Teil 5 der Luzerner Stadtwanderung: Rathaus

Teil 5 der Luzerner Stadtwanderung

Das Rathaus

oder

Die schwierige Geburt der Demokratie

1848 war wie 1789 und 1830 ein europäisches Jahr der Revolutionen. Auch der Bundesstaat von heute ist damals in seinen Grundzügen entstanden. Und er sollte der einzige dauerhaft neue 48er Staat bleiben. Eine Mischung aus Demokratie und Föderalismus macht sein Geheimnis aus. Dafür brauchte es neue Ideen zum Staat, einen Bürgerkrieg und vermittelnde Stimmen. Und immer wieder hatte es mit Luzern zu tun.

Die liberale Bewegung in den Kantonen

1830 gelang es den Liberalen im Kanton Tessin, eine Verfassung einzuführen, die sich gegen das restaurative Regime des Wiener Kongresses von 1815 wandte. Es war die Geburt der repräsentativen Demokratie in der Schweiz.
Die Mehrheit der Kantone, unterstützt von der neuen Meinungspresse, folgte 1831, auch der Kanton Luzern war dabei. Die Stadt wählte in der Aufbruchstimmung 1832 erstmals einen Stadtpräsidenten. Wieder war es ein Pfyffer, nun aber Casimir, der Kandidat der Liberalen.
Die Liberalen versuchten, einen Bundesstaat zu gründen. Doch die Tagsatzung blieb gespalten. Radikalen ging der Vorschlag zu wenig weit, Konservative wollten lieber gar nichts.
Luzern hätte wieder Hauptstadt werden sollen, lehnte das aber in einer außerordentlichen Volksabstimmung 1833 ab. Das Projekt war eine Todgeburt!

Die konservative Reaktion in Luzern

1841 gewannen die Konservativen im Kanton Luzern die Wahlen dank einer neuen demokratisch-konservativen Bewegung. Sie stützte sich auf Gebetsvereine auf dem Land. Sie waren papsttreu oder ultramontan und gegen den liberalen Staat.
Die Sieger führten eine konservative Verfassung ein. Der Ultramontane Konstantin Siegwart-Müller führte diese wieder als Schultheiß. Er holte die Jesuiten zurück und entwickelte einen Plan zur konfessionellen Teilung der Schweiz.
Im benachbarten Aargau bildeten sich paramilitärische Freischaren, unterstützt von Offizieren und Radikalen. Sie versuchten, die Ultramontanen in Luzern zu stürzen. Doch misslang das zweimal.
Nachdem der Bauernführer ermordet wurde, bildete sich ausgehend von Luzern ein Sonderbund der katholischen Kantone. Er wollte den Katholizismus und die kantonale Souveränität verteidigen. Als er medial aufflog, verlangte die Tagsatzung die militärische Auflösung.
Nach gut drei Wochen endete der Krieg mit dem Sieg der Bundestruppen vor den Toren der Stadt Luzern. Siegwart-Müller und mit ihm die Jesuiten flohen. Alle anderen Sonderbundeskantone kapitulierten ohne Widerstand. Luzern wählte ein liberales Parlament.

Der liberale Bundesstaat

Eine Kommission der Tagsatzung arbeitete 1848 mitten in der ausbrechenden europäischen Revolution eine neue Verfassung mit repräsentativer Demokratie und Personenfreizügigmeit aus.
Die Ausgestaltung des Parlaments als Nachfolge der Tagsatzung war die Knacknuss. Ignaz P. V. Troxler aus dem Luzernischen Beromünster wies den Weg. Der liberale Philosoph der katholischen Demokratie optierte nach amerikanischem Vorbild für ein Zwei-Kammer-Parlament. Beide sollten separat entscheiden und gleichberechtigt sein.
Der Verfassungsvorschlag wurde mehrheitlich von den Kantonen angenommen. Dafür waren 15.5 Kantone. Dagegen votierten 6.5 Kantone. Luzern sagte aber nur deshalb Ja, weil man, wie beim Veto, die Abwesenden zu den Zustimmenden zählte.
Luzern unterlag als Sitz von Regierung und Parlament des neuen Bundesstaats Bern. Es sollte der letzte Anlauf sein, sich an die Spitze der Schweiz zu setzen. Zu viele Sympathien hatte der Widerstand im Bürgerkrieg gekostet!

Die Geburt der Volksrechte in den Kantonen

In diese knapp 20 Jahren entstanden repräsentative und direkter Demokratie. Erstere schufen die Liberalen mit Verfassung, Grundrechten und Parlament, das vom männlichen Volk gewählt wurde. Zweiteres entstand schrittweise. Luzern war zweimal vorne mit dabei. Die Liberalen befürworteten 1831 eine Volksinitiative, um Verfassungen unter Beteiligung des Volks ändern zu können. Wiederum war Troxler ihr Vordenker. Die konservativ-demokratische Partei führte 10 Jahre später ein Veto gegen Parlamentsbeschlüsse ein. Troxler gab auch hier den Segen dazu.
Allerdings waren es noch keine Volksrechte wie heute. Denn die Stimmabgabe erfolgte sie in Gemeinde-Versammlungen. Die heutige direkte Demokratie wurde erst in den 1860er Jahre von der demokratischen Bewegung auch in den Kantonen erkämpft und zwischen 1874 und 1891 auf Bundesebene eingeführt.

Schweizer Demokratie und Luzerner Rathaus

Noch ein Wort zur Schweizer Demokratie und dem Luzerner Rathaus. Die Volksrechte hierzulande haben verschiedene Ursprünge. Sie entstanden lokal und kantonal. Sie wurden erst danach auf Bundeebene realisiert.
Das passt zum Rathaus. Auch seine Architektur ist eine Mischung: Der Hauskörper wurde im Stile der bürgerlichen Rennaissance gebaut, aber mit einem Dach kombiniert, das aus dem bäuerlichen Luzerner Hinterland stammen könnte.

Teil 1 Der Schweizerkönig
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Teil 2 Gegenreformatorische Propaganda
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Teil 3 Mühe mit der Trennung von Kirche und Staat
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Teil 4: Hauptstadt der Helvetischen Republik
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Teil 4 der Luzerner Stadtwanderung: der Mühleplatz

Teil 4 der Luzerner Stadtwanderung

Der Mühleplatz

oder

die improvisierte Hauptstadt der Helvetischen Republik

Am 31. Januar 1798 dankte das Luzerner Patrizat ab. Freiwillig! Schneller als Luzern war man damit nur in der Waadt und im Baselbiet gewesen. Doch das waren Untertanengebiete, Luzern war ein souveräner Staat.
Die Freude war allerdings kurz. Frankreich setzte eigene Truppen ein, um die Durchgangswege nach Italien zu sichern. Politisch garantiert werden sollte das durch einen straf organisierten Zentralstaat. Eine eigenständige fortschrittliche Luzerner Republik war da hinderlich.

Die Hauptfrage
In Aarau, das die Franzosen militärisch besetzt hatten, wurde am 12. April 1798 die Helvetische Republik ausgerufen. Das Gebiet etwa wie die Schweiz heute bildete ihn. Erstmals überhaupt hatten wir eine Verfassung. Sie garantierte Menschenrechte, Gewaltenteilung und politischen Rechten für alle erwachsenen Männer. Die Republik bekam eine Flagge, eine Fanfare und den Franken.
Aarau war jedoch zu klein. Bereits im Oktober wurde die Hauptstadt nach Luzern verlegt. Nun schwor Luzern auf dem alten Mühleplatz auf die helvetische Verfassung.
Das helvetische Direktorium bezog den Ritterschen Palast. Der Senat kam ins alte Rathaus. Der Große Rat hätte im aufgehobenen Ursulinenkloster tagen sollen, doch musste man das zuerst umbauen. So kam er in den Theatersaal des ebenfalls aufgehobenen Jesuitengymnasiums unter.

Innen- und außenpolitische Fronten

Der Mühleplatz war symbolisch. Er war der alte Treffpunkt der Begegnungsöffentlichkeit. Jetzt kam die moderne Versammlungsfreiheit- und Medienöffentlichkeit dazu.
Es gab zwei politische Richtungen: Demokraten aus den ehemaligen Untertanengebieten und Republikaner mit reichen Städtern wie in Luzern, die im Ancien Regime keine politischen Rechte gehabt hatten. Gegner der Republik waren die entmachteten Patrizier und die Kirchen, die mit dem französischen Laizismus nichts anfangen konnten.
Vor allem hatte das revolutionäre Frankreich Gegner. Die Monarchien Oesterreich, Russland und Grossbritannien führten den 2. Koalitionskrieg gegen Frankreich unter anderem auf helvetischem Boden.
In zwei Schlachten ging es 1799 namentlich um Zürich. Das erste Mal siegte die Koalition, das zweite Mal Frankreich. Doch wurde die Lage Luzerns nach der ersten Schlacht so prekär, dass die Hauptstadt nun nach Bern verlegt wurde. Luzern war am Ende nur während sechs Monaten eine improvisierte Hauptstadt gewesen.

Napoleon baut die Republik um
Von 1800 bis 1802 destabilisierten vier Staatsstreiche die Republik. Zuerst verloren die Demokraten, dann die Republikaner, denn die Föderalisten unter dem Schwyzer Adeligen Alois von Reding bildeten jetzt die Opposition gegen die Franzosenherrschaft.
Napoleon, zwischenzeitlich alleiniger Consul in Paris, wechselte mehrfach die Fronten. Den Republikanern war er gegen die Demokraten 1801 mit dem Zensuswahlrecht statt dem allgemeinen Wahlrecht entgegen gegen gekommen. Zugunsten der Föderalisten versuchte er 1802 den Einheitsstaat in einen Bundesstaat mit kantonalen Kompetenzen umzubauen.
Das war der Abschied vom revolutionären Projekt. Aber auch ein Neuanfang. Denn Napoleon liess darüber abstimmen.

Die erste Volksabstimmung in der Schweiz
Frankreich kannte nur das Veto. Man stimmte da auch ab, zählte aber anders als heute. Denn die Abwesenden galten als heimlich Zustimmende.
So passierte die Verfassung in der Abstimmung von 1802 komfortabel. Ohne diesen Trick wäre sie abgelehnt worden.
Der Zorn der Verlierer entlud sich in einem Aufstand, der zum Bürgerkrieg auswuchs: Es ging nur noch um Pro und Contra Einheitsstaat.
Bonaparte intervenierte nochmals und diktierte 1803 die Mediationsverfassung, welche die Weiterentwicklung der Schweiz erlaubte. Der spätere Kaiser sollte sich fortan „Vermittler der Helv. Republik“ nennen.
Zerstört war die ständische Gesellschaft, entstanden war jedoch keine Bürgergesellschaft. So hielt auch die Mediationsverfassung nur solange, als Frankreich auf den europäischen Schlachtfeldern siegte. 1815 war das definitiv vorbei.

Luzern, Luzernerin und Luzerner
Luzern war stets franzosenfreundlich, zu Beginn republikanisch, pro Einheitsstaat, und man stimmte für die Verfassung. Demokratisch war man nicht, dafür waren die Städter zu elitär.
Eine Niederlage gab es aber für die Städter. Das Land wurde abgetrennt und bildete von nun an den Kanton Luzern. Von da aus sollte die konservative Welle erst noch kommen!
Typisch für das Luzern von damals war das patrizische Ehepaar Rüttimann. Anna wirkte als Beraterin verschiedener Persönlichkeiten, blieb aber in der zweiten Reihe. Sie unterstützte die neue Republik, war aber gegen Demokratie. Denn das Volk sei dafür nicht reif.
Vinzenz war hatte wohl jeden wichtigen Posten seiner Zeit einmal inne gehabt. Und er gehörte von 1803 der ersten Luzerner Kantonsregierung an, die er, 1814, mit Hilfe patrizischer Gesellschaften in einem Staatsstreich stürzte. Selber blieb er bis 1831 Schultheiß von Luzern.
Als junger Mann zählte der wendige Politiker zur Fortschrittspartei, die die Wende brachte, dann zu den Republikanern, schließlich war er der Notable Luzerns, der für seine Empfänge bekannt war und einen Hauch Wiener Kongress und die Restauration in die Leuchtenstadt brachte.

Teil 3 der Luzerner Stadtwanderung: der Rittersche Palast

Teil 3 der Luzerner Stadtwanderung

Der Rittersche Palast
oder
Luzern im Spannungsfeld von Kirche und Staat

Noch fehlt eine wichtige Reminiszenz zum kirchentreuen Luzern der Vergangenheit. Sie betrifft den Ritterschen Palast, das Prestigegebäude der Stadt im Stil der Renaissance.

Luzius Ritters Vermächtnis
Erinnert wird hier an Luzius Ritter, meist einfach Lux wie Licht genannt. Ursprünglich war er Sattler, dann Händler und Geldverleiher. Er stieg in der Luzerner Politik bis zum Schultheiß auf. Im Militär war er Oberst der französischen Armee. Der reichste und mächtigste Luzerner war Verteiler der königlichen Pensionen.
Das war kurz vor Ludwig Pfyffer. Anders als dieser hatte er jedoch keine Nachfahren, und so gibt es auch keine Ritter-Dynastie. Dafür gibt es den Ritterschen Palast! Er ist dem Medici-Haus in Florenz nachempfunden.
Für den Bau engagierte Ritter Hans Lynz. Der Steinmetz hatte sich in Zürich einen guten Namen als Baumeister gemacht.

Der Skandal
Kurz vor Bauende lud Lux Lynz im Beisein eines Geistlichen zum Mittagessen ein. Dabei bezichtigte er ihn, vor Ostern nicht gebeichtet zu haben, weil er dem falschen Glauben anhänge. Der Skandal war perfekt!
Lynz wurde in Ketten gelegt. Im Wasserturm verhörte und folterte man ihn. Als Ketzer wurde er aus der Stadt geführt und enthauptet.
Nur einen Tag danach starb allerdings auch Schultheiß Ritter. Offiziell erkrankte er; genaueres weiß man nicht. Selbst das Historische Lexikon der Schweiz schweigt sich dazu aus.

Verwendet von Jesuiten und Revolutionären
Beide Streithäne haben den fertigen Palast nie gesehen! Belebt haben ihn der Reihe nach die Ordensleute der Jesuiten, die Direktoren der Helvetischen Republik und die Regierunfügsräte des Kantons Luzern.
Mit den Revolutionären aus Frankreich kam auch die Idee des Laizismus in die Schweiz. Damit meinte man die aufklärerische Idee der strikten Trennung von Kirche und Staat. Vollständig gelungen ist das mit anerkannten Landeskirchen bis heute nicht.

Die aktuelle Volksabstimmung
Luzern erlebt das aktuell anhand einer Volksabstimmung. Am 25. September entschiedet der Kanton in einer Volksabstimmung, ob er 400000 CHF für den Kasernenneubau der Schweizergarde im päpstlichen Rom spenden soll – oder eben nicht.
Regierung und Parlament des Kantons Luzern sind dafür, die bürgerlichen Parteien unterstützen sie. Dagegen sind SP, Grüne und Grünliberale, tatkräftig angefeuert von den Freidenkenden. Das ist eine kirchenkritische Bewegung der Zivilgesellschaft, ganz im Sinne des Laizismus.

Wie Befürworter und Gegner argumentieren
Im Vatikan versteht man die Garde noch heute als Schweizer Institution. Deshalb müsse die Schweiz für den Kasernenbau in Rom aufkommen. Der Bundesrat hat 5 Millionen Franken gesprochen. Mithelfen sollen die Kantone, religiöse Vereinigungen und Private. Die Mehrheit der Kantone spendet, in der Regel eine Solidaritätsfranken pro EinwohnerIn.
Prominenteste Befürworterin ist Doris Leuthard, ehemalige Bundesrätin der CVP. Da Ja-Komitee betont den Nutzen der Garde für die Tourismusdestination Schweiz. Sie sei die beste Botschafterin der Schweiz in der ganzen Welt!
Die kirchenkritischen Gegner argumentieren, Luzern habe einschneidende Sparrunden hinter sich. Solidarität müsse man mit Minderbemittelten üben, nicht mit dem steinreichen Vatikan. Auf ihren Plakaten schicken sie ihrerseits Papst Franziskus auf Betteltour!
Am 25. September wissen wir mehr, wie der ausgerechnet Kanton Luzern dazu steht.

Teil 2 der Luzerner Stadtwanderung: auf der Kapellbrücke

Teil 2 der Luzerner Stadtwanderung

Auf der Kapellbrücke

oder

Luzern als Brandherd im Zeichen des Konfessionalismus

Die Kapellbrücke mit dem Wasserturm ist das eigentliche Wahrzeichen Luzerns. Nichts fotografiert sich so gut, wie die Verbindung der beiden ursprünglichen Stadtteile, Gross- resp. Kleinstadt genannt.

Luzern brennt
In der dramatischen Nacht auf den 18. August 1993 gab es schreckliche Bilder. Die Kapellbrücke brannte fast ganz aus. Sie musste umfassend wiederhergestellt werden.
Zu den strittigen Fragen gehörte die Restaurierung der beschädigten historisch bedeutsamen Dreiecksbilder im Dachgiebel. Sollten Kopien von allen oder nur noch verwendbare Originale aufgehängt werden? Die Stadt war für die Originale. Die Jungfreisinnigen und ein Sponsor für die Kopien. Die Mehrheit in der Volksabstimmung war anderer Meinung. Deshalb sieht man heute noch die Originale, wenn auch nur noch die erhaltenen.
Doch das ist typisch für das traditionsbewusste Luzern. Und der Brückenbrand war typisch für Luzern, das immer wieder im Zentrum politischer Brandherde stand.

Die Dreiecksbilder
Entstanden ist der Bilderzyklus zu Beginn des 17. Jahrhunderts unter dem damaligen Stadtschreiber Renward Cysat. Er organisierte die Aktion bei den regimentsfähigen Familien der Stadt. Jede konnte eines Spenden, die er dann mit Texten zu einem großen Ganzen zur eidgenössische resp. luzernische Geschichte verband. Verfolgt wurde ein erzieherisches Ziel. Denn es ging um den guten Bürger, der nur glücklich werde, wenn er sich für den Solddienst zur Verfügung stelle.
Das war starke Propaganda und charakteristisch für die Zeit der konfessionellen Spaltung. Mit der Gegenreformation ging die katholische Kirche in die Gegenoffensive.Sie konterte die Kritik der Reformatoren am Soldwesen scharf. Die Distanz wuchs, die Fronten verhärtetensich. Man spricht vom Zeitalter des Konfessionalismus.

Vorposten der Gegenreformation
Ludwig Pfyffer war nicht nur Söldnerführergewesen. Als Schultheiss war er auch Sprecher der Gegenreformation unter den Eidgenossen.
Als erstes kam unter Ludwig der Jesuiten-Orden 1574 nach Luzern. Er sollte ein Gymnasium führen und den männlichen Nachwuchs der Patrizier streng katholisch zu erziehen. Nach Ludwigs Zeit baute das Ursulinen-Kloster eine analoge Mädchenschule auf. Sichtbarstes Zeichen der Ordensherrschaft wurde die Jesuiten-Kirche am Ende der Kapellbrücke.
Die kirchliche Herrschaft krönte der apostolischen Nuntius, der in den 1570er Jahren in Luzern einen ständigen Sitz bekam.
Ursprünglich wollte man die ganze Eidgenossenschaft in einem Bistum neu ordnen, mit Luzern im Zentrum. Doch der Plan scheiterte.
Dafür entstand 1586 der Goldenen Bund, um den Katholizismus zu schützen. Luzern stand auch da im Mittelpunkt. Es folgten die katholischen Nachbarn Uri, Schwyz, Unterwalden und Zug, die mit Luzern die Fünf Orte, bildeten. Ferner nahm man die katholischen Orte Solothurn und Freiburg in den Bund auf, die sich vom reformierten Bern abgewandt hatten. Das gab in der Tagsatzung sieben Stimmen, die minimale Zahl um das einzige gemeinsame Gremium der Eidgenossenschaft die Mehrheit zu erlangen.

Blutige Konfessionskriege
1656 und 1712 kam es zweimal zu Schlachten auf eidgenössischem Boden, wobei sich Truppen der verfeindeten katholischen und reformierten Orte gegenüber standen. Das hatte es seit 1531 als direkte Folge der Reformation nicht mehr gegeben. Damals hatten die Katholiken gesiegt.
Beide Kriege wurden mit Schlachten in Villmergen entschieden. Der Ort liegt nördlich von Luzern, etwa dort, wo sich die Wege von Süd nach Nord und West nach Ost damals kreuzten.
Das erste Mal gewannen die Katholiken. Das zweite Mal setzte sich das reformierte Bern durch. 4000 Tote gab es damals an einem Tag – es war blutigste Schlacht auf Schweizer Boden unter Eidgenossen aller Zeiten. Und es war das Ende der katholischen Hegemonie in der Eidgenossenschaft die Ludwig Pfyffer begründet hatte.
Zum Krieg aufgerufen hatte übrigens nicht der damalige Schultheiss; er war nach einem ersten verlorenen Gefecht für einen Friedensschluss. Vielmehr war der päpstliche Nuntius Giacomo Caracciolo der Kriegstreiber. Er wiegelte die kirchentreue Landbevölkerung gegen die Stadt auf und forderte einen neuerlichen Schlacht, die im Desaster endete.
Nach der Niederlage der Fünf Orte verlangten sogar diese treuen Katholiken den Rückzug des Nuntius. Sein Nachfolger musste ein weniger fanatischer Würdenträger sein.

Alles andere als demokratische Verhältnisse
Von Demokratie kann ich auf der Kapellbrücke außer der Abstimmung über die Dreiecksbilder 2014 nicht berichten. Die Kapellbrücke mag heute die TouristInnen-Attraktion Luzerns sein. Historisch gesehen steht sie für die konfessionellen Spaltung die Eidgenossenschaft, die das Bündnis an den Rand ihrer eigenen Zerstörung brachte.
Das war ein Brand von viel größerem Ausmass als 1993. Und Luzern stand Mitten drin!

Teil 1 der Luzerner Stadtwanderung: Die Pfyffers von Altishofen

Der Schweizerkönig und das exklusivste Patriziat der alten Eidgenossenschaft


Bild 1: Ludwig Pfyffer von Altishofen
Bild 2: Der Schrecken der Schlachtfelder im 16. Jahrhundert von Urs Hofer
Bild 3: Chimäre des Soldwesen von Niklaus Manuel
Bild 4: Löwendenkmal in Luzern, gestiftet von der Familie Pfyffer

Die Schweiz war nie ein Königreich. Doch gab es immer Figuren, die man „Schweizerkönige“ nannte. Gemeint waren damit Quasi-Monarchen.
Einer davon war Ludwig Pfyffer von Altishofen, und er wohnte in Luzern!
Die Britannica, die britische Enzyklopädie der Welt, schreibt über Pfyffer: „Swiss military leader, spokesman for Roman Catholic interests in the cantons, and probably the most important Swiss political figure in the latter half of the 16th century.“
Kenner wissen: Wenn man beim Nachnamen wie „Pfyffer“ einen Zusatz wie „von Altishofen“ führt, dann ist man ein Adeliger aus Luzern (gewesen).
Doch Ludwig war mehr! – Er war Patrizier, ja, er war der Begründer des Luzerner Patriziates.
Bezeichnet wird in der Geschichte eine Gruppe von Familien, die politische Macht unter sich aufteilten. Zürich hatte das in vermodernder Zeit, Bern, Solothurn, Freiburg und Genf auch.
In Luzern bestimmten knapp 30 Familien nach 1571 die Stadtpolitik bis die revolutionären Franzosen kamen.

Militärunternehmer Pfyffer von Altishofen

Ludwig war Militärunternehmer meist in französischen Diensten. Seinen unsterblichen Ruf begründete er 1567, als er Frankreichs König Karl IX. und seine Mutter Katharina dei Medici, sicher von Meaux nach Paris geleitete. Davor waren sie von hugenottischen Truppen eingekesselt worden.
Ludwig stieg mit dieser Aktion zum Obersten der französischen Königsgarde auf. Zwei Jahre später sollte sich das auszahlen.
Frankreich befand sich im Bürgerkrieg zwischen Katholiken und Calvinisten. Schrecklicher Höhepunkt war, vor genau 450 Jahren, die Bartholomäus-Nacht – ein mörderischer Flächenbrand gegen die Hugenotten, der einen Versöhnungsversuch vereitelte. Denn der Hugenotten-Führer Henri hatte die Schwester von Karl IX. heiraten können, was die katholische Kirche und das Haus Valois auf dem Thron bedrohte.

Die Verschwörung im Luzerner Rat

Im Luzerner Rat war eine Verschwörung im Gang. Zwei Sippen, eine davon die Pfyffers, schlossen sich zusammen, um sich der großzügigen Geldzahlungen aus Frankreich zu bemächtigen. Doch wurden sie verraten und zu happigen Geldbußen verurteilt – allen voran Jost Pfyffer, Ludwigs Bruder und amtierender Schultheiß, der die Stadt verlassen musste. Auch Ludwig bekam eine saftige Busse, durfte aber bleiben.
Frankreichs Königs vereitelte Schlimmes, indem er höchst persönlich in Luzern intervenierte. Er stellte Ludwig einen lobenden Adelsbrief aus. Wohl war auch ein Check dabei!
Denn nur zwei Monate später war Ludwig Nachfolger seines Bruders Schultheiß von Luzern. Und er sollte es bis zu seinem Tod fast ein Viertel Jahrhundert bleiben.

Patronage und Soldhandel

Was der König betrieb, war Patronage. Er war der Patron, Ludwig der Klient. Im positiven Sinne war der König ein Gönner, im negativen schuf er so Günstlinge. Vetternwirtschaft nennt man das auch, und es war damals die Regel.
Der Klient musste nur dafür sorgen, dass seine Sippe über Generationen an der Macht war und blieb. Denn seine Leistung bestand in der Sicherung. On Soldtruppen. Nationale Armeen gab es noch keine. Aber Nachfrager und Anbieter von privaten Armeen.
Der Papst, Könige und Herzöge waren die prominentesten Nachfrager. Und Luzern war der prominenteste Anbieter.
Man schätzt heute, dass zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert 50000 Luzerner Jungs als Söldner verkauft wurden. Die meisten kamen vom Land, hatten keine Aussicht auf einen Bauerhof und erhofften sich so Einnahmen. Zwei von fünf kamen nicht mehr zurück. Und war wieder zu Hause war, war nicht selten verkrüppelt.

Wirtschaftssystem in der Kritik

Die Reformatoren wandten sich gegen den mörderische Soldhandel. Nach der Niederlage der Eidgenossen in Marignano 1515 schlug ihre Stunde. Doch selbst in reformierten Städten wie Zürich und Bern kehrte man nach einigen Jahrzehnten zum Soldhandel zurück.
In Städten wie Luzern stießen sie auf ein gut organisiertes Wirtschaftssystem. Banken liehen den Militärunternehmern Kredite. Damit rekrutierten und bezahlten sie Truppen. Waren sie siegreich, gab es reichlich Geld. Die Gewinne blieben bei den Militärunternehmern, die sich damit ein gutes Leben in den Städten leisteten und Politik betrieben.
Abgesichert durch ein Patriziat, das den Zugang zu den Einkünften klein hielt. Noch heute verklärt das Löwendenkmal in Luzern, gestiftet von einem Nachfahren Ludwigs, den Blick auf den Soldhandel.

Zwischenbilanz

Der Titel «Schweizerkönig» war zu hoch begriffen. Denn weder die Eidgenossenschaft noch Luzern waren je ein Königreich. Doch kannte man aristokratische Strukturen. Dabei galt Luzern als das exklusivste Patriziat in der Eidgenossenschaft.
Man herrschte autokratisch, und man war höchst anti-demokratisch!

Autokratien demokratisieren. Stadtwanderung zum Luzerner Beispiel

Luzerns Demokratisierung als Lehrstück

Am diesjährigen Global Forum on Modern Direct Democracy in Luzern wandere ich am 21. September für interessierte Teilnehmende durch die Stadt Luzern, um den Ort, seine Geschichte und die Gegenwart vorzustellen.
Hauptthema wird sein, welche Rolle Stadt und Kanton Luzern bei der Enteicklung, Beförderung und Behinderung der demokratischen Staats- und Regierungsform gespielt haben.
Gesponsert wird die Stadtwanderung von #Swissinfo.
Hier auf Facebook findet vorab ein etwas virtueller Rundgang statt. In einer losen Folge berichte ich bis zum Kongress über die folgenden Stationenund Themen:

1. Station: Pfyfferhaus oder der Schweizerkönig und das exklusivste Patriziat der Eidgenossenschaft

2. Station: Kapellbrücke oder die katholische Propaganda für die fremden Dienste

3. Station: Ritterscher-Palast oder frühneuzeitliche Skandale um Schultheissen, Bauherren und zwei Todesfälle

4. Station: Mühleplatz oder die improvisierte Hauptstadt der modernen Helvetischen Republik

5. Station: Rathaus oder Bürgerkrieg, Verfassungskämpfe und die Geburt von Demokratie und Volksrechten

6. Station: Schwanenplatz oder Pfefferfrauen und Gastgeberinnen vor und in vornehmen Hotels für den neuen Fremdenverkehr

7. Station: Bahnhofplatz oder Zeitgeist, Bahnhöfe, Gotthard-Tunnels und die Versöhnung der Katholisch-Konservativen mit dem liberalen Bundesstaat

8. Station: KKL oder die Luzerner Demokratie in der postmodernen Gesellschaft

Start ist morgen hier!

#BrunoKaufmann, #adrianschmid #RenatKünzi

From autocracy to to democracy. What Lucern‘s can tell us

Great to have Claude Longchamp as the lead guide for the 2022 Global Forum pre-event on Wednesday, September 21. He is inviting to a city walk in Lucerne with the following words:
“What Lucerne’s democratization can teach us.
At this year’s Global Forum on Modern Direct Democracy in Lucerne, I will be walking through the city of Lucerne on September 21 for interested participants to introduce the place, its history and the present.
The main topic will be the role that the city and canton of Lucerne have played in the development, promotion and obstruction of the democratic form of government.
The city walk is sponsored by #Swissinfo.
A somewhat virtual tour will take place here on Facebook in advance. In a loose sequence, I will report on the following stationsand topics until the congress:
1st stop: Pfyfferhaus or the Swiss King and the most exclusive patrician of the Confederation.
2nd station: Chapel Bridge or the Catholic propaganda for the foreign services
3rd station: Ritterscher-Palast or early modern scandals about mayors, builders and two deaths
4th station: Mühleplatz or the improvised capital of the modern Helvetic Republic
5th station: Rathaus or civil war, constitutional struggles and the birth of democracy and popular rights
6th station: Schwanenplatz or pepper women and hostesses in front of and in noble hotels for the new tourist trade
7th station: Bahnhofplatz or Zeitgeist, railroad stations, Gotthard tunnels and the reconciliation of Catholic conservatives with the liberal federal state
8th station: KKL or the Lucerne democracy in the postmodern society
Start here tomorrow!

Nachruf auf Judith Stamm

Die längste Diskussion gab es zum Buchtitel. Die Autorinnen und Autoren liebäugelten mit der Forderung “Machen Sie Platz, Monsieur.” Dem stand das wohlwollende “Nehmen Sie Platz, Madame” gegenüber. Die Präsidentin der Eidg. Kommission für Frauenfragen Judith Stamm entschied sich nach viel hin und her für letzteres.

Der Bruch mit dem Ritual
Dabei war Frau Stamm für ersteres bekannt geworden. 1986, als Kurt Furgler und Alphons Egli aus dem Bundesrat zurückgetreten waren, kandidierte die CVP-Politikerin, die erst 1983 zur Luzerner Nationalrätin gewählt worden war, keck für einen Sitz in der Landesregierung. Ohne offiziell nominiert worden zu sein. Und in beiden Wahlgängen. Um dem Prinzip der nötigen Veränderung Ausdruck zu geben!
Der Bruch mit dem Ritual sorgte mächtig für Aufsehen und löste viele Diskussionen aus! Doch sollte es anders kommen, denn die Pionierin wurde zweimal nicht gewählt. Platz in der Landesregierung nahmen Flavio Cotti und Arnold Koller Platz ein.
Zuvor hatte die Frauenkämpferin eine Motion zur Durchsetzung des Gleichstellungsartikels eingereicht, der seit 1981 fast folgenlos in der Bundesverfassung stand. Resultat des Vorstosses war 1988 die Schaffung des «Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Mann und Frau», das bis heute von eminenter Bedeutung ist. Ein Jahr später wählte der Bundesrat die promovierte Juristin zur Präsidentin der «Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen».

Grundlagenbericht zur politischen Repräsentation der Frau in der Schweizer Politik
Da zauderte Judith Stamm nicht lange. Mit Blick auf die Wahlen 1991 sollte erstmals ein umfassender Bericht zur mangelhaften politischen Repräsentation der Frauen in der Schweiz erscheinen, war ihre Idee. Dafür versammelte das Kommissionssekretariat eine Reihe von Forschenden, die das Thema interdisziplinär ausleuchten sollten.
Ich war junger Assistent am damaligen Forschungszentrum für Schweizer Politik der Universität Bern und bekam die Aufgabe, das Wahlverhalten der Frauen von 1971 bis 1987 systematisch zu analysieren. In aller Leute Mund war noch, dass Frauen damals konservativer wählen würden als Männer. Doch stand die Hypothese zur Diskussion.
Zu recht! Denn die Ergebnisse deuteten an, dass die Nichtwahl von Lilian Uchtenhagen bei den Bundesratswahlen 1983 eine Zäsur waren. Politisiert wurden damals insbesondere Frauen. Und sie wurden oppositioneller, auch leicht linker. Das konservative Bild brauch auseinander.

Eine Persönlichkeit der jüngsten Schweizer Geschichte
Der Höhepunkt der Karriere von Judith Stamm war 1996, als sie Nationalratspräsidentin und damit höchste Schweizerin wurde. Begonnen hatte der Aufstieg aber Mitte der 1980er Jahre, als es weit über die Repräsentation der Frauen in der Politik hinaus um die Gleichstellung ging, die im Recht ihren Anfang nehmen musste. Dafür stand unübersehbar die Luzerner Politikerin, die an die Möglichkeit der Veränderung institutioneller Politik glaubte.
Ich habe Frau Stamm als dezidierte, gleichzeitig respektvolle Pionierin der Frauenfrage in der helvetischen Politik kennen und schätzen gelernt, von der ich heute noch uneingeschränkt sage, sie war eine Persönlichkeit der jüngsten Schweizer Geschichte.
Gestern ist Judith Stamm nach einem ereignisreichen Leben 88jährig verstorben.
R.I.P.

Bericht von 1991: https://www.ekf.admin.ch/dam/ekf/de/dokumente/nehmen_sie_platzmadame.pdf.download.pdf/nehmen_sie_platzmadame.pdf
Biografie:
Zeindler, Nathalie (2008): Beherzt und unerschrocken. Wie Judith Stamm den Frauen den Weg ebnete. Zürich: Xanthippe Verlag

Biografie:

Raymonde Schweizer, die erste Kantonsparlamentarierin der Schweiz

Heute war ich auf Recherche in Neuenburg. Hintergrund war der Drehtag mit Swissinfo für den fünften „Brennpunkt Demokratie Schweiz“ am kommenden Dienstag. Thema wird die Behebung des grössten Demokratie-Defizits sein, nämlich der Wechsel vom Wahlrecht für Männer zu dem für Erwachsene.


Raymonde Schweizer, die erste Kantonsparlamentarierin der Schweiz 1960, beim Eintritt in den Neuenburger Grossrat

Bekanntlich gelang das landesweit erst 1971. 1959 scheiterte eine erste Abstimmung. 66 Prozent der stimmenden Männer waren dagegen, 19 Kantone auch. Ja sagten Genf, Waadt und Neuenburg. Alle drei führten noch im gleichen Jahr das Stimm- und Wahlrecht für Frauen in ihrem Kanton ein.
1960 gelang der ersten Frau in der Geschichte der Schweiz der Sprung in ein Kantonsparlament. Konkret war es die Lehrerin und spätere Direktorin an der Frauenarbeitsschule in La Chaux-de-Fonds, Raymonde Schweizer. Die überzeugte Gewerkschafterin und Feministin reüssierte auf der SP-Liste auf Anhieb und politisierte neun Jahre lang im Neuenburger Grossrat.
Natürlich wollte ich mehr Wissen über die Trendsetterin in einer Zeit, als die meisten Frauen in der Schweiz nicht einmal die einfachen politischen Rechte wie Wählen und Stimmen ausüben durften! Ich hatte vor Jahren auch ein Bild von ihr gesehen und auch archiviert. Aber ich fand es nicht mehr. Denn der Name war mir effektiv entfallen, und ich wusste nicht wo ich suchen sollte. Freundlicherweise half man mir heute im Historischen Museum der Stadt Neuenburg, fündig zu werden.
Ausgerechnet „Schweizer“, dachte ich mir heute Nachmittag. Denn ich erinnerte mich, dass Emilie Kempin-Spyri, die erste doktorierte Juristin in Europa, 1887 mit einer Anklage ans Schweizer Bundesgericht versuchte, die politischen Rechte von Männern auf Frauen auszudehnen. Ihr Argument war, „Schweizer“ sei ein generisches Maskulinum und stehe für beide Geschlechter. Das Bundesgericht beschied ihr, die Auffassung sei „ebenso
neu wie kühn“, und es wies die Klage rundweg ab.
Raymonde Schweizer hinderte das nicht, ein drei Viertel Jahrhundert Pionierin in Sachen Frauenvertretung in einem Kantonsparlament der Schweiz zu werden. Bravo!
Es war übrigens auch nicht das letzte Mal, dass Neuenburg voraus ging. 1971 zählte Tilo Frey zu den ersten 11 Frauen, die in den Nationalrat einzogen; und die Handelslehrerin, in Kamerun geboren, war auch die erste POC Parlamentarierin der Schweiz. Schließlich wurden 2021 58 Frauen in den 100-köpfige Neuenburger Grossrat gewählt – die allererste Frauenmehrheit in einem Kantonsparlament unseres Landes!

Stadtwanderung durch die Helvetische Republik und ihre erste Hauptstadt Aarau

Meine Stadtwanderung durch Aarau gedeiht weiter. Der rote Faden besteht darin, wie die Gewaltenteilung erstmals auf dem Boden der Schweiz realisiert werden sollte. Die Helvetische Republik von 1798, deren erste Hauptstadt Aarau war, bot die beste Gelegenheit dazu.

Plan Osterrieth von 1798 um das mittelalterliche Aarau durch ein modernes Quartier zur Hauptstadt zu machen

Für meine Wanderung habe ich 10 Stationen zusammengestellt, die ich hier gerne kurz vorstelle. Erste Austragung soll nächsten Donnerstag sein, wenn ich mit der Redaktion von #Swissinfo auf den Mitarbeitenden-Tag durch den Aargau gehe.

Ein Bild, das draußen, Baum, Gebäude, Himmel enthält.

1. Station: Alte Kanti
Erstes laizistisches Gymnasium der Schweiz, ursprünglich von Heinrich Pestalozzi inspiriert, das auch als erste Schule Turnen im Freien (Telliring) einführte

Ein Bild, das Gebäude, draußen, alt, Verwaltungsgebäude enthält.

2. Station: Meyer-Haus
Unternehmervilla, für deren Bau kurz vor der Revolution ein unterirdischer Stollen zur Entwässerung realisiert wurde, und in deren Keller eine Seidenbandfabrik war

Ein Bild, das Text, draußen, Gebäude, Auto enthält.

3. Station: Laurenzenvorstadt
total 15 Wohnhäuser im klassizistischen Stil für Beamte, von denen vier schnell fertig wurden, der Rest sich aber 25 Jahre hinzog

Ein Bild, das draußen, Gebäude, Verwaltungsgebäude, hoch enthält.

4. Station: Rathaus der Stadt
Ort, wo die Nationalversammlung die Verfassung vom 12. April 1798 beriet und wo die Republik danach ausgerufen wurde, erster Sitz des Parlaments und Gerichts

Ein Bild, das Baum, draußen, Haus, Gebäude enthält.

5. Station: Haus im Schlossgarten
Ort, wo das fünfköpfige Vollzugsdirektorium tagte, das die Regierungsgeschäfte erledigte

Ein Bild, das Straße, draußen, Gebäude, Verwaltungsgebäude enthält.

6. Station: Amtshaus
Ort, wo die Ministerien untergebracht wurden, das die Reformen der Landwirtschaft, der Steuern, der Schulen und ähnlichem realisieren musste

Ein Bild, das Baum, Gras, draußen, Pflanze enthält.

7. Station: Heinrich Zschokke Denkmal:
Schriftsteller aus Magdeburg, liberaler Staatsphilosoph, der als Schulreformer im neuen Kanton Aargau amtete und als Redaktor des Schweizerboten wirkte

Ein Bild, das Gebäude, draußen, alt, Verwaltungsgebäude enthält.

8. Station: Stadtbibliothek
Ort, wo der Stadtplaner das neue Nationaltheater bauen wollte, was aber nicht zustande kam, weil Aarau nicht mehr Hauptstadt war

Ein Bild, das Gebäude, draußen, Personen, Verwaltungsgebäude enthält.

9. Station: Vereinshaus
Ort, wo der Grosse Rat der Republik hinzog, weil es Rathaus zu eng war und sich die beiden Parlamentskammern wechselseitig störten

Ein Bild, das Himmel, draußen, grün, Gebäude enthält.

10. Station: Dach des Kunsthauses
Ort, von dem man die heutige Kantonregierung, das Parlament und Teil des Gerichts auf einmal sieht

In die Wanderung einfliessen lasse ich übrigens, wie Franziska Romana von Hallwil, eigentlich aus adeligem Haus die Revolution in Aarau nach Kräften unterstützte.

Stadtwanderer

PS: Weniger erbaulich war heute, dass mich die Kantonspolizei anhielt, als ich das Foto vom Haus im Schlossgarten (Nr. 5) machte, angeblich, weil ich Leute abfotografiere. Als ich auf mein Recht, das zu machen bestand, wollte sie mich zur Personenkontrolle mit auf dem Polizeiposten (im Amtshaus Nr. 6) mitnehmen.
Und ich dachte, das Ancien Regime sei in Aarau als erster Ort der Schweiz vor 224 Jahren überwunden worden …

Mit Lobbywatch auf Stadtwanderung

Ich war zu Besuch bei der «Konkurrenz». Denn auch «Lobbywatch» führt, wie ich selber auch, Stadtwanderungen zum Lobbyismus in Bern durch. Mein Bericht.

Anti-Lobbying-Aktivisten
Otto Hofstettler und Thomas Angeli sind im Hauptamt Redaktoren beim «Beobachter». Seit rund 10 Jahren betätigen sie sich im ehrenamtlichen Nebenamt auch als Lobby-Beobachter.
Angefangen hat das mit der Schaffung einer Datenbank, die bestrebt war, Licht ins Wirrwarr der Interessenbindungen von Parlamentsmitgliedern zu bringen. Darauf aufbauend ist Lobbywatch entstanden. Hinzu gekommen sind die beliebten Stadtrundgänge meist während der Legislaturperiode, die aus der Aktualität berichten.
Das ist die absolute Stärke der Führungen von Lobbywatch. Konkret, anschaulich und gut verständlich. Nicht alles bleibt unbestritten, was die beiden Aktivisten recherchieren und berichtet. Aber man nimmt zwischenzeitlich vieles gelassener.

Die Hierarchie der Anlässe
Zu den Besonderheiten der gestrigen Führungen zählte, dass auch der grüne Nationalrat Felix Wettstein teilnahm. Er selber war vor der Wahl ins Parlament Kinder-Lobbyist und schafft seit seiner Wahl auf der eigenen Webseite regelmässig Transparenz, was während den Sessionen in Bern so geht. Vor allem erklärte der Solothurner gestern die symbolische Bedeutung der Gastronomie für die Interessenvertretung: Werden die ParlamentarierInnen ins Bellevue-Palace eingeladen, handle es sich um einen erstklassigen Anlass. Zweitklassig sei es, wenn man sich beispielsweise im Lorenzini oder in der Schmiedstube treffe. In beiden Fällen gäbe es immer gutes Essen und meist auch informative Gespräche. Finde der Anlass dagegen direkt im Bundeshaus selber statt, sei er dritt- oder vierklassig, auf rasche Abwicklung der Geschäfte ausgerichtet, und es gäbe Sandwiches.

Orte des Lobbyings
Begonnen hat alles auf dem Bundesplatz, wo die Führung auch endete. Dazwischen machten man halt, wo sich Verbände ihren Lobbying-Sitz in Bern haben, wo professionelle Agentur tätig sind oder wo man sich zum ungezwungenen Gedankenaustausch trifft.
So an der Hotelgasse, wo es um die Einflussnahme auf die Rauchergesetzgebung gehe.
So vor DigitalSwitzerland, wo man die private eID unterstützt habe.
So vor der Schmiedstube, wo sich die Landwirtschaftslobby regelmässig treffe.
So vor dem Schweizerhof, wo Apple, iPhones und Kreislaufwirtschaft zusammen kommen.
Oder so vor der Agentur furrerhugi, wo man eine Kampagne zur Versorgungssicherheit mit Strom konzipiert habe.
Stets ging es um ein konkretes Beispiel aus den jüngsten Parlamentsverhandlung, die der Einflussnahme durch Verbände, Interessengruppen oder (ausländischen) Firmen ausgesetzt gewesen seien.

Umstrittener Einfluss des Lobbyings
Wie weit Beeinflussung reicht, wurde aber nicht immer klar. Das lag nicht an den Stadtführern, sondern an der Sache selber.
Offensichtlich wurde der Einfluss bei den Abstimmungen über die Agrarinitiativen 2021 und die im Parlament gebodigt neue Agrarpolitik. Weniger eindeutig war es aber bei der eID, die in der Abstimmung an einer gut gemachten Kampagne aus der Zivilgesellschaft scheiterte. Nochmals anders liegt der Fall beim Raucherschutz, wo zwei Lager einander gegenüberstanden, die sich beide mit Lobbying verstärkt hatten und so auch streckenweise neutralisierten. Schliesslich wurde die Kampagne zur Versorgungssicherheit vorzeitig publik, was ihr einen Teil der Wirkung nahm. Bei der Kreislaufwirtschaft hielten die zwei Lobby-Aktivisten schlicht fest, ausländischen Akteure fehle häufig das Wissen für die Feinmechanik der hiesigen politischen Prozesse.

Was sich bei den Wahlen 2023 ändert
Optimistisch zeigt sich Lobbywatch für die Zukunft. In die öffentliche Diskussion über die Einflussnahme Privater auf die Politik sei Bewegung gekommen. Die Transparenzinitiative habe die alten Fronten aufgeweicht. Sie wurde zwischenzeitlich sogar zurückgezogen, weil das Parlament selber einen tragfähigen indirekten Gegenvorschlag ausgearbeitet hat. Der werde bei den Wahlen 2023 erstmals zum Tragen kommen. Er sei zwar von rotgrüner Seite initiiert worden. Dank jüngeren Parlamentarier und Parlamentarierinnen aus den bürgerlichen Parteien mit einem neuen Lobby-Verständnis mehrheitsfähig geworden. Das werde die Zukunft bestimmen.

Zu einseitig auf das Parlament ausgerichtete Führung
Selber habe ich den Rundgang als lehrreich erlebt, selbst wenn ich den fast ausschliesslichen Focus mit der Einflussnahme auf das Parlament nicht teile. Beim Warten auf die Führung auf dem Bundesplatz, habe ich per Zufall einen zurückgetretenen Parlamentarier getroffen. Seine Diagnose war typisch – und anders: Mit der Professionalisierung der Politik habe eine krasse Verlagerung der politischen Entscheidungen Richtung Exekutive, sprich Bundesrat und Verwaltung, stattgefunden. Zudem wächst der Einfluss des hybrid gewordenen Mediensystems auf die Gestaltung der vorherrschenden öffentlichen Meinung. Beides hat die Parlamentsarbeit relativiert. Doch darüber schwieg sich die Wanderung leider fast ganz aus.

#BrennpunktDemokratie: der Durchbruch zur Demokratie von 1848

Sie hatte ihre Stärken, aber auch Schwächen. Die Bundesverfassung von 1848 brachte dem Land die ersten demokratischen Wahlen, schuf einen Binnenmarkt mit dem Franken als Einheitswährung, wahrte aber Eigenheiten der Kantone. Aus heutiger Sicht kritisiert werden muss, dass es noch kein ständiges Bundesgericht und damit eine entwickelte Gewaltenteilung gab und die Menschenrecht für Juden nicht galten.

Meine 8teilige Serie zum Werden der Schweizer Demokratie für #Swissinfo macht Fortschritte. Sie verbindet immer ein Thema mit einem Ort. Heute ist die 3. Station erschienen, die in Bern, der Bundesstadt seit 1848, spielt.
Hier meine Ausführungen in Text und Video.

https://www.swissinfo.ch/ger/schweiz-demokratie-bundesverfassung-grundrecht-bern-foederalismus/47563846?
(Samt Link zu den ersten beiden Folgen)

Weitere Sprachen
(ES) La constitución suiza: un compromiso entre democracia y federalismo
Português
(PT) Constituição suíça: um compromisso entre democracia e o federalismo
(ZH) 瑞士宪法-民主原则与联邦制的完美结合
(AR) الدستور السويسري.. حلّ وسط بين الديمقراطية والفدرالية
(JA) スイス連邦憲法―民主主義と連邦制の妥協
Französisch und Italienisch folgen am 10. Juni.

Pfingstmontag 1874: Der Streik bei der Liberté, den die Paulusschwestern für sich entschieden

Man schrieb den 6. April 1874. Es war Pfingstmontag. In der Druckerei der jungen Freiburger “Liberté” streikten die Typographen.


La Liberté, 1871 als Kriegsmaschine gegen den Bundesstaat gegründet, machte mit den Paulussschwestern schwer Karriere

Ausgelöst wurde der Streik durch Informationen von Berufskollegen aus Lyon, dass sich eine Freiburger Delegation mit katholischen Schwester in der Druckerei des örtlichen “Télégraphe” befänden. Sie sollten als Setzerinnen ausgebildet werden, um bald die Setzarbeit in der Druckereien der “Liberté” zu übernehmen.
Doch der Streik kam zu spät. Denn die Schwestern waren bereits wieder in Freiburg und gewährleisteten als Streikbrecherinnen das ordentliche Erscheinen der führenden katholischen Tageszeitung in der französischsprachigen Schweiz an diesem Pfingstwochenende.

Der Kulturkampf
Die Schweiz war damals tief gespalten. Es war die Zeit des Kulturkampfes zwischen der katholischen Kirche und dem liberalen Bundesstaat. Der war dabei, die Bundesverfassung von 1848 zu revidieren.
Ein erster Versuch war 1872 an den Bestrebungen zur Zentralisierung gescheitert. Mit dem zweiten Anlauf wollte die freisinnige Mehrheit die welschen Föderalisten für sich gewinnen; gegenüber den Kulturkämpfern blieb man aber hart.
Am 19. April 1874 sagten 63 Prozent der Stimmenden und 13,5 Kanton Ja zur neuen Bundesverfassung. Sie brachte ein ständiges Bundesgericht und das Referendumsrecht. Doch postulierte sie auch konfessionelle Ausnahme, unter anderem das Verbot der Neugründung von Klöstern und Orden.

Das Pauluswerk
Der Freiburger Chorherr Joseph Schorderet fakelte nicht lange. Im Juni versammelte er sechs junge Frauen in der Kirche St. Nikolaus, der heutigen Kathedrale, um ihnen ein Gelübde abzunehmen: “Nous sommes décidées à consacrer notre vie toute entière à la Restauration du régne de J.C. Nous choissions ce moyen si puissant de la Presse, nous nous lions devant J.C. par les liens sacrées de la Pauvreté volontaire, de la pureté de l’âme et le l’obéissance et nous sommes décidées à fonder uns Congrégation ou Order religieux apostoloqier secret de la Presse par amour de J.C.”
Gegründet wurde so das Pauluswerk.
Historikerin Seraina Flury schrieb 2001 in den “Freiburger Geschichtsblättern”, die Gründung des Freiburger Pauluswerk sei eine Besonderheit gewesen. Im 19. Jahrhundert seien zahlreiche Kongregationen wie jene der Schwestern von Ingenbohl oder Menzingen zu Bildung katholischer Frauen entstanden. Doch keine habe einen so direkten Grund gehabt wie die der Paulusschwestern. Im Vordergrund sei eindeutig die finanzielle desolate Situation der Liberté gestanden.
Auch 20 Jahre nach Bestehen verfügten die Paulusschwestern über keinerlei Konstitutionen und hingen kirchenrechtlich in der Luft; einzig das Charisma des umtriebigen Gründers sowie das Organisationsgeschick der Leiterinnen vermochten die religiöse Gemeinschaft zusammenzuhalten.
Erst 1892 erhielten die Paulusschwester eine kongregationsähnliche Struktur, die es den Schwestern erlaubte, gesetzlich legal und wirtschaftlich politisch zu handeln.

Die “Christliche Republik”
Der Aufstieg war bereits in den 1880er Jahren erfolgt. 1881 übernahmen die Konservativen nach den kantonalen Wahlen die Macht. 1884 wurde Georges Python National- und 1886 Staatsrat. Und er wurde auch Verwaltungsratspräsident des Pauluswerkes.
Als starker Mann der Freiburger Politik war Python der eigentliche Regierungschef für die kommenden knapp 20 Jahr. Er baute den Kanton zur “Hochburg des schweizerischen Katholizismus” aus, wie die “Geschichte des Kantons Freiburg” 1981 bilanzierte.
Zu den zentralen Medien der “Christlichen Republik” wurden die Universität und die Tageszeitung: “La Liberté unterstützte als regierungstreues Blatt das Machtmonopol der Konservativen; im Gegenzug bevorzugt die staatliche Verwaltung bei der Vergabe von Aufträgen die Katholische Druckerei sowie die 1886 entstandene Paulusdruckerei. (…). Für weitere Aufträge sorgte zudem die 1889 gegründete Universität”, schreibt Historikerin Flury.
Vor den Ersten Weltkrieg hätten die beiden Druckereien zu den 10 grössten Wirtschaftsunternehmen des Kantons gehört.


Der neue Postillon zu den Wahlen 1911: Georges Python überrennt unterstützt von seiner Gefolgschaft mit der Freiburger Kuh Liberale und Gewerkschaften

Gewerkschaftlicher Protest gegen ein Frauenunternehmen
Den verdrängten Gewerkschaften blieb nur der verbale Protest: “Saint-Paul est l’imprimerie officielle du gourvernement catholique-ultramontain fribourgeois, que tous les travau de l’Etat s’y confecionnent. L’Etat y trouve un gros avantage surtout au point vue politique, car le parti au pouvoirs y a également recours pour tout son battage électoral”, hielten sie 1919 im Rückblick fest.
1892 wurde das Pauluswerk übrigens Mehrheitsaktionärin der Katholischen Druckerei Schweiz. Uebernommen wurden nebst der Setzerei auch die Administration und Buchhaltung der Druckerei.
1934 fusionierten beide Unternehmen. Drei Paulusschwestern nahmen Einsitz im Verwaltungsrat.
Immerhin 2018 nahmen die Freiburger Kantonalbank und der weitgehend staatliche Energieversorger Groupe E. zusammen 30 Prozent der Aktion – um die Medienvielfalt im Kanton Freiburg ohne grosse Renditeerwartungen zu sichern.

Stadtwanderer

Mehr zur Entstehung des Pauluswerks:
https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=fgb-001:2001:78::326

Medienplatz Freiburg

Am 14. Juni 2022 geht meine Stadtwanderung zum Medienplatz Freiburg über die Bühne. Vergangenheit, Gegenwart und (etwas Zukunft) kommen zur Sprache.

Die Premiere findet als exklusive Führung für die Mitglieder der SRG Freiburg statt. Ich weiss, nicht alles, was man sagen könnte, kommt zur Sprache.
Bei Interesse soll die Wanderung geöffnet und weitergeführt werden.
Hier schon mal die erste Route.

1. Equilibre: die Vielfalt der fast unsichtbar gewordenen Medien
2. Jo Siffert Brunnen (von Jean Tinguely): Was eigentlich sind Medien?
3. Pauluswerk: die schwarze Vergangenheit, die sich aufgehellt hat: La Liberté
4. Lüthy.Kanisiusbuchhandlung: von der Gegenreformation zum Frauenkollektiv
5. RTS: Die Nation interessiert sich für Freiburg.
6. Freiburger Nachrichten: Zeitungen im zweisprachigen Kanton
7. Place Python: die Christliche Republik und ihre Medien
8. Rathaus: Freiburg – was für ein Mediensystem!?

Ich freue mich!

Stadtwanderer

Freiburg. Lüthy. Kanisiusbuchhandlung. Und die Aufklärung.

In seiner fundamentalen Diskursanalyse behandelt der französische Historiker und Philosoph Michel Foucault den langsamen Wandel von gesellschaftlich vorherrschenden Deutungsmustern. Dabei geht es namentlich um die Wissenschaft, welche dir Religion ablöst. Ein Beispiel.

Das alte Bahnhofbuffet in Freiburg
Vor einem Dritteljahrhundert hatte ich mit anderen im damals imposanten Buffet des Freiburger Bahnhofs eine lange Sitzung mit Geschichtsprofessor Urs Altermatt der Uni Fribourg. Es ging um die Ausgestaltung eines SNF-Forschungsprojekts zum kommenden politisch-kulturellen Wandel.
Wir entschieden uns, von der konstanten und gebundenen politischen Beteiligung auszugehen und zu fragen, was angesichts neuer Symptome daraus werden würde.
Eine der erwarteten Folgen war, dass die politische Partizipation nicht verschwinden, aber fallweise und damit punktueller werde. Klassische Parteien mit loyalen BürgerInnen an der Basis werden an Bedeutung verlieren. Gruppierungen, die neue Strömungen in der Gesellschaft mit ihren aktiven Menschen aufnehmen, werden dafür aufstreben. Das werde zwar nicht die Stabilität der alten Parteien garantieren, dafür Fester mit aktuellen und umso interessanteren Einsichten in die Gegenwart eröffnen.

Zögern vor der Buchhandlung Lüthy
Vis-A-vis des Freiburger Bahnhofgebäudes findet sich heute die Buchhandlung «Lüthy». Daneben steht «Kanisiusbuchhandlung».
Auf Internet präsentiert sich die Buchhandlung so: «Das siebenköpfige Team um Gilberte Graf und Johanna Jutzet steht den Kunden mit persönlichen Buchempfehlungen zur Seite. Besuchen Sie unsere Kinderbuchabteilung, schmökern Sie in unserer Auswahl an Romanen, und finden Sie aktuelle Sachbücher und Fachbücher oder einen guten Reiseführer – so wie das grösste Angebot an englischen Büchern in der Region.»
Im ersten Moment hatte ich Bedenken, die Buchhandlung zu besuchen. Nicht das Frauenkollektiv schreckte mich. Vielmehr ließ mich der Untertitel zögern.
Denn in den 1960er Jahren, als ich noch in Freiburg lebte, war Kanisisus die führende katholisch-konservative Buchhandlung für Literatur. Von da kam auch der Index. Darauf standen Bücher, die man nicht lesen durfte. Meine Familie kannte den Index auch Jahre nachdem wir von Freiburg weggezogen waren.

Der Jesuit Kanisisus
Peter Kansisius, 1521 in Nijmegen geboren, starb 1597 in Freiburg. Dazwischen machte er eine mustergültige katholische Karriere während der Gegenreformation. Früh trat er dem neuen Orden der Jesuiten bei, später machte er ihn zur bestimmenden Kraft der katholischen Kirche gegen die Protestanten in Deutschland.
Den angebotenen Bischofsstuhl von Wien lehnte er ab, betätigte sich aber als Prediger im Stephansdom. Papst und Kaiser empfahlen ihn deshalb als Domprediger in Augsburg. Das nahm er an. 1580 kam er nach Freiburg im Uechtland, um das Gymnasium St. Michel zu gründen. Es sollte zur Eliteschule für die französischsprachige katholische Schweiz avancieren.
Kansisius wird gelobt, den Augsburger Religionsfrieden von 1555 respektiert zu haben. Seine Kritik an den Reformierten war gemässigt. Umso heftiger waren seine Aussagen zu Hexen.
In seinen Augsburger Predigten machte Kanisius Frauen, die nicht konform lebten, für das zunehmend schlechte Wetter und wachsenden Missernten seiner Zeit verantwortlich. Er warf ihnen auch Kindsmord und Kannibalismus vor. Augsburg, bis anhin humanistisch, kippte und löste in Mitteleuropa eine neue Welle von Hexenverfolgungen aus.

Gelebte Aufklärung
Ich war froh, im «Lüthy» einer zeitgenössischen und weltoffenen Buchhandlung zu begegnen. Die Rubrik «Religion» im oberen Stock befindet sich fast ein wenig versteckt um die Ecke rechts. Papst Franziskus steht da nicht unerwartet im Mittelpunkt. Gut sichtbar ausgestellt ist das Buch des Vatikan-Insiders Andreas Englisch, der über die konservative Gegnerschaft des heutigen Kirchenführers berichtet.
Besonders interessiert hat mich die benachbarte Abteilung „Aktualität“ mitten in der grossen Bücherwand. Sie bietet so ungefähr alles, was man heute als interessierte ZeitgenossIn liest. Mitten drin findet sich auch das Buch «Klima und Gesellschaft in Europa», das die beiden Berner Klimaforscher Christian Pfister und Heinz Wanner jüngst veröffentlicht haben. Damit haben eine neue Wegmarke für die historische Klimatologie gesetzt.
In diesem Werk findet sich auch die heutige Einordnung von Kansisus’ Predigten. Denn seine Zeit war die der kleinen Eiszeit. Das Klima kühlte sich merklich ab. Gletscher wuchsen. Dörfer verschwanden. Die landwirtschaftliche Produktion ging zurück. Hunger breitete sich aus. Und es kamen verheerende gesellschaftliche Spannungen auf. Statt sie zu erkennen und anzugehen, suchte die damalige Kirche nach Schuldigen, und fand sie namentlich bei Frauen. Und Kanisisus mitten drin!

Mein Lob
Dem engagierten Frauenkollektiv im «Lüthy» gebührt meine volle Anerkennung. Sie beteiligen sich aktiv an der Erneuerung vernünftiger Sichtweisen auf die Welt. Unvermittelt wurde ich an Michel Foucault und seine historische Diskursanalyse erinnert!
Voraussetzung dafür war wohl der politkulturelle Wandel. Unsere damalige Forschungshypothese, wonach vorherrschende Parteien einen Funktionsverlust erleiden würden, bestätigt sich gerade in Freiburg eindrücklich. Die Grünen waren jüngst die große Gewinnerin in der früheren CVP-Stammlande. Alte Seilschaften wurden durch neuen Netzwerke abgelöst, Priesterdünkel durch Frauenpower ersetzt. Und religiöse Deutungsmuster werden von wissenschaftlicher Aufklärung widerlegt.
Gerne wäre ich auf ein Bier ins Bahnhofbuffet nebenan gegangen. Am liebsten mit dem Lüthy-Team. Aber die Halle steht nur noch in meiner Erinnerung. Darum: auf ein virtuelles Prost!

Das Herzstück des sonderbaren Freiburger Mediensystems

Das Mediensystem des Kanton Freiburg entstand aus der Opposition zum Bundesstaat. Ironie der Geschichte: Die Freiburger in Stadt und Kanton stimmten anfangs Jahr anders als die Schweiz klar für das Medienpaket des Bundes. Warum?

Der Boulevard de Pérolles

Wenn die Medienwissenschaft von einem “Mediensystem” spricht, meint sie die publizistischen Aussagen, ihre organisatorischen Voraussetzung und den politischen, ökonomischen und sozialen Rahmens, in dem das alles staatfindet. Meistens geht man davon aus, dass das nationalstaatlich bestimmt wird.
Mit dieser Definition ausgerüstet, war ich gestern in Freiburg i. Ue., meiner Geburtsstadt. Auch nach dem Wegzug meiner Eltern war ich als kleiner Junge immer wieder für Ferien dort. An Sonntagen ging ich mit meiner Cousine meist in die Kirche der Paroisse du Christ-Roi, dem kirchlichen Zentrum des bahnhofnahen Pérolles-Quartiers.
Was mir als damals nie auffiel, fiel mir gestern wie Schuppen von den Augen: Kirche und Medien bilden eine Einheit. Denn tritt man aus der Kirche, steht man umittelbar vor der «Gruppe Saint Paul», dem eigentlichen Zentrum der Freiburger Medienproduktion.
Bekanntestes Produkt des Verlags ist die Tageszeitung “La Liberté”. Hinzu kommen die “Freiburger Nachrichten” und zahlreiche Lokalzeitungen. Die Liberté kennt einen WEMF-beglaubigte Verkauf von rund 35000 Stück und eine Verbreitung von etwas weniger als 40000 Exemplaren. Das sichert ihr eine Reichweit von fast 100000 LeserInnen und die Nummer 1 im Kanton.

Das alte katholische Milieu

Ausserkantonale könnten meinen, eine Zeitung mit der «Freiheit» im Namen sei liberal. Nicht so im Kanton Freiburg!
Die Liberté entstand 1871 mitten im Kulturkampf zwischen Konservativen und Freisinnigen. Sie war ganz bewusst ein Frontblatt der Katholisch-Konservativen – gegen den freisinnigen Bundesstaat gerichtet. Liberté meinte die Freiheit, die katholische Heilslehre massenmedial verkünden zu dürfen.
Gegründet wurde die Liberté am 1. Oktober 1871, dem gleichen Tag wie das “Vaterland” in Luzern entstand. Sie waren die ersten katholischen Tageszeitung. Sie sollten die Politik der katholischen Kurie verteidigen.
Georges Andrey, früher Mediengeschichtler an der Uni Fribourg, nennt die Liberté im Standardwert zur Medienlandschaft der französischsprachigen Schweiz im 19. Jahrhundert eine veritable Kriegsmaschine (“machine de guerre”), gegründet von einem Chorherren, später geführt vom Pauluswerk und beeinflusst vom Piusverein.
Für den Historiker hat die Zeit von 1848 bis 1921 trotz drei unterschiedlichen Regimes im Kanton Freiburg eine Gemeinsamkeit: Man bevorzugte eine gelenkte Demokratie (“democracie gouvernée”), die den Eliten mehr vertraute als dem Volk. Für dieses habe man die Meinungspresse erfunden, nicht zur Volksbildung, aber zu propagandistischen Beeinflussung.
Geprägt wurde die Entstehungszeit durch den Versuch der Freisinnigen, den Bundesstaat von 1848 zu zentralisieren. 1872 scheiterte eine erste Verfassungsrevision an der doppelten Opposition der welschen Föderalisten und der katholisch-konservativen Kantone. 1874 nahm man einen zweiten Anlauf, der bewusst den föderalistischen Einwänden aus welsch-liberaler Warte entgegenkam, gegenüber der katholisch-konservativen Gegnerschaft aber hart blieb. Er fand die nötige Mehrheit. Selbstredend stimmte der Kanton Freiburg zweimal Nein, mit je knapp 80 Prozent.

Das bestehen gebliebene Pauluswerk

Die Formel des Pauluswerkes war lange einfach und klar: Die Priester führten die Redaktion. Die Schwestern machte die Druckerarbeit. Beides geschah kostengünstig. Es war eine Aifgabe Gottes.
Entstanden war das Pauluswerk in Italien vor dem Ersten Weltkrieg. Es hat sich in über 50 Länder ausgebreitet. Stets verfolgt es die Absicht, den päpstlichen Standpunkt der Politik durch Massenmedien zu verbreiten. Ihre kirchliche Approbation erhielt die Organisation kurz nach dem Zweiten Krieg durch Papst Pius XII.
Doch hatte sich die katholische Welt seither nicht zuletzt mit dem zweiten Vatikanischen Konzil stark geändert. Die Gesellschaft wurde offener, pluralistischer. Im Kanton Freiburg verlor die CVP 1966 die Mehrheit im Kantonsparlament und damit die politische Vorherrschaft über den Kanton. Etabliert haben sich seither ein bürgerliches und ein rotgrünes Lager mit einer Regierung nach Konkordanzmuster.
Das blieb nicht ohne Auswirkungen auf das Mediensystem. Seit 1970 führen professionelle Journalisten die Chefredaktion auch die Liberté. Mit ihnen kam auch liberale und kirchenkritische Standpunkte ins Blatt. Das machte es möglich, dass auch nicht eingefleischte Katholiken alter Manier die Liberte lasen.
Neuerdings fehlt es dem Pauluswerk an Nachwuchs und damit an Schlagkraft. Das Buchprogramm müsste veräussert werden. 2014 musste man auch das Akionariat öffnen. Seither gehören je 15 % der Freiburger Kantonalbank und dem Energiekonzern Groupe E., der sich grösstenteils in staatlichem Besitz befindet. Die Organsiation ist halbstaatlich geworden, ebenso finanziert.

Die neue Berechtigung

Selbst wenn man aus liberaler Sicht über das Freiburger Medienmodell stutzen kann: Alle kontaktierten Medienkenner des Kantons betonen, verlagsmässig sei man ein Sonderfall, doch funktionierten die Produkte wie andere auf dem heutigen Medienmarkt. Trotz offensichtlichem kirchlichem Hintergrund sei die journalistische Unabhängigkeit im normalen Masse gewährleistet.
Gesagt wird immer wieder, man identifiziere sich mit dem Verlagshaus, weil es dem nur mittelgrossen, zweisprachigen Kanton zwei verschiedensprachige Tageszeitungen sichere. Angesichts der brüchigen Identitätsbildung entlang der Sprachgrenze sei dies für die Identitätsbildung im Kanton ein geradezu essentieller Vorteil.
Die Rolle bleibt ambivalent: Medienwissenschaftler Roger Blum klassierte Mediensystemzwischen den Polen eines Lautsprechers und eines Widersprecher. Lautsprecher war die Liberté einmal. Wdersprecher wird sie nie werden. Sie ist etwas dazwischen. Sie kennt ihre ursprüngliche Klientel, weiss um die heutige politische Landschaft im Kanton und sucht ihre Leserschaft. Der Verlag setzt bewusst auf Zweisprachigkeit und hatte alte Grabenkämpfe überwunden. Arrangiert haben sich die Kirche und der Staat.
Die obige Definition der Medienwissenschaft muss mit dieser Erfahrung präzisiert werden. Die Rahmenbedingungen der massenmedialen Produktion sind nicht nur politischer, ökonomischer und sozialer Art. Sie sind es auch kulturell-konfessioneller Hinsicht. Das gilt ganz besonders in der Schweiz, die nicht nationalstaatlich, sondern föderalistisch geprägt bleibt. Denn das Mediensystem Freiburgs wird eindeutig kantonal bestimmt.
Auch wenn es nach Ironie der Geschichte aussieht, dass ausgerechnet Freiburg 2022 klar für das Medienpaket des Bundes stimmte. Es hat seine Gründe.

PS
Mitte Juni 2022 mache ich für Medienschaffende eine Stadtwanderung zu Medien im Kanton Freiburg. Dazu veröffentliche ich hier ein paar impressionistische Schlaglichter.

Meine Angebote als Stadtwanderer

Seit 2004 bin ich Stadtwanderer und mache Führungen vorwiegend, aber nicht ausschliesslich in Bern. Die Pandemie hat alles ein wenig durcheinander gebracht. Doch jetzt bin ich wieder voll im Schuss. Hier meine Uebersicht zu den Standardangebote.


Mein Motto: nie mehr kopflos durch Städte wandern!

Klimawanderung: von der Eiszeit zur Heisszeit

Wie der Aaregletscher den Raum formte, die ersten Siedler, den Wald rodeten, der Adel Städte gründete, die Pest alles Schöne vermasselte, die kleine Eiszeit Bauernregeln und Kornhäuser entstehen liess und wie die Industrialisierung Wohlstand und Umweltbelastungen brachte. Damit kippt die alte Formel, war gleich gut, denn jetzt wird die Hitze zu Belastung.
2 Stunden
Start: Rosengarten
Ende: Bahnhofplatz

Barock-Wanderung: Burger, Barock und Bourbonen

Der Berner Barock ist eigen: von der Reformation geprägt, ist er ganz in Sandstein gehauen. So bestimmt er vor allem das Altstadtbild. Im Zentrum der Wanderung stehen die Fassaden der Gebäude, wo es darum geht, was man sieht und was verdeckt wird. Der riesige Einfluss von Louis XIV., der Streit der Franzosen- und der Niederländerpartei in der Burgerschaft kommen genau so zur Sprache wie typische Rundfenster, Dachgiebel. Es mischen sich Architektur- und Sittengeschichte des 17. und 18. Jahrhundert. Garantiert lehrreich und schockierend zugleich.
2 Stunden
Start: Innenhof Burgerspital
Ende: Hotel de Musique

Jugend&Politik-Wanderung: Jugendstile über die Zeit

1513 stürmten die Jungs aus Köniz die Stadt Bern. Die Klimastreikbewegung ist dagegen vergleichsweise harmlos gewesen. Ich zeige, wo das Jugendparlament im Ancien Regime, die Restaurants der Studentverbindungen, die Debattier-Keller der Non-KonformistInnen und die Buchhandlungen der 68er waren. Klar gemacht wird, wie Jugend als soziologische Phänomen mit dem Jugendstil Ende des 19. Jahrhunderts entsteht und seit dem 20. Jahrhundert (auch von mir) wissenschaftlich untersucht wird.
2 Stunden
Start: Zytglogge Turm
Ende: Generationenhaus

Demokratie-Wanderung: Aristokratien demokratisieren

Bern war im 18. Jahrhundert eine Patrizierstadt, paternalistisch regiert, wenn man gehorchte mit dem Schwert bestraft, wenn man protestierte. Dem setzten die revolutionäre Franzosen und die Demokratie ein jähes Ende. Zur schrittweisen Demokratisierung trugen in der Folge liberale, demokratische und sozialen Bewegungen bei. Ihre neue Rolle fand Bern als Bundesstadt, dem unbestrittenen Politzentrum der Schweiz mit Regierungsviertel und Bundesplatz als Schaubühne für allerlei Opposition im Land.
2 Stunden
Start: Kreuzgassbrunnen /Altstadt
Ende: Bundesplatz

Ochsentour: auf der Spur des Verfassungsvaters Ueli Ochsenbein

Er war Regierungspräsident von Bern. Er war Präsident der Verfassungskommission der Tagsatzung. Er war 1848 erster Bern Bundesrat. Und er war sechs Jahre danach erster abgewählter Bundesrat. Ueli Ochenbein ist heute kaum mehr ein Begriff, obwohl er der Verfassungsvater des Bundesstaats war. Ich hole ihn mit seiner Geschichte in die Gegenwart zurück, zeige, wo unser Grundgesetz beriet, wo er sich für das Bundesstaatsmodell lobbyierte, wo gewählt wurde und wo er regierte. Die Wanderung ist mehr als nur eine Biografie. Sie zeigt die Stunde Null des Bundesstaats.
1,5 Stunden
Start: Erlacherhof
Ende: Noumi Bar, Hotel Bellevue Palace


Lobbying-Wanderung: Vorhöfe der Macht

LobbyistInnen sind nicht mehr draussen, aber auch nicht ganz drinnen. Sie sind ein Bindeglied zwischen Zivilgesellschaft und Staat. Und sie werden immer mehr. Ich zeige, wie sie auf Parlament, Regierung und Verwaltung Einfluss nehmen, wie sie sich in ausserparlamentarischen Kommissionen einnisten, Clubs für informelle Treffen gründen und für die Grünen genauso wie für Economiesuisse arbeiten und ich stelle die Frage, ob so auch in der Schweiz in den USA der 1970er Jahre diagnostizierte powerelite entsteht.
2 Stunden
Start: Hotel Bellevue
Ende: Geheimplatz

Angebot in Murten

Stadtgeschichte: Ein Kunterbunt vor Ort

Murten gilt als Juwel unter den Schweizer Kleinstädten, aber auch ein bisschen ruhig. Das war nicht immer so. Da wurde der savoyische Stadtherr Gegenpapst, da kam es zur Schlacht vor den Toren Murtens, da verbrannte man Hexen im Innern der Stadt und da unterrichtete ein revolutionärer Lehrer aus Zürich die jungen Mädchen. Vor allem aber sicherten mutige Unternehmer und Ingenieure die Stadt durch die Seeland-Korrektion vor Flut und Krankheit.
Alles kompakt erzählt, in der Kleinstadt, die das alles beherbergt.
1,5 Stunden
Start: Mauritius Kirche vor der Stadt
Ende: Französische Kirche

Neu in Freiburg

Medienplatz Freiburg/Fribourg

Mitten im Zentrum der Stadt Freiburg steht der Equilibre, der Bau des Ausgleichs im beginnenden 21. Jahrhundert. Doch war Freiburg in der Geschichte nicht immer im Lot. Auch wegen den Massenmedien im polarisierten Kanton. Anfänglich dominierte die Liberté als Kriegsmaschine der Katholisch-Konservativen. Heute behauptet sie sich als kantonal führenden Forumszeitung. Wie sich um sie herum ein kantonal spezifisches Mediensystem herausgebildet hat, erkundet die Stadtführung. Sie zeigt auf, wie Politik, Gesellschaft und Wirtschaft auf die Organisation von Medien in Vergangenheit und Gegenwart ausgewirkt hat resp. auswirkt.
1,75 Stunden
Start: Equilibre
Ende: Place Python

Neu in Aarau

Helvetiopolis

Die Provinzstadt wird 1798 unvorbereitet erste Hauptstadt der Schweiz. Die Jahre der Helvetischen Republik markieren einen der tiefsten Einschnitte in der Schweizer Geschichte. Ich zeige, wo die Franzosen ein Nationaltheater planten, wie die helvetischen Behörden tagten, warum des Experiment scheiterte und die napoleonischen Kantone wie der Aargau entstanden und wo die neuen Institutionen wie Regierung, Parlament und Kantonsbibliothek untergebracht sind. Ich habe selber fast 20 Jahre da gewohnt, und erhelle unterwegs auch mein Aarau.
2 Stunden
Start: Alte Kanti
Ende: Dach des Kunsthauses

Ich führe in aller Regel nur Wanderung für Gruppen durch, minimal 8, maximal 20 Personen durch. Interessierte melden sich via Messenger bei mir zur Fixierung eines Themas, eines Datums und der Konditionen.
Ich bin bis Mitte Juli weitgehend ausgebucht, danach in den Sommerferien, und führe weitere Wanderungen gerne ab dem 5. September 2022 durch.

«Die Umwelt wirkt auf uns zurück»

Im neuesten “NZZ Geschichte” schreibt Sabine Höhler: «Die Natur kommt ohne den Menschen aus. Sie ist das, was ausserhalb von uns ist. Die Umwelt hingegen ist sozial gewordene Natur; sie ist eine Natur, die immer auf den Menschen bezogen ist.» Was ist damit gemeint?

Das Jahr ohne Sommer in Europa, ohne Monsun in Indien

Das illustriert die Umwelthistorikerin mit zwei treffenden Beispielen.
1815 explodierte der Vulkan Tambora auf Indonesien. Eine ungeheure Aschewolke verdunkelte den Himmel. Augenzeugen berichteten von einer Naturkatastrophe mit unmittelbaren Wirkungen für die Region. Davon erfuhr man weltweit wenig.
Trotzdem erlebten die Menschen in Europa die Folgen intensiv. 1816 ist das Jahr ohne Sommer. Denn die Sonne war andauernd verdunkelt. Es regnete ununterbrochen. Ueberschwemmungen, Kälte und Frost waren allgegenwärtig. In der Schweiz gab es die letzte umfassende Hungerskrise. Noch dominierten religiöse Deutungen, wonach es sich um eine Rache Gottes gehandelt habe.
Erst in der umwelthistorischen Rückschau konnte man das Jahr ohne Sommer als vulkanischen Winter interpretieren. Denn eine global verstandene Umwelt braucht Vergleiche, räumliche und zeitliche. Das wurde erst Mitte des 19. Jahrhunderts möglich, als Dampfschifffahrt, Telegrafie und Massenmedien die Welt zusammenwachsen liessen.
Anders reagierte die Menschheit auf den Vulkanausbruch von Krakatau 1883. Auch das war in Indonesien. Und auch das war ungeheuer. Doch war man nun vorgewarnt. Forscher und Laien konnten das Ereignis in Echtzeit verfolgen. Damit war von Anfang an klar, was die Ursache der neuen Umweltkatastrophe war.
In Indien wurde der Vulkanausbruch von 1815 anders interpretiert. Denn es blieb der Monsun aus. Dürre breitete sich aus, das Trinkwasser wurde rar, und es brachen Seuchen aus. Eine Jahrhundert-Pandemie nahm ihren Lauf. Denn durch den Ueberseehandel breitete sich die Cholera nach Zentralasien, Afrika und Europa aus.
Auch das blieb nicht ohne Auswirkungen selbst auf die Schweiz. 1869 war das Jahr der Cholera in unserem Land. Im Kanton Zürich beschleunigte sie das Ende der repräsentativen Demokratie, welche durch die direkte Demokratie mit Volksrechten gegen die Vorherrschaft des grossbürgerlichen Freisinns abgelöst wurde.

Von der Miasma- zur Bakterien-Theorie

Europa reagierte mit dem Aufbau einer öffentlichen Gesundheitsfürsorge. Grossbritannien ging 1831 mit dem ersten Gesundheitsamt voraus. Dieses definierte die Seuche als Folge einer unhygienischen Umwelt, der sich der Staat vor allem in den Städten annehmen müsse.
1854 entdeckte der britische Arzt John Snow, dass sich die Krankheit nicht zufällig verbreitete, sondern von lokalen Hotspots aus. Und diese stammten aus verunreinigten Wasser aus der Themse.
Das entkräftete die vorherrschende Miasma-Theorie, wonach faule Luft für die Ausbreitung von Krankheiten entscheidend war. Nun kam die Bakterientheorie und mit ihre die moderne Epidemiologie auf.
Speziell Grossstädte wurden deshalb zu den ersten Regulierungsobjekten der Umweltpolitik. Diese wurde nun technisch verstanden, und sie hatte hohe politische Implikationen, vor allem auf die Entstehung des Gesundheitswesens und der Hygiene als Lehre des (Ueber)Lebens.

NZZ Geschichte: Alles hängt zusammen. Die Entdeckung der Umwelt. Nr. 40, Mai 2022

Stadtwanderung: Warum Aarau 1798 zum Revoluzzernest wurde

In der Alten Kanti Aarau habe ich von 1973 bis 1977 mein Gymnasium absolviert. Mir war damals nicht bewusst, dass es die erste, nicht-kirchliche höhere Schule der Schweiz gewesen war.


Foto: Marcel Wüthrich

1802 gegründet, 1804 bezogen, steht das Gebäude wie kein anderes für eine der wichtigsten Neuerung, welche die Schweiz der Helvetischen Republik verdankt: die laizistische Schulbildung!
Das hatte mit der Rolle der Stadt bei der Staatsneugründung von 1798 zu tun: Denn Aarau war der Ort, wo 1712 die Parität der christlichen Konfessionen und damit ein lang anhaltender Frieden zwischen Reformierten und Katholiken beschlossen wurde, wo ab 1762 die neu entstandene Helvetische Gesellschaft tagte, die über Reformen des Staates und der Wirtschaft nachdachte, und wo erste Unternehmen des Indienne-Drucks ihren Sitz hatten.
Trotzdem war Aarau nie über den Status einer minderwertigen Munizipalstadt unter bernischer Herrschaft hinausgekommen. Das machte die politisch rechtlosen Bürger der Stadt für die Ideen der Französischen Revolution besonders empfänglich. Aarau war in den Frühlingstagen des Jahres 1798 das Revoluzzer-Nest der alten Eidgenossenschaft.
Auf dieser Basis wandere ab sofort unter dem Titel “Helvetiopolis” durch Aarau und erzähle die Entwicklung der Stadt vom Untertan zu einem der führenden Zentren des Liberalismus in der Schweiz. InteressentInnen für eine Tour melden sich via Messenger bei mir und bringen am besten gleich eine kompakte Gruppe mit.

Stadtwanderung #Ochsentour

Ueli Ochsenbein ist unser Verfassungsvater und im Schwarzen Loch der Geschichte verschwunden.

Ueli Ochsenbein war 1848 der erste Berner Bundesrat. Zuvor wurde der vormalige Berner Regierungspräsident resp. Stadtpräsidenten von Nidau in den Nationalrat gewählt, den er als erster kurzzeitig auch präsidierte.

Seine eigentliche Leistung bestand darin, Vorsitzender der Kommission der Tagsatzung gewesen zu sein, welche die Bundesverfassung ausgearbeitet hatte. Dabei hatte er sich für die Schaffung eines Bundesstaats stark gemacht.
Ochsenbeins politische Karriere endete 1854 jäh, als er nicht mehr in den Nationalrat gewählt wurde, was damals Voraussetzung für die Wiederwahl in den Bundesrat war. Auch sein weiteres Leben war nicht frei von verschiedenen Schicksalsschlägen.
Ochsenbein und seiner staatspolitischer Leistung ist meine Stadtwanderung „Ochsentour“ gewidmet. Beleuchtet werden die historischen Umstände, Ochsenbeins Aufstieg und Fall, die Entscheidungsfindung sowie die unmittelbaren Folgen der neuen Verfassung.
Es ist geplant, die Führung im Rahmen der 175 Jahr-Feier des Grundgesetzes im Sommer 2023 anzubieten. Dafür machte ich gestern schon mal einen Probelauf mit VertreterInnen aus Politik und Parlamentsdiensten.
Es hat Spaß gemacht! Und ich arbeite daran.

Fotos: Benjamin Michelet