wenn das selbstverständliche fragwürdig wird

meine russischen journalistInnen auf der heutigen stadtwanderung waren während der stadtwanderung durch bern an sehr vielem interessiert. anders als ich dachte, bewegte sie die demokratiefrage aber nicht gleich stark wie uns. vielmehr fragten sie mich eindringlich, warum die einkaufsläden in der schweiz so früh schliessen würden?


Schaufenster “Why not?”: Warum nur haben die Läden in der Schweiz nicht länger offen, interessierte meine Gäste aus Moskau während der Stadtwanderung durch Bern brennend (foto: stadtwanderer)

warum nur machen die geschäfte in der schweiz so schnell zu?

ja, warum eigentlich? – “aus schutz vor übermässigen arbeitszeiten der angestellten”, kommt mir spontan in den sinn. solange gewerbebetriebe, geführt von den familienmitgliedern der geschäftsinhaber, leisteten, seien ladenöffnungszeiten kein grosses thema gewesen, führe ich aus. mit der ausdehnung der zahl angestellter in verkaufsläden, stieg jedoch das bedürfnis, die arbeits- und damit die ladenöffnungszeiten allgemein verbindlich zu regeln. um dem städtischen leben eine einheitliche fassung, habe man die zeiten für offene läden auf den tag, und diese auf die werkttage beschränkt. normal sei heute von 9 bis 1830, am samstag bis 16 uhr.

ich merke, meine antwort befriedigt nicht. einer der journalisten kratzt sein ganzes englisch zusammen, um mir unvermittelt durch die russisch-schweizerische dolmetscherin direkt eine frage zu stellen: “how the business works?”, will er wissen, und er fügt bei, in moskau hätten die läden bis 10 uhr nachts offen. so funktioniere das geschäft!

also versuche ich es nochmals: bern sei eben keine grossstadt, habe 130’000 einwohnerInnen. sie sei eine der typischen europäischen städte, die im mittelalter begründet worden seien, und mit der industrialisierung ihren charakter etwas geändert hätten. bern sei aber nie zu einer metropole aufgestiegen. für die meisten anderen schweizer städte, vielleicht mit ausnahme von zürich und genf, gelte das auch. da dominiere halt nicht das grossstädtische leben!

verlängerte ladenöffnungszeiten seien zwar in den letzten 10 bis 15 jahren reihum in schwang gekommen, füge ich bei. man könne heute fast überall einen abend in der woche länger einkaufen, in den zentren häufig am donnerstag, auf dem land nicht selten am freitag. und auch der samstag sei ein fast normaler einkaufstag geworden. am sonntag frei gegeben seien die ladenöffnungszeiten jedoch nur an dichten verkehrsknotenpunkten wie flughäfen und bahnhöfen.

kleinst mögliche mehrheiten für kleinst mögliche veränderungen

ich kapituliere, denn ich sehe es meinen gästen ins gesicht geschrieben: ich habe soeben mit grossem erfolg die schweiz als provinz verkauft! wenn präsenz schweiz das erfährt!

also versuche ich zu retten, was zu retten ist: 2005 gab es eine der vielen volksabstimmungen zu den ladenöffnungszeiten gegeben. sie sollten an bahnhöfen auch für waren, die sich an nicht-reisende richten, erweitert werden. damit habe man versucht, sich den veränderungen der lebensgewohnheiten anzupassen: dienstleistungen, die nicht mehr wie im industriezeitalter auf den 8-stunden-arbeitstag beschränkt werden können, eltern die beide arbeiten würden, und spontanentscheidungen junger menschen hätten die nachfrage nach erweiterten arbeitszeiten auch hierzulande verändert. wie vorher begründet, seien jedoch die gewerkschaften dagegen gewesen. sie hätten sich gewehrt, denn die eingeschränkten ladenöffnungszeiten seien als zeichen des sozialen fortschritts verstanden worden, den man nicht leichtfertig aufgeben wollte. und sie hätte im sozialkonservativen umfeld unterstützung erhalten. auch bei leuten, die denken, es ist gut, wenn die arbeitnehmer nach der arbeit zu ihren familien schauen.

die volksabstimmung ist schliesslich denkbar knapp ausgegangen, fasse ich unseren kleinst möglichen modernisierungsschritt in dieser frage zusammen: 50 prozent und einige promille der stimmenden hätten für die liberalisierung gestimmt, fast ebenso viele seien dagegen gewesen. dafür seien vor allem die grösseren städte gewesen; kantone wie zürich, basel, bern, und genf seien auf der ja-seite gestanden. genauer kenne ich die detailergebnisse nicht mehr. ich weiss aber noch, dass die zustimmung auf dem land generell geringer war, und in der französischsprachigen schweiz, meist als weltoffener teil der schweiz trendangebend, häufig aber auch links gerichteter als die gesamte schweiz, ebenso.

und dann: für die heute zugelassenen freien ladenöffnungszeiten am sonntag in den verkehrsknoten seien namentlich die pendler gewesen, auch die jüngere bevölkerung denkt so, füge ich noch bei. die sesshaften, die nicht-erwerbstätigen und die älteren hätte mit der neuerung des urbanen lebens kaum etwas anfangen können, hätten sich aber nicht mehr durchgesetzt.

ich bin stolz, einen wichtigen punkt getroffen zu haben: die schweiz stehe nicht still, sei aber allem extremem skeptisch gegenüber!

mit den augen der fremden das eigene sehen lernen

ich gestehe, auf diese frage war ich so nicht vorbereitet gewesen. aber so ist es, wenn sich kulturen begegnen: man staunt über das, was einem so selbstverständlich ist und andere so frappiert. was meine augen nicht mehr aufmerksam sehen, lernt man mit fremden wieder entdecken. das macht das stadtwandern interessant.

und ich durchschaue mich und die situation selber: ich wäre heute besser darauf eingestellt gewesen, über die demokratiedefizite bei den russischen präsidentschaftswahlen zu reden. doch meine gäste interessierte, warum das provinzielle leben in der schweiz so viele anhängerInnen hat!

stadtwanderer

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

2 Gedanken zu „wenn das selbstverständliche fragwürdig wird“

  1. Das provinzielle hat so viele Anhänger, weil der Mensch es allgemein gerne einfach und geordnet hat. (Oder zumindest grosse Gruppen von Menschen, wie die Abstimmungsresultate zeigen) Das provinzielle wird erhalten durch viele klare Regeln und möglichst strenge soziale Normen.

    -Ladenöffnungszeiten
    -Abfallentsorgunsstellenordnung
    -Bahnhofsordnung
    -80seitige Fahnenreglemente

    Wieso aber in der Schweiz besonders stark? Vielleicht weil sie so kleinräumig ist.

  2. Ich halte das kleinräumige auch für einen vorteil, es lässt identifizierung zu, und es schafft so verbundenheit.
    allerdings: wir haben eine starke migration, und eine hohe mobilität. damit kommen neue lebensweise hinzu, die verarbeitet werden müssen. die normierung allen lebens ist da ein problem. je enger sie ist, desto mehr kümmert man sich generell nicht mehr darum.
    da frage ich micht schon auch, ob ein wenig mehr urbane vorbilder der schweiz nicht gut anstehen würden.
    oder konkret: abfallsentsorgungsordnungen sind gut und recht, wenn sie etwas bewirken. wenn sie aber nicht bewirken, sind sie schlicht sinnlos.

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