beantragt, so hat der Richter entschieden. Das Europäische Hochschulinstitut in St. Petersburg, durch die Stadt, russische und westliche Stiftungen finanziert, ist in akuter Existenznot.Es hat den Studenten und ihren Professoren nichts genützt, dass das Institut durch den ersten demokratisch gewählten Bürgermeister von St. Petersburg 1994 ins Leben gerufen worden war, den legendären Staatsrechtsprofessor Anatolij Sobtchak. Es hat auch nichts genützt, dass der noch amtierende Präsident, Vladimir Putin, damals für Sobtchak arbeitete, nicht anders als der von ihm vorgesehene Nachfolger Dmitrij Medvedev. Vergeblich waren auch die Protestpetitionen, unterschrieben von mehr als 5000 Wissenschaftlern aus aller Welt.Jetzt kommt die Nachricht, dass nicht nur der "Kleine Marmorpalast" geschlossen bleibt, sondern dazu dem Hochschulinstitut auch noch die Lehrerlaubnis entzogen wird. Dass es mit der Lehre im dennoch weitergeht, ist nur eine Hoffnung. Für die Forschungsinsitute an der Universität bedeutet dies zunächst Unsicherheit in Forschung und Finanzierung.Nach der Schließung der Häuser des British Council in St. Petersburg und in Jekaterinburg, die den Unmut des Kreml über Großbritannien und seine Kulturpolitik zum Ausdruck brachte, wird nun an dem Europäischen Hochschulinstitut in St. Petersburg ein Exempel statuiert. Für das Prozedere bedarf es dabei nur geringer Fantasie: Auch über das Gebäude des British Council machte sich der Brandschutz Sorgen.Die Beamten kamen Anfang des Jahres plötzlich zu Inspektionen. Dann folgte die Anhörung vor Gericht, und obwohl seitdem alles Menschenmögliche getan wurde, um die Beschwerdepunkte zu beseitigen und die Schäden zu beheben, entschied der Richter in 20 Minuten, die Tätigkeit der Universität vorerst einzustellen. Am 18. Februar dann das endgültige Aus: "Die Geschwindigkeit, mit der die Brandschutzkommission gearbeitet hat, kam für mich überraschend" – sagt Rektor Nicolai Vachtin. Anfangs hatte er noch versucht, jede politische Motivation herunterzuspielen und so zu tun, als sei alles normal: "Die provisorische Einstellung der Tätigkeit der Universität hat keine politische Motivation."Mit solchen Begründungen lässt sich nahezu jedes Gebäude im alten St. Petersburg schließen. Die Historische und die Philosophische Fakultät der Staatlichen Universität St. Petersburg erlebten mehrfach Brände – aber niemand dachte daran, sie dauerhaft zu schließen. Es ging auch gar nicht um das Gebäude der Europäischen Universität, das noch aus dem 19. Jahrhundert stammt. Die Brandschutzdefizite, die geltend gemacht wurden, sind durch die Bauweise des Gebäudes bedingt, so die breiten Holztreppen, die Vertäfelungen, die Türen und Fenster.Aber es ging gar nicht um die Technik oder die Denkmalpflege, sondern um Russlands Öffnung zur Außenwelt. Davor wollen die Behörden die russische Seele bewahren.Denn die Universität hatte in den Augen der Behörden einen großen Fehler begangen. Sie hatte die Wahlen zur Duma am 2. Dezember 2007 sowie die Wahl zum Staatspräsidenten am kommenden Sonntag ernst genommen und dafür bei der Europäischen Union in Brüssel ein Forschungsprojekt zu Theorie und Praxis von Wahlen beantragt. Dem war stattgegeben worden. Ein Dreijahresprojekt wurde von Brüssel bewilligt mit einer Förderungssumme von 637 000 Euro, für Lehre, Forschung sowie für die Veröffentlichung der Ergebnisse.Sogleich schöpften Politiker Verdacht, es solle ihnen auf die Finger gesehen werden; die Wissenschaft sei nur ein Vorwand. Der Abge-ordnete G. Safara-liev, Mitglied der Kreml-Partei "Einiges Russland", donnerte, es handele sich um "direk-te Einmischung der Europäischen Kommission in den Wahlprozess in Russland".Die Universität versicherte in aller Unschuld, sie wolle mit dem Projekt nur helfen, die Organisation der Wahlen auf internationales Niveau zu heben. Wahlbeobachter sollten besser ausgebildet werden und Kandidaten juristische Unterstützung erhalten. Außerdem sollten die Wahlen besser in den Medien begleitet werden, und im Ergebnis sollte mehr Transparenz entstehen. Es ging schlicht und einfach darum, die politische Wissenschaft aus dem Elfenbeinturm in die Wirklichkeit zu führen.Doch was im Westen jeden Tag geschieht, war für Putins Russland zuviel. Schon im August 2007 musste die Wahlforschung eingestellt werden. Das städtische Komitee für Bildung und Kultur stellte fest, dass das Europäische Hochschulinstitut "keine entsprechende Lizenz für ein Bildungsprogramm mit dem Ausland hat".Damit ist ernsthafte, international vergleichbare Politikforschung erst einmal gestorben. Und die Sozialwissenschaftler des Landes sind gewarnt: Das kritische Studium der Macht und ihren Mysterien ist unerwünscht und gefährlich. Auf Geld von der EU, hieß es darüber hinaus, sollte man besser verzichten.Die Europäische Universität ist eine der wenigen Hochschulen Russlands, die international anerkannt ist, wegen ihrer Veröffentlichungen, Projekte, Kontakte sowie ihrer bekannten internationalen Sommerseminare. Die private Universität nimmt einen wichtigen Platz im wissenschaftlichen Netzwerk Russlands an. Ihre Schließung dürfte für die Geistes- und Sozialwissenschaften des Landes gravierende Folgen haben.

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