wissenschaft, futurologie, geschichte und literatur – und wie das alles zusammenhängt

kann man in der gegenwart die zukunft mit wissenschaftlichen mitteln erkennen? vielleicht oder teilweise, antworte ich und füge bei: man kann in der geschichte die fakten und in der literatur die zusammenhänge sehen, die einem sonst entgehen.

das buch der zukünftigen zukunft
diesen sommer hatte ich (unter anderen) zwei ähnliche, wenn auch ungleiche bücher im ferienreisegepäck. das erstes heisst “Die nächsten 100 Jahre“. verfasst hat es der amerikanische politikwissenschafter george friedman, seit 1996 leiter des privaten instituts “stratfor”, das für regierungen, armeen und medien die (amerikanische) zukunft analysiert.

9783593389301_png_6637360friedman nennt drei überragende momente für das 21. jahrhundert, die ihn optimistisch stimmen: die anhaltende macht der usa, das ende der bevölkerungsexplosion und die neuen energien aus dem weltall. das krisengerede der gegenwart in der angelsächsischen welt mag er gar nicht hören. über den islam spricht er auch nicht gerne. chinas wirtschaftsmacht reicht in seiner einschätzung vielleicht an die japans, aber nicht amerikas. sie werde soweiso an ihren eigenen widersprüchen zerbrechen, ist er überzeugt. dafür sieht er zwei andere staaten aufkommen: die türkei, welche den europäischen kontinent, insbesondere deutschland einnehmen werde, und japan, das den usa den krieg erklären werde. nicht im pazifik werde der stattfinden, sondern im weltall – und von den vereinigten staaten von amerika gewonnen werden. das werde den usa die weltherrschaft sichern, deren grenzen nicht aussen-, aber innenpolitisch begründet seien: der spanisch geprägte südwesten der usa, der erst spät von mexiko zu den usa kam, sei das grösste pulverfass des landes, an dem es auch auseinander brechen könne.

wenn man das so liest, ist man zunächst beeindruckt. denn dem autor gelingt es, sich nicht vom kräuseln der ereignisse an der medialen oberfläche der ist-zeit einnehmen zu lassen. anders als seine kollegen argumentiert er auch nicht mit ökonomischen zyklen. vielmehr sucht er nach den ganz langen wellen, die den gang der geschichte sicherer fassen als alles ander. und dennoch bleibt man skeptisch. denn friedman glaubt, dass es nur ein zukunft, nämlich die der usa, gibt, die man erkennen, indessen nicht wirklich beeinflussen kann. das kommt bei seinen kunden sicher gut an, doch nichts belegt, dass es so kommen muss.

das buch der vergangenen zukunft
an die erkennbare zukunft glaubte vor präzise 100 jahren auch der deutsche journalist arthur bremer. 22 seiner zeitgenossInnen forderte er auf, aus damaliger sicht über die zukunft zu schreiben. nicht so global, wie es friedman heute macht, sondern fein säuberlich in lebensbereiche aufgeteilt – über die zukunft des krieges also, jene des friedens, der frauen, der arbeiter, der religion, des soziallebens, der erziehung, der literatur, des theaters, der musik, der kunst, des sports, der medizin und der weltuntergänge. alles zusammen ergab das die vielzitierte anthalogie “Die Welt in 100 Jahren“.

03636717nwenn man mein zweites zukunftsbuch im ferienreisekoffer aus heutiger sicht liest, gibt es sicher ein schlüsselmoment: vorausgesagt wird, dass 2010 das telefon, damals in der ersten oder zweiten generation, drahtlos in der westentasche versorgt und somit auch überall mitgenommen werden könne, um sich jederzeit zu informieren und mit allen mitzuteilen …

bingo! könnte man nun rufen und glauben, die entwicklung von sachen wie dem handy liesse sich genau vorhersehen. doch auch dieser schein trügt. denn das gegenbeispiel wäre die erdbeere, die in brehmers buch in einem jahrhundert anwächst wie orangen, weil sie so mehr ertrag abwirft. das mag es heute in den laboratorien der gentechnologen geben, eine verbreitung wie die mobile telefonie hat sie nicht gefunden.

das ist es also nicht, was das genre auszeichnet. denn seine stärke liegt nicht in der prognose von ereignissen, sondern in der einsicht von zusammenhängen. editor georg ruppelt, der ein sensibles vorwort zur neuauflage des bestsellers von 1910 verfasst hat, insistiert denn auch auf die treffsicherheit der vorausschau bezüglich des entscheidenden zusammenspiels von technik, politik und gesellschaft in brehmers werk – oder plakativ gesagt, auf die bedeutung des fortschritts für die entwicklung des menschen und seiner gesellschaften.

getrieben wird dieser fortschritt beispielsweise durch die elektrizität, die in vielen lebensbereichen vorteile bringt, sich deshalb auch durchsetzt und dabei die an die möglichkeiten der produktion stösst, sodass der fortschritt zwischen technischen innovationen und zivilisationskritik oszillieren, die sich trotz faszinierenden neuentwicklung mit endlichkeit unserer ressourcen beschäftigt.

kurzfristig stimmte vieles von dem, was brehmer 1910 veröffentlichte, nicht. statt völkerverbindendem luftverkehr, politischer einigkeit, reichtum für arbeiter und der emanzipation für frauen, gab es 1914 den grossen krieg. die nationen europas brachen gegeneinander auf, die frauen wurden an den herd und in die fabriken geschickt, ohne rechte zubekommen, und die werktätigen männer mussten an die front, wo sie, wie noch nie in der weltgeschichte, als kanonfutter auf den schlachtfeldern der zerstörung starben. sie auch der aussagekräftige buchillustrator brehmers, ernst lübbert.

die sozialisten leisteten mit ihren revolutionen zwar einen betrag zum ende des krieges, doch entstand damit nicht demokratien, sondern volksrepubliken, die während siebzig jahren um die vorherrschaft in der welt kämpften, ohne sie zu erreichen. und um den inhaber genau dieser langfristigen globalen macht als treiber der geschichte geht es bis heute in den zukunftsschauen, die es immer wieder wert sind, gelesen zu werden.

die bücher über zukunft heute und gestern im vergleich
eines ist mir bei den lektüren diesen sommer klar geworden: die soziale futurologie, die zukunftsoptimisten wie friedman verbreiten, gibt es nicht wirklich.

sicherer sind zukunftstrends für 10, 30 vielleicht auch 50 oder 100 jahre, die in der energieversorgung, verkehrspolitik, infrastrukturwicklung oder im stadtbau ihren stellenwert in planung, entwicklung und distrubution von gütern und dienstleistungen haben. doch dabei bleibt es in allen wissenschaftlich-technischen ableitungen aus den möglichkeiten der gegenwart.

die geschichte ist keine rückwärts gewandte prophetie, wie es der philosoph friedrich schlegel formulierte. und ihre umgekehrung ist auch keine vorwärtsgerichtete geschichtserzählung, wie ruppelt schreibt. denn geschichte beschäftigt sich immer erst im nachhinein mit dem, was war. was wir, auch was hätte werden können, ist und bleibt die aufgabe der freieren literatur. diese kunstform macht uns klar, was jenseits von fakten die wesentlichen zusammenhänge sind, welche auch die gegenwart im strom der veränderungen erscheinen lassen.

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über einen geistigen vater des bundesstaates in luzern referieren

eingeladen am lehrstuhl für politische philosophie an der universität luzern, hielt ich heute im rahmen des kurses “philosophie im management” einen gastvortrag zum thema “politik-öffentlichkeit-medien”. bei einigen schritten in der lauschigen reussstadt habe ich mich des einzigen lokalen politphilosophen erinnert, der wesentliches zum werden des bundesstaates von 1848 beigetragen hat: ignaz troxler.

220px-Troxler_Portrait_1830die jüngst erschienen biografie, verfasst von daniel furrer, nennt troxler einen “Mann mit Eigenschaften”. in der tat war troxler ein früher und führender liberaler, der überall, wo er auftrat, aneckte.

1780 in beromüster geboren, schloss er sich noch während seiner zeit als gymnasiast den patrioten der helvetischen republik an, und wirkte er in luzern als vermittler zwischen franzosen und dortigen gemeinden. angewidert vom opportunismus vieler seiner zeitgenossen, quittiert er jedoch schon im zweiten jahr seinen dienst, um nach jena, später auch göttingen zu gehen, wo er gleichzeitig ein studium in philosoph und medizin bewältigte. dabei lernte er namentlich friedrich schelling kennen, den führenden philosophen nach dem tode kants und vor dem aufstieg hegels, dem er sein leben lang mehr oder minder verbunden blieb.

nach seinen studien wirkte troxler in der schweiz, namentlich in beromüster und aarau als arzt und lehrer, heiratete er wilhelmine polborn, prangerte er die gesundheitszustände in seiner heimat an, wurde er ausgewiesen, erhielt er angebote für professuren in deutschland, schrieb er pamphlete gegen die herrschenden, wurde er gar gefangen genommen, und musste während seinem unsteten leben den tod zweier seiner kinder erleben, bevor sie ins erwachsenalter gekommen wären.

doch dann beginnt troxlers aufstieg als professor, wird er doch 1819 ans luzerner lyzeum berufen, und avanciert er zum präsidenten der helvetischen gesellschaft. den einheimischen konservativen viel zu liberal, macht man ihm jedoch schon bald den prozess, wird er bespitzelt, bis er nach aarau, später freiburg im breisgau wechselt. wo er sich zum politischen philosophen wandelt. er studiert die amerikanische verfassung und erkennt in ihr das vorbild für eine neuordnung der schweiz. eine grosse bundesreform mit kantonen in einer gemeinsamen nation ist sein neues ziel.

parallel dazu schreibt troxler wissenschaftlichen abhandlungen, die ihm den weg zu einer professur an der basler universität eröffnen. da wird er fast umgehend rektor, gleichzeitig aber verdächtigung laut werden, der anführer der aufständischen landschäftler zu sein. man verbietet ihm, die stadt zu verlassen, stellt ihn gar vor gericht, wo er jedoch mangels beweisen freigesprochen wird. sofort flüchtet er, verliert er dadurch aber auch seine anstellung. im aargauischen freiamt wird der umgehend gefeierter grossrat des kantons.

1834 gründet troxler den nationalverein, dessen satzungen er selber verfasst, und nimmt er den ruf als professor für philosophie an der neuen universität bern an, wo er sich namentlich mit dem wachsen der schweizerischen verfassungen beschäftigt. immer mehr überholt ihn jedoch die reale politik, und auch die studenten entfernen sich schritt für schritt vom ihm, denn seine parteinahme für die katholiken in der konfessionalisierung der inneren polarisierung wird ihm von den fortschrittlichen kräften nun schwer angelastet.

1848 erscheint troxlers wichtigste politische schrift, nun stark gemässigt, mit der er nochmals die verfassungen der vereinigten staaten von amerika zum vorbild für den schweizer bundesstaat propagiert. seine grosse idee findet nur wenige wochen nach erscheinen des bandesd ihren niederschlag in der ersten bundesverfassung der schweiz, mit der ein politischer kompromiss zwischen liberalen und konservativen ideen wenigstens institutionell gesucht und gefunden wird, der von dauer sein sollte.

einer der geisten väter, ignaz troxler, zieht sich bald danach aus dem öffentlichen leben zurück. als schelling, ebenso wie troxler vereinsamt, während einer kur in bad ragaz stirbt, organisiert er dessen letzte ruhe auf dem örtlichen friedhof. seine frau stirbt vor ihm, er selber ruht seit den ersten märztagung 1866 in aarau.

um troxler, dessen leben mit den wirren des übergangs vom ancien regime zum bundesstaat fast deckungsgleich ist, dessen wirken als arzt vor allem von rudolf steiner und den antroposophen aufgenommen wurde, wurde es danach sowohl in der philosophie, dem staatsrecht und der politik, die er alle mitgeprägt hatte, merkwürdig still. ich glaube, keiner der studierenden, wohl auch nicht der dozierenden, die mir heute in luzern zugehört, kannten die geistigen mitbegründer des schweizerischen bundesstaates wirklich. bingo!

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die berühmteste zugsreise der europäischen geschichte und ihr geheimnis

eine seiner zwölf reisen durch das 20. jahrhundert führte geert mak durch den norden europas. von berlin aus ging es über kopenhagen, stockholm und helsinki nach petrograd. zeitlich ist sie der phase am ende des ersten weltkrieges gewidmet, dem grossen moment der russischen revolution.

LENIN STOCKHOLMlenin in stockholm (mit zylinder und schirm, beim empfang durch den bürgermeister der schwedischen hauptstadt während seiner reise von zürich nach petrograd)

vom sturz des zaren in st. petersburg erfuhr lenin am 15. märz 1917, dem sechsten tag des generalstreiks. mak nimmt das zum anlass, über die isolierung der bolschewiki im exil zu sinnieren. denn selbst die zürcher polizei interessierte sich mehr für seine nachbarn an der spiegelgasse 14, dem cabaret voltaire, wo künstler 1916 das ende der wahrheitssuche in der bürgerlichen gesellschaft verkündet und den dadaismus begründet hatten, als für den flüchtling vladimir iljitsch uljanov.

dass die prawda, die kommunistische wahrheit, 1917 in wenigen wochen von einer zeitung ohne eigene druckerei zu einem massenblatt mit täglich 40 ausgaben und einer gesamtauflage von über 350’000 exemplaren aufsteigen konnte, führt den autor unweigerlich zur frage, wie das finanziell möglich gewesen sei. die antwort darauf findet er im aufenthalt lenins in stockholm während seiner nordlandreise.

die letzte nacht in zürich verbrachten lenin und seine genossen im hotel zähringerhof. danach bestieg man den zug nach berlin, der plombiert durch das kaiserreich fuhr. das sollte garantieren, dass die kommunisten keinen kontakt zum feindesland haben würden.

in der tat hatte man die aber. denn berlin unterstützte die reise durchs kaiserreich, da man in der person von zar nikolai ii. einen gemeinsamen feind hatte. eine revolution in der zentrale des zarenreiches bot die möglichkeit, auf eine ende des zweifrontenkrieges, ja des krieges überhaupt zu hoffen.

nach der ankunft in der revolutionär gesinnten stadt, in der die liberale provisorische regierung die macht übernommen hatte, wandte sich lenin erstmals an seine zurückgekehrten bolschewiken. doch anders als sie es erwartet hatten, empfahl er ihnen mit den april-thesen nicht, die bürgerliche revolution weiter zu unterstützen, sondern gleich eine zweite, nämlich die sozialistische revolution der arbeiter und bauern vorzubereiten und den krieg mit deutschland zu beenden.

der wechsel der strategie in der russlands ist für geert mak so offensichtlich, dass es gründe hierfür braucht. denn in zürich, wo lenin am abend vor der abreise sprach, hatte er sich in seinem „brief an die schweizer arbeiter“ noch skeptisch über die chancen einer sozialen revolution im rückständig gebliebenen russland geäussert. nun wollte er sie im eilzugstempo realisieren.

den für die weltgeschichte entscheidenden moment der neubesinnung ortet der chronist bei den treffen der reisegruppe in stockholm. offiziell war man vom bürgermeister empfangen und von den medien bewundert worden. denn die hoffnung auf ein kriegsende ruhten nun ganz auf lenin. inoffiziell traf sich karl radek, der oesterreichische sozialist in der gruppe, mit alexander helphand, einen multimilionär mit sympathien für die komministen. lenin hatte er 1914, damals noch journalist, kennen gelernt.

nach dem kriegsausbruch war es helphand gewesen, der bei den kommunisten unter dem namen parvus bekannt war, der in berlin auf die gemeinsamen interessen der deutschen monarchisten und der russischen kommunisten hingewiesen hatte. in stockholm nun vermittelte er der radek die finanzielle unterstützung der revolution durch das auswärtige amt des kaiserreiches. die dokumente, die nach 1945 hierzu publiziert wurden, nennen 40 million goldmark, wovon mehr als die hälfte im ersten revolutionsjahr ausgegeben wurden, und der grossteil davon an die bolschewisten als kriegsgegner ging.

demnach kann man nach mak sagen: erst während der berühmtesten zugsreise der europäischen geschichte wurde der plan für die rasche revolutionierung der massen in russland gelegt. die oktoberrevolution und der ausbrechende bürgerkrieg zwangen russland zu einem separatfrieden mit deutschland, ohne dass dieses den krieg gewinnen konnte.

einen einfachen deutschen agenten sieht mak in lenin dennoch nicht. er sei durch und durch ein revolutionär gewesen, der dem kommunistischen umsturz alles untergeordnet habe und dafür bereit gewesen sei, mit dem teufel zu paktieren. seine allianz mit den deutschen sei eine gelegenheitskooperation gewesen, die beiden seiten zu einer bestimmten zeit nutzte, die aber jederzeit wieder beendete werden konnte.

das war dann auch nach kriegsende der fall. das kaiserreich zerfiel, an seine stelle trat die weimarer republik in deutschland, während aus russland die sowjetunion hervorging. revolutionsführer wladimir uljanov selber erlitt 1918 bei einem attentat schwere verletzungen, denen er schliesslich am 21. januar 1924 erlag.

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in 84 kapiteln längs und quer durch europa

er wurde am 1. januar 1924 geboren, stieg zum führenden historiker frankreichs auf, und verfasste kurz vor der jahrhundertwende vom 20. zum 21. ein bemerkenswertes bändchen über die geschichte europas. bei einigen regenwolken über dem schwedischen sommer ist die formidable übersicht, die jacques le goff über den stoff bietet, eine ideale lektüre für einen neugierigen.

22807185njacques le goff, einer der wohl renommiertesten, lebenden historiker frankreichs, schrieb 1997 seine „geschichte europas“. gerade mal 110 seiten brauchte er für den wurf, der sich an unerfahrene jugendliche wendet, letztlich aber auch von erwachsenen mit vorteil gelesen werden kann.
geografie und geschichte, mentalitäten und verhältnisse, vergangenheit und gegenwart, das sind die grossen interessen des paris mediävisten. mit 75 verfasste er die kürzeste komplette geschichte europas, die ich kenne.

am liebsten reist er, und erzählt, wie wenn es um ein umfassendes kaleidoskop ginge, was europa ist: wie es, von den griechen zur abgrenzung erfunden wurde, unter der führungen der franken entsteht, zum kaiserreich der christlichen völker wird, wie die renaissance den geist aus den antiken quellen speist, wie sich das weltbild durch die reisen nach amerika verändert, die die konfessionen den kontinent spalten, wie sich die barocke lebens- und bauweise über den ganzen kontinent ausweitet, wie die wissenschaft weltweit einmalige enteckungen ermöglicht, wie napoleons versucht einer einigung europas scheitert, wie die industrialisierung und elektrifizierung den alltag verändern, und wie die so vorteilhaften nationalstaaten internationale ordnungen brauchen, damit sich die katastrophen der weltkriege nicht wiederholen.

bildhaft ist der gereifte gelehrte, der mit leichter und dennoch präziser feder schreibt, wenn er es um kulturen geht. so treffen im mittelalter nicht nur die niedergehende römische und die aufkommend germanische kultur aufeinander. nein, es begegnen sich auch menschen, die wein und brot resp. bier und fleisch bevorzugen. Während durch die verbreitung des getreideanbaus heute fast alle europäerInnen brot essen (und nicht reis wie die asiatInnen, mais wie die uramerikanerInnen oder maniok wie die afrikanerInnen) und die meisten von ihnen fleisch konsumieren, sind die grenzen mit vorherrschenden wein- und biergebrauch weitgehend geblieben. Treffend wirken seine klaren und dennoch nicht simplen sätze, wenn le goff die konfessionen nach der reformation charakterisiert: den protestantismus aus sittenstrenger im alltag, jedoch liberaler im geist, und der katholizismus als larger im tägtäglichen umgang, jedoch konservativer in seinen weltbild.

wer wenig weiss über die entwicklung des kontinents, wird mit diesem buch gut bedient. stets klar angekündigte, thematische kapitel hat das bändchen, die in chronologischer reihenfolge europas geschichte erzählen. das kürzste ist 6 zeilen lang und handelt von der verschiedenheit der europäer, was le goff mit den persönlichkeiten der angehörigen einer familie vergleicht, die darüber hinaus aber eine gemeinsame abstammung haben. das längste ist wohl der schluss, wo der historiker auf drei seiten der frge nachgeht, „welches europa?“ wir europäerInnen brauchen. Ein gegengewicht zur den usa, zu china soll es sein, eine wirtschaftsmacht mit einer gemeinsamer währung, eine zivilisation, die menschenrechte, freiheit, gerechtigkeit und ökologie hochhält.

eindringlich wendet sich der französische europäer an die nächsten generationen. deshalb hat er das buch auch vorsichtig, aber anschaulich illustrieren lassen – genau so, wie man es sich wünscht, um kein gelehrtes gelaber vor sich zu haben, sondern ein handfestes kursbuch zur europäischen kultur, das ausflüge in und aus der geschichte bis in die gegenwart ermöglicht.

sogar über schweden habe ich darin etwas gelernt: vorgestellt wird pehr henriki ling, der anfangs des 19. jahrhunderts die körperliche ertüchtigung der jugend einführte, dafür die (schwedische) gymnastik und (klassische) massage erfand, die es heute noch in schulen, militär und sport gibt.

80 tage brauchte jules verne, um einmal um die welt zu reisen. 84 kapitel benötigte der meister der geschichte, um europa in raum und zeit zu durchqueren.

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parteienanalyse im st. galler “wienerberg”

ich bin ein wenig zu früh auf dem st. galler unihügel. meine veranstaltung zur empirischen politikforschung in der praxis beginnt erst um zwei. “comparative politics“, ein dickes lehrbuch, das an der elite-uni in oxford herausgegeben worden ist, greife ich in der studentischen buchhandlung auf, um im restaurant “wienerberg” darin zu schmökern.

rwb_01restaurant wienerberg, wo ich mich auf die vorlesung an der hsg einstimme

herausgeber daniele caramani, direktor des st. galler instituts für politikwissenschaft, analysiert darin übergeordnete entwicklung der europäischen parteiensysteme wie folgt:

erstens, die nationalen revolutionen des 19. jahrhunderts spalteten die gesellschaft in zentren und peripherien, welche revolutionär resp. antirevolutionär waren. hinzu kam der gegensatz zwischen kirchengebundenen und säkularisierte kräften. in der schweiz drückte sich da im gegensatz von freisinn und katholisch-konservativen (heute cvp) aus.

zweitens, die industriellen revolutionen am übergang des 19. zum 20. jahrhundert teilten die menschen zwischen bauern und bürgern auf, aber auch zwischen arbeitern und unternehmern. in der schweiz sprengte das den freisinn, der einerseits in fdp un bgb (heute svp) zerfiel, anderseits die sp als eigene vertretung der arbeiterschaft entstehen liess.

drittens, die internationalisierung der politik im 20. jahrhundert brachte neue gegensätze: etwa zwischen kommunisten, welche die weltherrschaft anstrebten, oder in faschistische parteien, die sich an deutschland und italien ausrichteten. dauerhaft überlebt hat in der schweiz keine der parteien aus dieser spaltung.

die aktuelle transformation der parteiensysteme entwickeln sich nach caramani in zwei richtungen entwickeln: einmal sind mit den grünen postmaterialistische bewegungen und parteien entstanden, sodann sammeln sich die nationalkonservativen kräften in neuen parteien, oder verändern bestehende. die gegewärtigen wahlsieger der schweiz, die svp und die grünen, stehen für das ein wie für das andere.

vermittelt wird dies alles jedoch durch die eigenheiten des politsichen systems. in der schweiz entscheidend ist das konkordanzsystem, das sprachliche gräben überbrücken, konfessionelle gegensätze einebnen, bürger und bauern einander näher bringen will und die sozialpartner anhält, sich so weit wie möglich untereinander zu einigen.

am unversöhnlichsten prallen die standpunkte bei der aktuellsten konfliktlinie, dem gegensatz zwischen offener und geschlossener gesellschaft, aufeinander. die svp bildet den einen pol. die fdp und die sp den andern. letztere setzen auf offene grenzen, freien ökonomischen austausch, um wirtschftlichen fortschritt zu erzielen und befürworten multikulturelle gesellschaft mehr oder mindern. dagegen protestieren die vertreter der nationalen interessen immer deutlicher. aus internationalen organisationen wollen sie austreten, supranationalen verpflichtungen sind ihnen zu wider, denn sie werden als verlustgeschäfte zugunster globaler moloche gesehen, die nicht funktionieren. entsprechend setzt man auf die rechte und privilegien der autochtonen bevölkerungsteile, und bekämpft man das kulturelle andersartige.

wertesynthesen wie beiden grünliberalen, die den konflikt zwischen ökonomie und ökologie überwinden wollen, zeichnen sich hier noch kaum ab. am ehesten bei der bdp, der fall. die, von der svp herkommend, ihre politik ablehnt, und einen ausgleich zwischen der isolation der nationalkonservativen und dem neoliberalismus oder superetatismus der öffenungswilligen sucht.

voilà, das schützengarten-bier ist aus, das dicke buch von caramani noch lange nicht fertig gelesen, doch zeigt mir die uhr an, dass ich jetzt unterrichten gehen muss.

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stadterweiterungen – dorferweiterungen: andermatts neubau im spiegel desjenigen von bern

1255 erweiterte man die stadt bern ein erstes mal gründlich. gleiches geschieht seit heute in andermatt. mit welchen risiken, und mit welchen chancen? ein kleiner vergleich.

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alt-andermatt rechts – neu-andermatt links: das dorferweiterungsprojekt samih sawiris im urserntal

gestern noch fuhr ich durch andermatt. alles schien ruhig. doch heute ist alles anders. denn es wird mit dem grossbauprojekt des ägyptischen investors samih sawiris begonnen. neben alt-andermatt mit 1300 einwohnerInnen soll ein alpen-ressort als neu-andermatt entstehen – mit doppelt so vielen bewohnerInnen.

die enorme dorferweiterung im urserntal tönt ein wenig wie die stadterweiterung in bern, als aus der zähringischen gründungsstadt von 1191 zwischen aare und zytgloggen um 1255 ein savoyisches herrschaftszentrum wurde – mit doppelt soviel einwohnerInnen und einem stadtbann, das jetzt bis zum käfigturm reichte.

in andermatt treiben die bisherigen wirtschaftskräfte die dorfentwicklung nicht mehr an. die schweizer armee hat den ort nach 130 jahren verlassen. und dieses gibt es erstmals keine viehschau mehr. das sind untrügerische zeichen, dass die bauern&soldaten-schweiz selbst an ihren ursprünglichen orten zu absterbenden mythos wird.

die anstehenden veränderungen werden gegensätze zwischen den generationen mit sich bringen: namentlich die alteingesessenen fürchten um andermatts identität, könnte der ort doch zur mittelstation des glacier expresses verkommen, wenn die reichen zwischen st. moritz und zermatt pendeln. und auch bei den natürschützern mehren sich die bedenken, dass die wichtigste ressource der gegend, die naturm einen kahlschlag erleben könnte.

die jüngeren menschen haben sich schon länger aus der reduit-schweiz verabschiedet. gemeinsam mit sportlegende bernhard russi sehen sie in der dorferweiterung mehr chancen als risiken. sie hoffen auf eine zukunft vor ort, nicht nur im altersheim, sondern in unternehmen, in denen man in den jahren vor der pensionierung aktiv sein kann. die stimmung unter ihnen ist gut, ja, ein wenig goldgräber-mentalität entwickelt sich im urnerland.

der rückblick auf bern lässt erkennen, dass stadterweiterungen viel liebgewordenes verändern. nebst der leutkirche des deutschordens traten klöster mit südlichen regeln. und anstelle der informellen politischen entscheidungen braucht es nun eine stadtregierung und einer stadtparlament. doch erst alle dies liess aus dem dörflichen bern ein städtisches gemeinwesen entstehen, dem der deutsche könig seinen jahrhunderte lange gültigen schliff verlieh: denn nur ein prosperierenden urbanes zentrum kann im ruralen umland aufgaben der verwaltung übernehmen.

was aus andermatt wird, weiss wohl niemand so genau. sicher ist aber, dass die veränderungen rascher gehen werden als seinerzeit in bern. und dennoch kann man die dorferweiterung im obesten teil des kantons uri als biotop verstehen, das züge zeigen wird, wie sie sich an vielen andern orten auch ergeben, wo man wirtschaftlichen und gesellschaftlichen grossbauten realisiert(e).

eines hat man in vielen dieser projekte nicht gemacht, das jetzt in andermatt initiiert wird: ein monitoring der bevölkerungsmeinungen zum ganzen geschehen, das als frühwarnsystem dienen soll, um tiefgreifende konflikte rechtzeitig zu ersehen und ihnen damit auch bald möglichst begegnen zu können.

ich bin gespannt, wie sich die dorferweiterung in andermatt anlässt und entwickeln wird – und was wir aus dem innenleben alles erfahren werden.

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wie es zu den berner bärenlebkuchen kam

man kennt die sage, wie die stadt bern zu ihrem namen kam. ich habe sie hier auch schon erzählt. nun bin ich auf eine fortsetzungssage gestossen, welche den bogen von der stadtgründung im zeichen der bären hin zur den berner lebkuchen schlägt. sie hat mir so gut gefallen, dass ich sie hier ungekürzt wiedergebe.

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“Unweit von der Stelle, an der der Herzog den Bären erlegt hatte, irrte eine junge Edelfreu mit einem Töchterlein im Arm durch das dornige Dickicht des Waldes. Ein schwerer Schlag hatte sie heimatlos gemacht.
Plötzlich krachte es im Unterholz. Sie erschraken bis ins Mark, denn eine grosse Bärin tappte daher. Das Tier aber zog freundlich brummend an ihnen vorbei und tat ihnen nichts zu leide.
Kaum hatten sie sich erholt, stand ein zähnfletschender Wolf vor ihnen. Kein Zweifel, er würde sie verschlingen. als sie vor Entsezten schrien, erschien die Bärin wieder.
Wer weiss, vielleicht hatte der Isegrim einmal eines ihrer Jungen gerissen, auf jeden Fall stürzte sich die Bärin auf den Wolf. Diese fügt ihr gefährliche Bisswunden zu. Schliesslich gelang es der Börin, ihm mit einem Prankenschlag das Genick zu brechen.
Das Schreien, Knurren und Brüllen lockte die Jäger aus der Burg Nydeck herbei. Beim Anblick der noch lebenden Bärin legte einer der Schützen einen Pfeil in den Bogen. Doch Mechthildis sprang dazwischen.
“Schonet den Bären, meinen Retter!”, rief sie.
Die Bärin, aus vielen Wunden blutend, schleppt sich fort. Wiederholt blieb sie stehen, richteten den Blick auf Mechthildis und brummte. Endlich verstand die Edelfrau.
Die Bärin wollte, dass man ihr folge. Bald darauf kamen sie an einer Börenhohle. Zwei niedliche Junge, die die Heimkehr ihrer Mutter erwarteten,. stürzten sich auf die Bärin. Sie konnten ihnen gerade nicht einmal das Gesicht lecken und Mechthildis zum allerletzten Mal in die Augen blicken. Dann verschied sie.
Die erstaunten Jäger finden die beiden Bärchen und nahmen sie zusammen mit der Frau und ihrem Töchterlein mit zur Burg. Als Herzog Berchtold vernahm, was geschehen war, war er zutiefst besorgt-. Sofort liess er sein Pferd sattel und ritt zur Höhle. Beim Anblick der tapferen Bürin, die da in einer Blutlache lag, hielt er einen Moment inne. Dann gelobt er:
“Du stabst, weil due Wehrlose mit deinem Leben verteidigt hast. Ich will dein Erbe sien! Hier will ich eine Stadt bauen zur Zuflicht der Bedrängten. Bern soll sie heisst, und ein schwarzer Bär soll ihr Wappen sein!”
Der Bau der Stadt mit dem Bären auf dem Wappen ging zügig voran. Ueber die Bärenhöhle wurde das Rathaus gebaut. Die Höhle selber wurde zur Schatzkammer der neuen Stadt. Die beiden Bärenwelpen wurde in der Burg aufgezogen und immer gut behandelt. Die Stadtbäckerei wurde damit beauftragt, ihnen besonders schmackhaftes Brot zu bakcen. Junge Ritter machten es sich zum Vergnügen, mit ihnen zu ringen und ihre Kräfte und ihren Mut an ihnen zu messen.
Als dann die Weihnachtszeit kam, buk die edle Mechthildis mit Honig und feinen welschen Gewürzen den ersten echten Berner Lebkuche. Auf dem Gebäck waren die Bärin und ihre Jungen abgebildet.”

stadtwanderer

(aus: wolf-dieter storl: der bär. krafttier der schamanen und heiler, AT Verlag, 2009, 3. Auflage)

basler uni: vor 550 jahren mit placet des papstes gegründet

die kontroverse war heftig. es ging um die gründung der universität basel, und das gewicht, dass die kirche und die bürger dabei hatten. ein comic zur unigründung, die sich zum 550. mal jährt, trägt zur klärung bei.

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unimissverständliches titelbild der festschrift zur gründung der basler uni am 4. april 1460

unter meinen gästen bei der stadtwanderung vom 1. september 2008 waren zahlreiche vertreterInnen der schweizer hochschulen. wie üblich bei meinen führungen nannte ich die gründungen der universitäten zürich, bern und genf ein welthistorische neuheit, da anders als zuvor nicht kirchen oder adelige eine hochschule gründeten, sondern bürgerInnen. das rief beim vertreter aus basel heftigen widerspruch hervor. diese wertung stimme nicht, sei von der uni zürich zur deren 175 jahrfeier erfunden worden und missachte die gründungsgeschichte der basler universität.

in der tat ist die basler universität viel älter als alle anderen in der schweiz. sie geht nicht auf bildungseuphorien zurück, wie sie in den 1830er jahren und im letzten dritten des 20. jahrhunderts herrschten. vielmehr ist die entstehungsgeschichte der ehrwürdigen basler universität eng mit dem damaligen konzil in der stadt am rheinknie verbunden.

dieses tagte in der mitte des 15. jahrhunderts, um die ausrichtung der kirche zu bestimmen, die nach den pestwellen des 14. jahrhunderts stark belebt wurden, und um päpste zu wählen, die den verschiedenen strömungen an der basis der katholischen glaubensgemeinschaft entsprachen. der konfessionskrieg in böhmen war ein dauerthema, aber auch die richtige repräsentation im papstamt beschäftigte die teilnehmer.

das monopol basels, das entscheidende konzil zu beherbergern, brach allerdings bald auf, indem sich ein teil der teilnehmer nach pisa verlagerte und beanspruchte, das gültige konzil zu sein. denn in basel hatte man auf einen papst aus dem hause savoyen gesetzt, der nicht die allgemeine anerkennung fand.

mit der abreise der letzten konzilteilnehmer im jahre 1437 wurde klar: der vorteil der stadt aus den zahlreichen besuchen, der sich vor allem auf das basler gewerbe auswgewirkt hatte, war weg. die investitionen namentlich in das druckereigewerbe waren bedroht. und die übernachtungen in der stadt gingen drastisch zurück. findige bürgerInnen aus basel suchten den ausweg und beauftragten den grossen rat der stadt, eine hochschule zu gründen. herausgefordert fühlte man sich inbesondere durch das benachbarte freiburg, das an einem solche projekt arbeitete.

damit ging die initiative durchaus von basel und ihren bürgern aus. sie führte aber nicht zu einer eigenverantworteten universitätsgründung. denn diese nahm der angefragte papst vor. enea silvio piccolomini, der poet und frauenschwarm, der seinerzeit als sekretär des konzils in basel gedient hatte und nun papst in rom war, traf den massgeblichen entscheid: “Wir werden vom feurigen Wunsch geleitet, dass die Stadt Basel mit den Gaben der Wissenschaft geschmückt werde”, liess der heimweh-basler die warteten stadtbewohnerInnen wissen. erst danach nahm die schule ihren bildungsauftrag wahr.

in der innensicht mag es sein, dass die initiative aus der not nach dem konzil der basler uni pate stand. in der aussicht unterscheidet sich das gründungsverfahren der basler uni von den liberalen universitäten der 1830er Jahre aber unverändert gründlich. denn keinem zürcher, berner oder genfer bürger wäre es 1833 oder 1834 in den sinn gekommen, auf eine päpstliche bulle zu warten, um ihre kantonale universität zu eröffnen. der geist des liberalismus genügt, um eine innovation zu lancieren. genau das meine ich mit “welthistorischer neuerung”.

und so danke ich der uni basel, die einen interessanten comic zur
gründung der eigenen hochschule
herausgegeben hat. und zur klärung der kleinen kontroverse im meiner stadtführung für hochschulfunktionäre beigetragen hat.

stadtwanderer

huttwil – die stadt des übergangs

wir sitzen im garten eines stattlichen restaurants, nahe der hauptstrasse durch huttwil und trinken eine ovo, bevor die erkundungsreise durch den ort im obersten langetental beginnt, die um das werden, das aufbegehren und das wachsen der 5000 einwohnerInnen zählenden kleinstadt zeigt.

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stationen einer stadtwanderung: das huttwil von 1834, die krone, schauplatz des streits im bauernkrieg, und leuenberger denkmal im stadtpärkli von huttwil (fotos: stadtwanderer)

rasch entpuppt sich unser “hotel krone” als früherer sitz des schultheissen nach dem 30jährigen krieg im 17. jahrhundert. niedergebrannt wurde es 1653 bis auf die grundmauern, da der schultheiss zu “huttu” zur stadt bern hielt, während sich die stadtbewohner den bauern anschlossen, die landauf, landab aufbegehrten. “klaus leuenberger” steht noch heute unter der statue im kleinstpark bei der gewerbeschule, “obmann der bauern”. im volksmund war niklaus leuenberger der “könig der bauern”.

während des krieges hatten die bauern im emmental gute geschäfte gemacht, doch nach dem friedensschluss fielen die preise und die armut auf dem land nahm zu. in wolhusen schlossen sie ihren bauernbund, verfassten einen bundesbrief wie seinerzeit die innerschweizer gegen die habsburger vögte, und forderten die patrizier in den städten als neue “habsburger” heraus. doch waren diese nicht zu konzessionen gewillt, unterdrückten den aufstand gewaltsam und richteten die anführer, unter ihnen held leuenberger, hin.

bern und luzern bestimmen das schicksal der kleinstadt im übergang seit der landadel in huttwil nichts mehr zu sagen hat. die im 9. jahrhundert waren es die adalgoze, von den man nicht viel weiss, dann die grafen von fenis, schliesslich die grafen von rheinfelden, eigentliche vorläufer der herzöge von zähringen. bei deren aussterben 1218 wurde huttwil kyburgisch, geriet im grafenkrieg zwischen savoyen und kyburg in den strudel der widersacher. deshalb wurde der flecken mit einer mauer befestigt und erhielt er einen schultheiss.

in der schlacht von laupen 1339 war man auf geheiss des adels auf österreichisch-burgundischer seite, gegen bern, verlor mit den herrschaften aber den krieg. huttwil wurde von berner truppen aus rache im jahr darauf vollständig zerstört, später wieder aufgebaut. der guglerkrieg um das kloster st. urban, destabilisierte die herrschaft der kyburger nur zwei generationen später erneut. huttwil wurde 1378 an die freiherren von grünenberg verpfändet, und gelangte über einen mittelsmann 1408 an die stadt bern, die ihr territorium kräftig ausdehnte. huttwil kam so zum amt trachselwald, ohne aussicht, selber einmal ein regionales verwaltungszentrum zu werden. das interesse der stadt bern an huttwil beschränkte sich nach der reformation auf einen sicheren ort nahe der kantonsgrenze zu luzern und damit auch an der scheidelinie zwischen den konfessionen.

seinen eigentlichen aufschwung erlebte huttwil im 19. jahrhundert. 1834 brannte der ort nach der liberalen revolution im kanton nun zum dritten mal nieder, und wurde er im spätklasizistischen stil wieder aufgebaut. die strassenführung im kern verläuft seither geometrisch, einzig die reformierte kirche widersetzt sich den geraden. die vorherrschende länge des städtchens im oberen langetental wird durch die eisenbahn, deren station leicht ausserhalb des zentrums liegt, verstärkt. die verbesserten verbindungswege liessen am ende des 19. jahrhunerts neben dem traditionellen gewerbe vor allem die möbelfabriaktion aufkommen, die bis zur krise am ende des 20. jahrhunderts die meisten arbeitsplätze stellte. seither stagniert die bevölkerungszahl bei knapp 5000 einwohnern. nicht alle, die in huttwil aufwachsen, wollen bleiben!

huttwil, wird mir nach einem aufenthalt klar, ist eine kleinstadt des übergangs zwischen ehemals burgundischem und alemannischem gebiet, zwischen adelherrschaften im südosten und nordwesten, zwischen bern und luzern. die topografie prägt diesen raum des transits, der durchgang zu fuss, zu pferd, mit kutsche, bahn oder auto verstärkt in. für einheimische wie der einheimische gross- und gemeinderat adrian wüthrich genauso für zaungäste, wie den vorbeibloggenden

stadtwanderer.

der königsmörder von altbüron

ein thema der schweizer geschichte, das wir nicht gerne haben. die beteiligung des niederen adels aus dem aargau am mord an könig albrecht I. eine spurensuche im luzernischen hinterland.

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blick von fern, von nah und hinunter: der geschichtsträchtige felsen von altbüron wo einst das schloss stand (und heute bärbi miterkundet) (fotos: stadtwanderer)

am briefkasten steht heute ein bürgerlicher name mit bindestrich. das staatliche haus selber wirkt nicht sehr bewohnt. doch auf dem dorfplan von altbüron steht an der stelle, an der es steht, “schlössli”. und wer das rottal hinunter wandert, erkennt es hoch über dem felsen als eines der ersten noch vor der dorfkirche.

die freiherren von altbüron und ihre erben

die mittelalterliche burg, die der wanderer auf dem fels vermutet, wurde 1309 abgetragen. die burgbewohnerInnen wurden zuvor hingerichtet, und die ländereien, die ihnen gehörten, gingen an die kommende des deutschordens in hitzkirch. und seither gibt es in altbüron keine freiherren mehr.

das ursprüngliche geschlecht derer von altbüron starb 1269 aus. es hatte die urbarmachung des rottales durch die zisterziensermönche von st. urban auf der rechten seite des rottales begleitet; auf der linken seite kümmerten sich die freiherren von grünenberg, die klostergründer, darum. die erben waren die freiherren von balm, zu deutsch, die vom felsen. sie übernahmen die burg in luftiger höhe und herrschten in der zeit des interregnums ziemlich selbständig im grenzgebiet zwischen schwaben und burgund, was der historische aargau damals war.

die revindikation des reichs

1273 wurde graf rudolf von habsburg römischer könig, kaiserantwärter und herrscher über die deutschen herzogtümer. das reich, das die staufer fast 20 jahre zuvor hinterlassen hatten, war weitgehend zerfallen, und so bildete die revindikation, die zurückführung des königsgutes in die händes des ursprünglichen eigners, die hauptaufgabe seines königtums. zuerst griff er nach osten aus, wo sich der böhmische könig ottokar verselbständigt hatte. alle er die machtfrage auf dem schlachtfeld an der march entschieden hatte, setzte er seine beiden söhne, albrecht und rudolf, als herzöge von österreich ein. doch albrecht mochte nicht teilen, versprach seinem bruder das herzogtum schwaben, erweitert um das elsass und den aargau. und eine auszahlung seiner rechte in österreich.

zwischenzeitlich hatte könig rudolf seinen blick nach westen gewandt, ins burgundische. das königreich aus dem 10. jahrhundert war fast ganz zerfallen. das stärkste übrig gebliebene geschlecht in unseren breitengraden waren die savoyer, von jeher die rivalen der habsburger, denn während des interregnum herrschten sie als stellvertreter des königs, richard von wales, der die britische insel nie verlasse hatte. eine wirkliche wiederherstellung des zerfallenen im königreiches im westen gelang ihm aber nicht. so könnte er seinen sohn rudolf nicht als burgundischen herrscher einsetzen, wie er es sich erhofft hatte.

rudolf, der herzog, starb noch vor seinem vater rodolf, dem könig, sodass albrecht 1291 alleine regierte. und sich an keine abmachungen mehr hielt. in schwaben herrschte johann, der sohn des herzogs, doch ohne für die entgangenen rechte in österreich von seinem onkel ausbezahlt worden zu sein. deshalb schmiedete johann mit unzufriedenen freiherren namentlich aus dem aargau, welche die harte hand des königs auf ihre güter fürchteten, einen adlesaufstand.

der königsmord

1308 war es soweit. in winterthur war man familiär versammelt, als der könig den gästen zum abschied blumen überreichte. “ich lasse mich nicht mit blumen abspeisen, ich will, was mir gehört”, soll johann von schwaben das geschenk kommentiert haben. am andern tag ritt der könig nach rheinfelden zu seiner frau. doch als er im wasserschloss die flusslandschaft passieren wollte, lauerte ihm johann mit vier seiner vasallen auf, und erschlugen sie gemeinsam ihren eigenen könig.

rudolf von balm, der herr über altbüron, gehörte zu den treuesten anhängern von johann, die beim morden mithalfen. dafür büsste er wie die anderen verschwörer mit dem leben, und ihre ländereien wurden in der folge eingezogen. die witwe des königs liess an der stelle, an der ihr mann ermordet worden war, das kloster königsfelden errichten. von da aus regierte sie in der folge die unbotmässigen untertanen im aargau mit strenger hand.

das verdrängte thema und sein weiterleben

in altbüron erinnert heute nichts mehr direkt an den königsmord und an die beteiligung ihres freiherrn. selbst der briefkasten am steolen weg zum schlössli ist mit scotch zugeklebt, fast so als wollte man sagen, lasst uns in ruhe. in der dorfgeschichte, zwischen post und raiffeisenkasse aufgestellt, hält man sich mit diesbezüglichen informationen ebenfalls zurück, sodass niemand von aussen auf die idee eines königsmörders aus altbüron kommen würde. “parricida” nennen die chroniken die mörder, was noch schlimmer ist, denn es heiss so viel wie “vatermörder”.

wenigstens dieses wort hat in der politsprache der schweiz überlebt. in der zeitung, die ich auf der fahrt lese, ist die rede von vatermördern in der grünen partei, welche den präsidenten leuenberger stürzen sollen, weil die partei zwischenzeitlich wahlen verliert.

stadtwanderer

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im mittelpunkt des mittellandes im mittelalter

bevor sich die eidgenossenschaft etablierte, hatte das mittelland des mittelalters einen herrschaftlichen mittelpunkt: den schlossberg von melchnau, von wo aus die herren von langenstein-grünenberg ihre tätigkeiten zwischen den habsburgern und bern entwickelten, bis sie zerrieben wurden.

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impressionen von der ruine langenstein-grünenberg im bernischen melchnau (fotos: stadtwanderer)

auf dem melchnauer schlossberg sollen frührer durch burgen gestanden sein. von der schnabelburg sieht man heute nichts mehr. die burg langenstein erkennt man nur noch in umrissen. denn der sandstein, in den sie gebaut worden war, wurde bis ins 19. jahrhundert gebrochen. dafür sieht man die grundmauern der burg grünenberg mit burgfried, zwei palassen und einer kapelle noch recht gut. bericht vom rundgang durch die verbliebenen ruinen, di im mittelalter mittelpunkt des mittellandes waren.

gruenenberg_rekonstruktion_kleindie herren von langenberg stammten aus dem oberaargau. ihr sitz war die auf der burg ob melchnau. ihre grosse tat war die stiftung des klosters st. urban, unten im benachbarten rottal. das war 1194. doch nur wenig später sterben sie aus. die grünenberger, eigentlich ministeriale der konstanzer bischöfe, begüterte freiherren im mittelland, markgräflerland und elsass, traten das prominente erbe an. 1218, bei der heirat zwischen den grafen von kyburg und savoyen, amtet ihre ulrich gar als trauzeuge.

geschickt platzierten sich die grünenberger in der gefolgschaft der grafen, herzöge und könige von habsburg, ohne ihre selbständigkeit zu verlieren. das gelingt unter anderem auch dadurch, dass sie mit den schultheissen von bern, insbesondere den von bubengergs, heiratspolitik betrieben. ihren eigentlichen höhepunkt hatten die grünenberger 1375 im guglerkrieg, geführt von angeblich erbberechtigten nachfahren der habsburger aus der champagne, die einen verheerenden feldzug ins mittelland unternahmen, das kloster st. urban besetzten, dann aber von den bauern der gegend unter führung der grünenberger geschlagen und von den berner aus dem mittelland vertieben wurden.

doch nur 8 jahre später, im burgdorfer krieg, standen die freiherren erstmals auf der falschen seite, und verloren sie mit den kyburgern gegen die ausgreifende stadt bern. 11 jahre später wiederholte sich das gleiche in der schlacht von sempach, wo sie auf habsburgischer seite kämpften und gegen die ebenso expansive stadt luzern unterlagen. das ist typisch für die eidgenossenschaft dieser zeit: der adel wird durch die städte verdrängt, deren stadtherren und gewerbetreibende zur neuen herrschaftlichen und ökonomischen oberschicht auch im oberaargau avancieren und die streitsüchtige adelsherrschaften durch verwaltungsmässig geführte territorialherrschaften ablösen.

noch einmal versuchen die grünenberger fuss zu fassen, verlagerten ihren hauptsitz nach rheinfelden und breisach, deren stadtherren sie vorübergehend werden. 1428 wohnten sie dem berühmten ritterturnier in basel bei, bei dem sich abenteurer aus aller welt massen und über das cervantes seinen don quixote schrieb.

doch mit den neuen verbindungen gerieten die grünenberger endgültig in die europäische territorialpolitik, und gingen sie endgültig unter. denn im alten zürichkrieg kämpfen sie erneut auf habsburgischer seite gegen bern, schwyz und basel, und wurden sie in der schlacht bei st. jakob an der birs vom den den habsburgern herbeieilenden truppen des angehenden französischen könig vernichtend geschlagen. so bleibt ihnen nichts mehr anders übrig, als ihren besitz im oberaargau direkt oder indirekt an die stadt bern zu verkaufen.

beim streifzug durch die ruinen wird mir klar, wie bedeutsam das adelsgeschlecht der freiherren von langenstein und grünenberg nicht nur als klostergründer, sondern auch als grund- und gerichtsherren mitten im mittelland waren, bevor sich die eidgenössische territorialpolitik bermerkbar machte, die alles, was nach habsburg aussah in den strudel zog, bis nur noch wenige grundmauern von ihrer grösse zeugen.

stadtwanderer

schweizer erinnerungsorte

am stoff der historisch gewachsenen selbst- und fremdverständnisse der schweiz weiterweben, um im eigenen alltag wie in der öffentlichkeit mit ihnen besser umgehen zu können, verspricht der basler historiker georg kreis jenen, die zu seinem buch “schweizer erinnerungsorte” greifen.

Kreis_Orte_UGin der alten eidgenossenschaft nahm man orte wörtlich, waren es doch die mitglieder der eidgenossenschaft. mit der mediationsakte wurden daraus 1803 kantone, die seit 1848 gliedstaaten des bundes sind. wenn der historiker georg kreis in seinem jüngsten buch von “orten” spricht, dann meint er das anders, im übertragenen sinne, denn es geht ihm um signifikante referenzpunkte der kollektiven erinnerung der schweiz. einfacher ausgedrückt interessieren ihn gemeinplätze, die das reden über die schweiz, in der schweiz und ausserhalb von ihr, erleichtern.

pierre nora, historiker in frankreich, hat hierfür 1980 den begriff der lieux de mémoire geprägt und damit eine welle von charakteristischen geschichtsbüchern in halb europa ausgelöst. kreis tut es ihnen mit dem buch “schweizer erinnerungsorte” gleich. im untertitel nennt er es speicher der swissness, aus dem er 26 verdichtungen herausgeholt hat.

die zahl 26 ist wohl nicht zufällig, denn die schweiz hat heute 26 kantone. geboten werden aber keine porträts der gliedstaaten, wie sie zur eidgenossenschaft kamen. vielmehr geht es in diesem buch gleichzeitig um das rütli und die landsgemeinde, wilhelm tell und bruder klaus, einsiedeln und marignano, solddienste, beresina-lied und bourbaki-panorama, winkelried, pestalozzi, guisan, gilberte de courgenay und heidi, den gotthard und den bernhardiner, das chalet und das grand hôtel, die rösti und die toblerone, das soldatenmesser und die swissair, die grande dixence und das bankgeheimnis, die swatch-uhr und das nicht gebaute atomkraftwerk in kaiseraugst. voilà les lieux de mémoire suisse.

das ergibt weder eine vollständige wanderung durch die schweiz, noch einen chronologischen abriss der schweizer geschichte. doch entsteht so ein undogmatischer und reichhaltiger essay über schweizer identität. kreis versichert sich ihr in diesem buch nicht zuletzt, weil sie brüchig geworden ist. doch es ist kein trauern über vergangene grösse des kleinstaates, genauso wenig wie es ein lauter schrei ist, angesichts der angst der schweizerInnen in der welt. vielmehr wird, bilanziere ich nach der lektüre, ein lebendiges weben am stoff von selbst- und fremdverständnissen geboten, die in bild und text präsentiert werden, um die bezüge, die politik, kultur und historikerInnen in der öffentlichkeit machen und die wir unserem alltag mehr oder minder bewusst übernehmen, besser einordnen zu lernen.

eingefleischten stadtwanderer-leserInnen muss man das ja eigentlich nicht mehr erklären!

stadtwanderer

das esch musig!

bern am ende des 15. jahrhundert: das ist eine lebensfrohe stadt mit stolz über sieg im kampf gegen den herzog von burgund. das ist eine marktstadt für das lokale gewerbe wie für den fernhandel aus frankreich und italien. und das ist eine stadt der musik, der gaukler und der pfeifer. in der kirche ertönt die orgel, die chöre erfüllen ihren raum mit gesang, und in den bürgerhäusern horcht man den tönen der instrumente, welche die renaissance verkörpern.

musik
doch in der stadt, die überschwängliche lebte, mehrten sich nach einer generation des überflusses die zeichen der umkehr: die reformation erfasste 1528 die politik und die kirche. die klöster wurden geschlossen, der staat wurde neu geordnet. das leben auf der strasse folgte strengen regeln, fast so wie im hochmittelalter. die künstler verschwanden mit samt ihren werken. singen, tanzen und musizieren wurden bis auf weiteres verboten. sitte und zucht waren wieder angesagt!

doch so ist die geschichte: sie bewahrt die erinnerung an das vergangene im stadtbild, in bibliotheken und in archivschachteln. die musik aus dem spätmittelalter ist zwar verstummt, aber sie ging nicht verloren. sie verbirgt sich immer noch in berns gassen, sie bleibt festgehalten in zahllosen notenbüchern, und sie inspiriert unentwegt die zeitgenössischen mediävistInnen.

zum beispiel in der könizer kirche, dem sakralster, herrschaftlichsten und geheimnisvollsten ort unserer gegend, wo seit diesen tagen eine ausstellung zu spätmittelalterlichen melodien gezeigt wird und ab nächsten sonntag eine serie von vorträgen zum thema mit musikalischen und kulinarischen genüssen.

stadtwanderer

mit arno borst die kulturgeschichte des bodenseeraums erwandern

“mönche am bodensee” heisst das bemerkenswerte buch von arno borst, das ich in diesen weihnachtstagen lese. denn bald schon beginnt meine vorlesung an der uni st. gallen, nach der ich mich jeweils mit der lokalen kulturgeschichte der ostschweiz beschäftigen will.

9783905707304arno borst war professor für mittelalterliche geschichte in konstanz, als er mit dem schreiben begann. 1976 hielt er öffentliche vorträge über die christianisierung des bodenseeraumes und stiess damit auf grosses öffentliches interesse. aus der bearbeitung all der fragen, die ihm gestellt wurden, entstand das fast 700seitige buch, das 1978 erstmals erschien, und ihm den Bodensee-Literaturpreis einbrachte. gerade rechtzeitig zu weihnachten 2009 ist es, zwei jahre nach dem tod von borst, im libelle-verlag neu editiert und hübsch bebildert in der vierten auflage erschienen.

borst war nicht irgend ein mediävist. vielmehr gilt er als einer der ganz grossen der mittelalterspezialisten in europa überhaupt. 1986 wurde er mit dem deutschen historikerpreis, 1996 gar mit dem balzan-preis geehrt, dem “nobelpreise” für geisteswissenschaften, geehrt. einer der greifbarsten gründe für seine herausragende stellung ist seine packende erzählkraft. seine bücher lesen sich wie krimis, sind aber nicht erfunden. doch kleben sie nicht wie die vieler anderer historiker an den quellen, sondern berichten vom leben. die erzählungen sind durchaus plastisch, und nur dort von nötig, setzen sie sich kritisch mit der fachdiskussion oder den quellen selber auseinandern. das erleichtert die lektüre ungemein.

das buch zur lokalen kulturgeschichte des bodenseeraum beginnt, wie könnte es anders sein, mit dem wandermönch kolumban. nur ein oder zwei jahre wirkte er am bodensee, doch löste der zeitgenossen von gregor dem grossen und mohammed die entscheidende wende zur missionierung der landbevölkerung aus. wohl 611 kam der akstisch-strenge ire über tuggen und arbon nach bregenz, um sich, wie schon zuvor in den vogesen, der christianisierung der heiden zu widmen. “Als die Einheimischen ihrem Gott Wodan ein Bieropfer bringen wollten, zerschlug ihnen Kolumban den Kessel. Sie reagierten unterschiedlich, die einen bewunderten den kräftigen Alten, die andern schimpften über die Beleidigung der Götter. Die Fronten verhärteten sich rasch”, fasst borst die begnung zusammen, um gleich zu den folgen überzugeben. kolumban verliess den bodenseeraum bald darauf, um nach rom zu gelangen. er kam bis bobbio in der po-ebene, wo er nochmals eine klostergemeinschaft gründete, in der er, ohne den papst je getroffen zu haben, auf seinem wanderweg von bangor nach rom verstarb.

hätte kolumban nicht irgendwann gallus getroffen, der die lokale bevölkerung am bodensee viel besser als der strenge eremit verstand, wäre, so borst, kolumbans anwesenheit am bodensee wohl nur episode geblieben. doch so wurde sie zum startschuss für die grosse kultivierung des urwaldes in der weiteren umgebung und die anhaltende zivilisierung der alemannischen bevölkerung. denn gallus entschied sich, 13 kilometer waldeinwärts, an der steinach, ein klösterliches leben zu führen, das für das mönch- und nonnentum am bodensee stilbildend wirken sollte, und ausdem mit fränkischer föderung das reichskloster st. gallen entstand.

den spannungsbogen von der ankunft kolumbans bis hin zur reformation behandelt das buch von borst in alles ausführlichkeit. dabei schimmert das anfängliche thema immer wieder auf: wie kolumban und gallus verhielten sich die landfremden kartäuser einerseits, die alemannischen bauern andernseits. “Die Heimatlosen wirkten in diesem Raum als radikale Weltverächter, die Einheimischen als engagierte Weltgestalter”. das mönchtum am bodensee, schliesst das buch, hatte wegen vier eigenschaften erfolg: wegen der geregelten grundform des soziallebens, des mönchsgelübdes zur wahrung der religiösen inhalte, dem kloster, das für konstanz in der gesellschaft sorgte, und der pilgerfahrt, die zur grundlage für die konfessionelle identifikation vieler menschen wurde. bis die reformation zu beginn der neuzeit genau dieses weltbild zerbrach. wer es mit beredeten worten nacherleben will, der oder die lese das grandiose buch über adels-, priester-, laien- und bürgerkirchen im bodensseeraum.

im februar 2010, füge ich bei, beginnt mein kurs an der uni st. gallen, auf dessen weg von bern ich das buch von borst jeweils dabei haben werde. denn die mönche und die universitäten, sagt arno borst, sind die zwei institutionen, in denen das mittelalter weiter lebt. auch im bodenseeraum.

stadtwanderer

in die fremde gegangen – und fremd geblieben

im kommenden jahr feiert new bern in north carolina das 300jährige bestehen – und anderem mit einer ausstellung und einem video im berner historischen museum. wirklich näher bringt mir das die amerikanische stadt jedoch nicht.

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logo zu den feierlichkeiten in new bern

die karriere von christoph von graffenried verlief zur wende vom 17. zum 18. jahrhundert genau so, wie man es von einem patriziersohn erwartete: heirat im angesehenen kreis der stadtadeligen, studium im ausland, eintritt in die politik, landvogt in yverdon. der nächste schritt wäre die aufnahme in den kleinrat, der berner stadtregierung, gewesen. hätte es nicht einen familienzwist gegeben, der vater und sohn trennte.

christoph beschloss auszuwandern. im frühling 1710 reiste über basel, rotterdam und london in die neue welt, nahm im namen des englischen königs land, um eine hafenstadt an den gestaden des atlantiks zu bauen. new bern nannte er sie – in erinnerung an die alte heimat.

auf der suche nach rohstoffen ausserhalb des stadtbodens geriet von graffenried mit den indianischen ureinwohnern in konflikt, wurde er gefangen genommen, und als er wieder frei war, konnte er nur konstatieren, dass new bern weitgehend zerstört worden war und sich die meisten neusiedler davon gemacht hatten.

auch der stadtgründer blieb nicht mehr lange im wilden amerika. 1713 kehrte er ohne jegliches geld nach bern zurück. die neue welt sah er nie mehr. vielmehr verfolgte er den weg der alten welt weiter, wurde schlossherr in worb, und verstarb er daselbst weitgehend vereinsamt.

viele der bernerInnen, die mit von graffenried emigriert waren, kehrten nicht zurück. vielmehr wanderten sie in der neuen welt weiter und liessen sich beispielsweise in new york nieder, um ein teil des american dreams zu werden.

das alles hat die beziehungen zwischen old and new bern nicht befördert. zwar erinnert das stadtwappen von new bern an den berner bär im berner wappen, und man findet auch einige strassenschilder in new bern, welche an die stadtgründernamen erinnern. doch sonst sind die beiden städte ihre eigenen wege gegangen.

darüber kann auch die jubiläums-ausstellung im berner historischen museum nicht hinweg täuschen. zu klassisch ist der aufbau, zu sparsam wird mit dem material umgegangen, um interessierte zu überraschen. die internet-seite dazu ist “nett”, aber nicht packend, sodass von einem neuanfang nicht die rede sein kann. kein einziges projekt wird vorgestellt, dass die menschlichen verbindungen zwischen den namensvetterstädten über die gründungsfamilie hinaus befördern würde.

so bleibt ein fazit nach dem ausstellungsbesuch: vor dreihundert jahren gingen einige berner in die fremde, wurden von den fremden nicht eben freundlich empfangen. die beiden bern verhalten sich seither wie fremde – und dürften es auch über die anstehenden feierlichkeiten hinaus so bleiben. schade!

stadtwanderer

die rekatholisierung der waadt

meine familie stammt aus der waadt und machte die reformation nicht mit. 473 jahre lang war man eine konfessionelle minderheit. der rekatholisierung der waadt wegen sind die longchamps nun wieder in der mehrheit.

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kathedrale von lausanne, ursprünglich katholisches gotteshaus, bleibt zentrum der waadtländer reformierten, obwohl sie heute nicht mehr in der mehrzahl sind.


die reformation der waadt

im 1536 eroberten bern und freiburg die savoyische waadt, und stellte die neue herrschaft die konfessionelle frage: in der kathedrale disputierte man, welches die richtige resp. die falsche lehre sei. guillaume farel, der die neue religionsauffassung in genf eingeführt hatte, vertrat seine thesen auch in lausanne. die katholischen pfarrer waren zwar zugegeben, hielten sie sich aber zurück. denn der disput war keine religiöse erörterung, sondern eine frage der macht. nach nur einer woche war der auffassungsstreit entschieden: die waadt wurde von oben herab reformiert.

ausnahmen bildeten einige wenige kirchgemeinden, die schon 1475 beim angriff der berner auf burgundische besitzungen zerstört, von den angreifern aber wieder aufgebaut worden waren. seither galten sie als untertanen von bern und freiburg und hatten als solche seit dem kappeler frieden von 1531 das recht, ihre konfession selber zu bestimmen. und so blieben sie katholisch, selbst wenn die wadt als ganzes eidgenössisch und reformiert wurde.

insbesondere in echallens und einigen weilern rund herum hielt sich der katholische glaube. zu den romtreuen familien zählten auch meine vorvorfahren. viele von ihnen leben unverändert in malapalud, seit diesem jahr ein unselbständiger weiler von assens, einem vorort von echallens.

und nun sind die leute im stolzen kleinstädtchen des gros-de-vauds keine konfessionelle minderheit mehr! denn eine kirchenzählung ende oktober 2009 ergab, dass es in der waadt wieder mehr katholikInnen als reformierte gibt.

die rekatholisierung der waadt
bei der gründung des kantons waadt 1803 behielt man die religiösen verhältnisse bei. die reformierte kirche wurde staatskirche. der wandel der konfessionellen verhältnisse setzte erst in den letzten 50 jahren ein; er hat mindestens zwei gründe:

zuerst kennt die reformierte kirche zahlreiche kirchenaustritte. heute sind nur noch knapp 36 prozent der waadtländer einwohnerInnen eingeschriebene reformierte. ihre kirche ist seit der einführung der neuen staatsverfassung von 2003 nicht mehr staatskirche, und seit dem neuen kirchengesetz von 2007 hat sie auch viele sonderrechte verloren. wie die katholische kirche ist sie nur noch eine öffentlich-rechtliche körperschaft, die bis 2025 subventionsberechtigt ist.

sodann hat sich die waadtländer gesellschaft in der nachkriegszeit erheblich geändert. es kamen italiener, portugiesen. auch lateinamerikanerInnen und franzosen wanderten in grosser zahl über genf ein und liessen sich in lausanne oder anderen städten nieder. mit ihnen kam auch der katholische glaube in die waadt zurück. heute gehören gut 36 prozent dieser konfession an. man ist zwar immer noch etwas schlechter gestellt im “reformierten” kanton, zwischenzeitlich aber bevölkerungsreicher.

dabei darf eine dritte entwicklung nicht übersehen werden: die ehemals geschlossen katholische, dann fast geschlossen reformierte waadt kennt zahlreiche menschen, die nichts mehr mit kirchengebundener konfessionszugehörigkeit zu tun haben. 20 prozent oder mehr sollen sie ausmachen. und wer auf der einen oder anderen seite dazugehört, geht in der überwiegenden zahl schon längst nicht mehr in die kirche. sowie ich auch!

und so bin ich als katholisch getaufter atheist, der kirchen am liebsten ausserhalb von messen besucht, nun gleich doppelt in der mehrheit. was leute wie ich glauben, wird man nie genau wissen. doch weiss man, dass die katholiken in der waadt in der mehrheit sind.

was einfacher ist als das umgekehrte …

stadtwanderer

wo die zauberformel ausgeheckt wurde

der stadtwanderer führte auf seiner weihnachtsführung für die fdp schweiz deren heutige bundespartei- und bundesratsfunktionäre unter anderem dorthin, wo die zauberformel für die sitzverteilung im bundesrat entstand.

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schliessfachraum schanzenpost heute: ort, wo sich die generäle der parteien in ruhe trafen, um sich zur etablierung der zauberformel abzusprechen (foto: stadtwanderer).

die historische bundesratswahl
am morgen des 17. dezember 1959 wählte die vereinigte bundesversammlung eine neue bundesregierung. gleich vier bundesräte waren zu wählen. das resultat kennt man: die sp wurde mit gleich zwei sitzen in den bundesrat integriert. die kk (heute cvp) und die fdp verloren je einen.

vor der wahl schaute alles auf phillipp etter. 25 jahre war der zuger schon bundesrat gewesen. zurücktreten wollte der konservative doyen jedoch nur, wenn auch ein freisinniger gehen würde, damit die sp als wählerstärkste partei je einen sitz der kk und der fdp bekommen könnte.

lanciert wurde die wahl am 19. november 1959. etter und der freisinnige hans streuli erklärten in einer konzertierten aktion ihren gemeinsamen rücktritt. nur einen tag später demissionierte auch thomas holenstein, und bloss 4 tage trat auch giuseppe lepori aus gesundheitlichen gründen zurück.

aus eigener kraft hätte die kk ihre position nicht halten können, doch entschied sie sich, gemeinsame sache mit der sp zu machen. denn mit ihr hatte man ebenfalls eine mehrheit unter der bundeskuppel.

die rechnung ging auf. am abend hatten die sp, kk und fdp je zwei bundesräte, die bgb einen. die bürgerlichen regierungsweise der schweiz nahm damit ihr ende. das regierungsoppositionssystem von 1848 wich damit dem konkordanzsystem. die vier grossen parteien waren in der landesregierung integriert, was politische stabilität garantiert. die kk war vom katholisch-konservativen pol im bundesrat zur mehrheitsbeschafferin geworden, die sowohl mit der fdp wie auch mit der sp regieren konnte. damit die kk nicht des linkskurses verdächtigt wurde, wählte man nicht die offiziell bundesratskandidaten der sp, sondern andere sozialdemokraten.

der königsmacher
stratege dieser bundesratswahl war der aargauer martin rosenberg. der generalsekretär der kk formte aus der katholisch-konservativen partei eine bürgerliche zentrumskraft, die mit der sp sozial- und infrastruktur betrieb, mit der fdp aber unerverändert finanz- und wirtschaftspolitik prägte. das war die neue dynamik, die nur ein parteipolitisch und personell veränderter bundesrat ermöglichte, und 44 jahre lange die parteipolitische formierung des schweizer bundesrates bestimmen sollte.

die legende, die ein nachfolger von rosenberg verbürgert, will es, dass sich der kk-stratege und sein sp-partner fst schon symbolisch in der berner schanzenpost trafen. gelegenheit zum unbeobachteten trefen bot der morgendlich gang zum postfach, das die parteigeneräle von damals noch selber lehrten. dabei legte man dabei die täglichen zwischenziele fest, um am wahltag die gewünschte parteipolitische vertretung im bundesrat zu haben.

nun weiss fdp-general stefan brupbacher, wo die kk seiner partei den dritten sitz im bundesrat strittig machte. fragt sich nur, wann er dem stadtwanderer erzählt, wo vor der bundesratswahl des 16. septembers 2009 der entscheidende ort war, an dem er mit der svp und teilen der sp den angriff der cvp auf den zweiten fdp-sitz erfolgreich abwehrte und die wahl von didier burkhalter sicherte!

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eine typisch schweizerische integrationsgeschichte

logisch gesehen haben referendum, bundesbahnen und wilhelm tell nichts gemeinsam. doch sind sie alle ein teil unseres nationalen zusammenhalts. ein stück bundesstaatsgeschichte.

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der luzerner joseph zemp, erster bundesrat der kk, bereitete den weg der katholisch-konservativen aus dem ghetto in die spitzen des bundesstaates vor.

der bundesstaat und der bürgerkrieg
der sonderbundskrieg von 1847, durch die radikalen gegen die konservativen angefangen, hinterliess in der schweizerischen eidgenossenschaft tiefe spuren. gesiegt hatten im bürgerkrieg die truppen von general henri dufour, was verschiedene fortschrittliche politische strömungen zu einer nationalbewegung, dem freisinn, zusammenschloss. dieser sollte nun zielstrebig den neuen bundesstaat von 1848 gründen. am 12. september wurden dessen verfassung in kraft gesetzt.

die kantone des sonderbunds, allesamt katholisch-konservativ, gingen zum neuen bundesstaat auf distanz. der föderalistische staatenbund aus den zeiten des wiener kongresses von 1815 entsprach ihrem rückwärtsgewandten staatsverständnis besser. es sollte fast ein halbes jahrhundert vergeben, bis sich die bürgerkriegsgegner politisch versöhnen konnten.

die bundesverfassungsreform

der entscheidende schritt fiel bei der ersten generellen revision des bundesverfassung. nötig geworden war sie durch den deutsch-französischen krieg von 1870/71. aus nationalem interesse musste die schweiz das militär zentralisieren, doch scheiterte dies in der ersten volksabstimmung. 1874 brauchte es eine zweite volksabstimmung, um eine eine neue bundesverfassung durchzubringen. von den katholisch-konservativen forderungen blieb nicht viele hängen, aber die möglichkeit, zu gesetzesbeschlüsse im parlament eine referendumsabstimmung durchführen zu können. das kannte man bis dato nur in den kantonen.

genau dieses instrument brach die freisinnige aleinherrschaft. am 6. dezember 1891 krachte es in dessen gebälk, denn es scheiterte die zentralisierung der eisenbahnen, die für die industrielle erschliessung des landes so wichtig geworden war. 69 prozent – die förderalisten aller sprachregionen, insbesondere aber die katholisch-konservativen kantone – widersetzen sich bei einer hohen stimmbeteiligung dem zukunftsprojekt.

die aufnahme der kk in den bundesrat
um eine staatskrise zu verhindert, trat emil welt, der aargauer radikale, der das gesetz verantwortet hatte, unmittelbar nach verkündung des abstimmungsergebnisses zurück. nur 11 tage später, am geschichtsträchtigen 17. dezember, war es soweit: mit emil zemp wurde erstmals ein nicht-freisinniger bundesrat. ein wahlgang genügte, um den entlebucher, der die kk-fraktion in der bundesversammlung führte, mit 129 von 154 stimmen zum neuen von post und bahn zu machen.

unter dem druck seiner sechs freisinnigen kollegen wandelte sich zemp vom anwalt von eisenbahngegner zum befürworter zentralistisch geführter staatsbahnen. das neue eisenbahngesetz formulierte kein geringer als er selber. er war es auch, der es durch die räte brachte und 1898 in der volksabstimmung erfolgreich verteidigte. 1902 konnten auf dieser basis die schweizerischen bundesbahnen aus der taufe gehoben werden.

neues geschichtsbild
doch nicht nur dies: auch wilhelm tell, der legendäre schächentaler eigenbrötler, der 1291 den fremden habsburgsichen vögten aus dem aargauischen aareschloss widerstand geleistet hatte, avancierte nun zum nationalhelden. der berner ferdinand hodler porträtierte ihn nachhaltig, und in altdorf widmete man ihm eine überlebensgrosse statue, gleichsam als sinnbild, dass aus oppositioneller älpler eidgenössische staatsleute geworden waren.

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das schächtverbot: die erste erfolg- reiche volksinitiative in der schweiz

am kommenden freitag ist meine letzte stadtwanderung des jahres mit publikum. das heutige nasskalte wetter lädt zur vorbereitung ein. zum beispiel zur recherche über die erste angenommene volksinitiative.

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schächten, hebräisch für schlachten, einer kuh.

das initiativrecht auf eidgenössischer ebene gab es seit 1848, doch nur in form einer totalrevision der bundesverfassung. den durchbruch schaffte joseph zemp, fraktionspräsident der katholisch-konservativen, der partialrevision zulassen wollte. 1891, auf dem höhepunkt der nationalen welle zur 600-jahr-feier der eidgenossenschaften, schafft die forderung die hürde in der volksabstimmung.

die volksinitiative für ein schächtverbot
das schächtverbot sollte nach nur zwei jahren initiativrecht zur ersten verfassungsänderung werden, welche das volk gegen die behörden durchsetzten. unterschriften gesammelt hatten die tierschutzvereine aus dem deutschschweizer mittelland. sie störten sich an der art des tötens von tieren, wie es unter juden mit dem halsschnitt ohne vorgängige betäubung üblich war.

in nur 4 monaten kamen 83000 signaturen zusammen, – umgerechnet auf heute wäre das rund eine halbe million unterschriften. der bundesrat überwies das geschäft direkt dem parlament. der ständerat verwarf es ohne gegenstimme, während es im nationalrat 49 von 110 stimmen machte. die prinzipien der gewissens- und kultusfreiheit waren dem parlament wichtiger als die forderung der tierschützer.

am 20. august 1893 stimmten 329’000 personen oder 49 prozent der stimmberechtigten ab. resultat: 60,1 prozent zustimmung beim volksmehr, 11 1/2 kantone beim ständemehr. das deutlicheste ja gab es im kanton aargau mit 90 prozent, wo die initianten auch ihr zentrum hatten. im der französisch- und italienischsprachigen schweiz berührte das thema kaum. im kanton wallis votierten mit 97 prozent am meisten dagegen.

die historische würdigung
das “historische lexikon der schweiz” ortet antisemitische tendenzen sowohl im abstimmungskampf. im jungen bundesstaat von 1848 waren die juden nicht gleichberechtigt mit den christen. rechtlich wurden sie erst 1866 resp. 1874 auf französischen druck hin gleichgestellt. die rezession der 1870er jahre führte jedoch zu einer gesellschaftlichen stigmatisierung der jüdischen minderheit. so wurden zum sündenbock in der rezession der 1870er jahre. in der volksabstimmung von 1893 entlud sich diese spannung anhand des umstrittenen schächtens. federführend in der kampagne dafrü war ulrich dürrenmatt, redaktor der berner volkszeitung aus dem oberaargau.

der erfolg der initiative war nicht restlos: juden konnte koscheres fleisch aus frankreich importieren.

swissvotes“, die datenbank zu den schweizer volksrechten, zeigt, dass seither 16 weitere volksinitiativen angenommen worden. 154 begehren aus dem volk scheiterten.

das jüngste kind in dieser familie ist das minarett-verbot, dem die schweiz am 29. november 2009 zustimmte. damit widersetzte es sich der empfehlung von bundesrat und parlament, welche keine neuen konfessionellen ausnahmeartikel in der bundesverfassung haben wollten. der entscheid der volksabstimmung gilt unmittelbar, den zur umsetzung des bauverbots braucht es keine gesetzliche grundlage.

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stadtwandern zu “50 jahre nach der geburt der zauberformel”

die stadtwanderer-saison 2009 hatte ich eigentlich schon abgeschrieben. doch nun kam heute eine überraschende anfrage. und so wird es am 17. dezember noch eine überraschungstour geben.

SCHWEIZ GESAMTBUNDESRAT 1959details verrate ich noch nicht. hintergründe, warum ich zugesagt habe, aber schon: am 17. dezember 1959 waren bundesratswahlen. jene, die zur zauberformel führten, der zusammensetzung des bundesrates aus dem damals vier grössten parteien, die bis 2003 unbestritten blieb, und indirekt bis heute nachwirkt.

wählerstärkste politische kraft war 1959 die sp mit 26 prozent, gefolgt von der fdp mit 24 prozent, der kk (heutige cvp) mit 23 prozent und der bgb (heutige svp) mit 12 prozent.

ursprünglich bestand der bundesrat aus lauter freisinnigen. 1891 gaben sie, zwischenzeitlich zur fdp mutiert, einen sitz der kk ab, 1919 einen zweiten an diese partei und 1929 einen auch an die svp. die absolute mehrheit verlor die fdp 1943, als man erstmals auch die sp im bundesrat berücksichtigt wurde. doch trat ihr einziger vertreter 1953 zurück, sodass während 6 jahren die zusammensetzung nicht eindeutig war. meist regierten in dieser übergangsphase je drei vertreter der fdp, der kk und ein mitglied der bgb die schweiz.

die bgb war zwar im bundesrat nicht nötig, doch brauchte es sie, um im parlament mehrheitsfähig zu sein. mit drohungen im parlament auszuscheren, konnte die bgb immer wieder ihre sonderinteressen für das gewerbe oder die landwirtschaft durchsetzen. so hielt die kleine partei die grossen in schach.

um daraus ausbrechen zu können, schmideten kk und sp einen plan für die aufnahme der linken in den bundesrat. die katholisch-konservativen verzichteten auf einen ihrer sitze. gemeinsam machte man in der folge der fdp einen solchen streitig, sodass die neuen formel “2:2:2:1” entstand und konkordanz nun parteipolitisch übergreifend verstanden wurde.

man weiss es: diese formel brachte der schweiz politische stabilität. für sachpolitische entscheidungen brauchte es zwei der drei grossen parteien, ohne dass immer die gleichen allianzen entstehen musste, was die politik flexibel hielt. und in der variablen arithmetik für mehrheiten hatte erstmals in der geschichte des bundesstaaten die kk die schlüsselposition inne.

erst mit dem erstarken der svp, die in den 90er jahren den erstarkenden nationalkonservatismus in der bevölkerung in sich aufnahm, veränderte sich das parteipolitische gefüge grundsätzlich. 2003 wurde die zauberformel gesprengt. die cvp verlor ein mandat an die svp, die wahlarithmetische gründe geltend machte. doch scheiterte 2007 die wiederwahl christoph blochers, und seither sind zahlenmässige begründungen durcheinander geraten. immerhin, 2009 kehrte man wieder zur rechnerischen verteilung nach wählerprozenten zurück, als die cvp versuchte, der fdp einen sitz streitig zu machen.

genau 50 jahre nach der grossen weichenstellung in der bundesratswahlgeschichte freut es mich, eine ganz spezielle stadtwanderung machen zu können, welche der entstehung der voraussetzung politischer konkordanz mit politprominenz nachgehen wird.

ohne zweifel, das wird ein anlass zum nachdenken sei, wo die schweiz heute steht, und wie es weiter gehen könnte. mehr dazu später!

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