kosice 1938 / kosice 2009

in kosice besteigen wir das flugzeug zurück in die heimat. eine letzte gelegenheit, auf unserer kleinen europareise gedanken zur weltpolitik zu machen. diesmal über israel, iran, die usa und die schweiz.

kosice
das zentrum des historischen kosice mit der grosszügig angelegten fussgängerzone (foto: stadtwanderer)

kosice (eigentlich mit umgekehrtem dach auf dem s und als koschize ausgesprochen) ist den meisten schweizerInnen kein begriff. von den slowakischen städten kennt man meist nur bratislava, die nummer 1. die eigentliche entdeckung ist aber die nummer 2. die altstadt von kosice mit kathedrale und theater mitten in der fussgängerzone fällt zunächst durch schöne architektur auf. dann strahlt sie auch kraft aus. und sie hat geschichte.

1938: deutschland und ungarn vs. tschechoslowakei
nicht immer war man in kosice so entspannt wie an diesem sonntag. 1938 wurde adolph hitlers deutsches reich besonders für die junge tschechoslowakei immer bedrohlicher. chamberlain, der britische premier, verfolgte eine politik der anpassung gegenüber dem deutschen reich, in der hoffnung, so die ansprüche hitlers auf neuen lebensraum in grenzen halten und einen krieg verhindern zu können. im herbst 1938 willigte er in münchen ein, dass die tschechischen gebiete der sudetendeutschen an deutschland gingen. parallel dazu wechselten mit dem wiener schiedsentschei die südslowakischen gebiete zu ungarn. kosice, das zentrum des südens, wechselte so die seite.

aus der retrospektive weiss man, dass die appeasementpolitik grossbritanniens auf einer fehleinschätzung basierte. 1939 wurde die tschechoslowakeit mit dem kriegsbeginn gänzlich okkupiert. seither dient “1938” häufig als argument für eine unnachgiebige politik gegenüber diktaturen mit expansionsdrang.

2009: iran vs. israel
in der schweiz angekommen, lese ich die “nzz am sonntag” und stolpere gleich über das thema. diesmal ist es ilan elgar, der israelische botschafter in bern, der die schweiz einer historischen fehleintschätzung bezichtigt. bundespräsident hans-rudolf merz habe mit seinem umstrittenen empfang des iranischen präsidenten einen fehler wie seinerzeit chamberlain gegenüber hitler begangen, heisst es: «Bei Typen wie hitler oder Achmädinejad erreicht man auf diese Weise gar nichts».

die kritik der appeasementpolitik ist vor allem in der retrospektive stringent. für die zeitgenossen ist das nicht immer so klar, insbesondere wenn eine chancen besteht, militärische auseinandersetzungen zwischen kriegerisch eingestellten ländern zu vermeiden.

gegen die gleichzetzung von nazi-deutschland und iran einerseits, grossbritannien und der schweiz anderseits sprechen vor allem die fakten. die schweiz betreibt 2009 keine eigene weltpolitik wie seinerzeit grossbritannien. vielmehr ist sie teil der politik der usa. diese ist seit neuestem darauf aus, das gestörte verhältnis zum iran zu verbessern; die schweiz wiederum vertritt seit langem die us-amerikanischen interessen in iran.

israel schliesslich hat seit kurzem eine neue regierung, die für eine harte aussenpolitik gewählt wurde; da sind keine versöhnlichen schritte gegenüber den palästinensern zu erwarten, um deren staatliche anerkennung es letztlich seit vielen jahre geht.

1938 und 2009: geschichte und gegenwart

gar keine parallelen zu “1938” gibt es “2009” nicht. die polarisierung, wie sie israel macht, geht jedoch von einem grossen krieg im nahen osten aus, indem die konflikte militärisch geregelt werden. genau das gilt es zu vermeiden, und die diplomatie hat sich dafür einzusetzen.

ohne zwischenschritte wird das neue ziel nicht erreicht werden. israel darf diese nicht jedes mal mit dem argument verhindern, seine existenz sei bedroht. damit polarisiert das land noch mehr und isoliert sich auch von seinen bisherigen partnern. denn so berechtigt die kritik an der appeasementpolitik der britten in den dreissiger jahren ist, ist die beliebtheit der verwendung des gegenargumentes für präventivkriege unübersehbar.

die reise kosice-bern ist in diesen tagen nicht nur einige gedanken über den zustand der welt an symbolischen orten wert. es ist für mich auch ein zeichen für die noch unerschöpfte entdeckung des urbanen in mitteleuropa, mit der ich mich noch mehr beschäftigen werde.

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mit egon erwin kisch an der grenze

unser wagen hält unerwartet an der slowakisch- ukrainisch- polnischen grenze. wir haben uns verfahren, wie das schild zeigt, das auf den zugang in den urwald im dreiländereck verweist. das ende der welt könnte man meinen. gleichzeitig aber auch eine städte des weltjournalismus muss man beifügen.

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gedenkstein für egon erwin kisch im dreiländereck slowakei, ukrainie und polen (foto: stadtwanderer)

unmittelbar vor dem eingang hatten einheimische eine noch unerwartetere besonderheit eingerichtet. grobere steine standen, fast schon wie ein klein stone henge, im kreis herum. “pantheon” stand auf einem schild, was so viel bedeutet, wie “im gedenken an die menschen, die uns wichtig sind”.

der rasende reporter

viele der namen zu den steinen kannte ich nicht, einen aber schon: egon erwin kisch, den weltweit legendären “rasenden reporter” aus prag.

im ersten weltkrieg hatte der damalige jüngling noch in der k-&-k-armee gedient. das kriegsenede radikalisierte ihn; 1919 trat er der kommunistischen partei bei. i deutschland geriet er vorübergehend in haft. während des zweiten weltkrieges emigrierte er zuerst in die usa, dann nach mexico. kurz danach verstarb der rasende reporter – ausgerechnet an einem herzschlag.

1933 machte er mit einer reportage aus der deutschen gefangenschaft als erster überhaupt auf die unmenschlichen bedingungen in den nazi-gefängnissen aufmerksam. das trug ihm den ruf eines ebenso unerschrockenen wie unerbitterlichen berichterstatters über das reale leben ein. “nichts ist erregender als die wirklichkeit”, schrieb der spätere erfolgsautor zahlreicher bücher dazu. viele berichte, die meisten politisch motivierte, sozialkritische reportagen über die verhältnisse in der ersten hälfte des 20. jahrhunderts, verdanken wir dem journalisten und schriftsteller von weltruf.

während des ersten weltkrieges verfasste soldat kisch ein hautnahes kriegstagebuch, das er später unredigiert unter dem titel “schreib das auf, kisch!” veröffentliche. darin beschrieb kisch auch seine begegnung an dem ort vor dem geografischen nichts, an dem auch wir jetzt stehen. einen einheimischen habe er gefragt, wie man an die grenze zum damaligen russland gelange. ganz einfach, habe der geantwortet: nach links, nach rechts, nach links, nach rechts … dabei habe er mit den fingern die kurven genau gezählt, denn nach 36 kehren sei man unweigerlich auf feindesland. in der tat, schreibt kisch, die strasse habe sich in der folge wie eine wilde schlange durch den dunklen wald gewunden, bis man schliesslich in russland angekommen sei.

der findige blogger
wir beschlossen, uns die schlangenfahrt durch den unverändert bestehenden urwald zu ersparen und umzukehren. schliesslich bin ich nicht der erfinder der journalistischen kriegsberichterstattung im ersten weltkrieg, sondern bloss ein kleiner blogger aus der schweiz, der sich in der äussersten ecke der nordostslowakei verirrt hatte.

immerhin, wie damals das tagebuch von kisch, ist heute auch mein blog um einen bericht von einem unvergesslichen ort reicher.

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sozialpsychologie der erdbeer-jogurths

wir sitzen in senné vor dem haus der slowakischen vogelschutzorganisation vor ort und stärken uns mit einem währschaften frühstück. denn danach soll es hinaus in die sumpfgebiete. vorher aber schweifen meine gedanken zwischen erdbeeren und sozialpsychologie umher.

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marie jahoda, oesterreichisch-britische sozialpsychologin und pionierin der sozialforschung

das frühstück kurz nach sechs morgens ist reichlich. kaffee und tee werden gereicht, brot wird geschnitten, die butter taut langsam auf, der salami riecht fein, und das gemüse war eben noch auf den ständen des lokalen marktes ausgestellt.

mich interessieren vor allem die jogurths. vanille und erdbeer stehen zur auswahl. ich bin unschlüssig, nehme aber eine mit der aufschrift “jahoda”. der spezielle name gab wohl den ausschlag, denn er einnerte mich an die berühmte österreichische sozialpyschologin marie jahoda, die anfangs der 30er jahre in mariental ausserhalb wiens die arbeiterInnen befragte, die allesamt aus der eben geschlossenen textilfrabrik entlassen worden waren.

das buch “die arbeitslosen von mariental” ist als klassiker in die sozialwissenschaften eingegangen. mit damals noch wenig erprobten methoden untersuchte das team um marie jahoda, wie menschen auf arbeitslosigkeit reagieren. es kam zum schluss, dass die meisten nicht rebellieren, sondern resignieren. sozialwissenschaftern ist das heute meitens klar; politikerInnen nicht immer.

marie jahoda war damals mit paul lazarsfeld verheiratet. beide waren jung zu ihrem doktortitel gekommen und hatten sich der sozialforschung verschrieben. beide waren sie jüdischer herkunft und mitglied der sozialdemokratischen partei.

1933 kamen sie wegen den nazis in schwierigkeiten. paul ging wie viele in die usa, während marie ins gefängnis kam. 1934 wurde ihre ehe geschieden. paul blieb in den vereinigten staaten, wurde begründer quantitativer methoden in der wahl- und kommunikationsforschung und hatte mehrere professuren als soziologe inne. marie emigirierte nach ihre entlassung aus der haft nach grossbritannien, wo sie, die pionierin qualitativer methoden in der sozialforschung, die erste frau wurde, die einen lehrstuhl für sozialpsychologie leitete.

das jogurth mit der aufschrift “jahoda” schmeckte fein. erst als ich über meine wahren gründe, warum ich es gewählt hatte, erzählte, lachte meine begleitung. denn “jahoda” ist auf slowakisch keine marke, sondern heisst ganz einfach erdbeere.

marie hätte gesagt: mit quantativen methoden hätte man diese spezielle entscheidung nie bestimmen können, dafür muss man die lebensgeschichte der menschen kennen, die handeln. in meinem fall hätte ich ohne das versehen eher auf vanille gesetzt.

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kontraproduktive krähenjagd

wie man krähen nicht verscheuchen kann. der bericht aus der stadt michalovce in der slowakei.

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der stadtpark von michalovce mit den umstrittenen krähennesten (foto: stadtwanderer)

das kreischen hört man von weitem. zuerst vermutet man stimmen einer grossen, mächtigen vogelkolonie. doch dann macht einem die penetranz skeptisch. so laut? und so kontinuierlich? – das kann doch gar nicht sein.

der besuch des stadtparks von michalovce ist voll von gegensätzen. eine kleine kirche steht im zentrum. rund herum hat es bäume, die das gotteshaus um mindestens das doppelte überragen.

der park ist alles andere als lauschig, denn die vielen krähen verschmutzen ihn kräftig. die gehsteige müssten längst gewischt werden, die bänke hätten es auch dringend nötig.

beides hängt zusammen: denn die riesigen bäume mitten in einer stadt sind der tummelplatz für krähen. seit vielen jahren nutzen sie den ort, um zu nisten.

diesen frühling hat man eine firma beauftragt, die nester in luftiger höhe zu zerstören. doch der schuss ging hintern hinaus. zwar gab es einen auftrag, sagen die lokalen vogelschützer, aber keine gesetzliche grundlage für die aktion.

das problem mit den krähen in michalovce kann man nicht lösen, indem man sie vertreibt, ist die philosophie der tierliebhaber. vielmehr sollte man ihrer meinung nach die bänke überdachen und die wege wischen.

davon will die stadtverwaltung nichts wissen. statt unerlaubte nesträuber auszuschicken hat sie sich entschieden, die krähen mit lautsprechern zu bekämpfen. aus diesen tönen schrecklich-laute vogelstimmen, welche die krähen in alle winde zerstäuben sollen.

doch auch diese idee ist nicht mehr als ein bumerang. die schwarzen vögel stört der lärm nicht; sie seien dieses jahr eher zahlreicher gekommen, um zu nisten, heisst es von seiten der vogelstatistiker.

dafür bleiben die spaziergänger im stadtpark ganz aus. verdreckte bänke und betörendes gekreische lädt niemanden mehr zum verweilen mitten in michalovce ein.

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jalta im grossen – jalta im kleinen

von aussen ist unser hotel in michalovce grün eingefärbt. das gilt auch für die meisten teppich im allgemein zugänglichen bereich im innern. bei lift ändert sich das aber, denn dessen interieur ist ganz in rot gehalten. genauso wie der sitzungsraum, den man zum frühstückstreff umgestaltet hat. die stühle der wichtigen konferenzteilnehmer sind knalligem rot. hier tagten vor 20 jahren sicher noch die funktionäre der tschechoslowkischen kommunisten.

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hotel jalta in michalovce, wo wir während unseres aufenthaltes in der ostslowakei untergebracht waren (foto: stadtwanderer)

wem das hotel heute gehört, kann ich nicht zweifelsfrei eruieren. die tafel am eingang verweist schemenhaft auf eine chemiefirma. privat dürfte die aber kaum sein, liegt doch in der bar die “pravda” im ostslowakischen lokalformat auf. am ehesten wird sein, dass die chemiefirma unverändert der öffentlichen hand, dem staat oder der stadt, gehört und dieser damit der eigner im hotel jalta ist.

im frühjahr 1944 trafen sich auf der damals sowjetischen krim drei der bedeutenden staatsmänner ihrer zeit.. franklin d. roosevelt, winston churchill und josef stalin. ihr ziel war die regelung der grobverhältnisse nach dem krieg in europa. allgemein rechnete man damit, das der weltkrieg einzig in japan seine fortsetzung finden würden, was den amerikanischen präsidenten und britischen premier veranlasste, stalin einzubinden.

bei der deutschland war man sich in jalta rasch einig: sturz des naziregimes und aufteilung in besatzungszonen, die von den alliierten erobert und verwaltet werden sollten. weniger klar verteilt waren die vorstellungen bei der neugestaltung europas, denn die sowjetunion bestand auf einem breiten schutzschild von satellitenstaaten entlang seiner westgrenze.

die gesamte tschechoslowakische republik, deren vorläufer organe in der k.u.k monarchie ins europäische zentrum ausgerichtet waren, kam in jalta in den sowjetischen einflussbereich. die rote armee befreite das land von den nazis, betrachtete es aber in der folge an den europäischen osten angebunden. 1968 bestätigte sich diese annahme mit der militärischen besetzung drastisch.

erst 1989 wurde die enge anlehung an die sowjetunion mit dem zerfall des eisernen vorhangs aufgelöst. 2004 trat slowakei, die sich 1993 von tschechien getrennt hatte, mit anderen mitteleuropäischen staaten der eu bei, und anfang jahr wurde schliesslich der euro eingeführt.

vieles, was in den letzten 20 jahren wieder aufgebrochen ist, wurde im hotel jalta in michalovce noch nicht verarbeitet. das rechnen in euro fällt sichtbar schwer, den die krone ist unverändert überall angeschrieben. und es zählt in der ostslowakei ein jeder cent. am empfang ist man zwar freundlich, ja ausgesprochen jugendlich-westlich angezogen. doch schon an der bar versteht man kein wort englisch, und mit der service-ausrichtung happert es ziemlich flächendeckend.

durch die grossen politischen entwürfe im osten wie im westen unbeeindruckt geblieben scheint nur die absolut patente zimmerfrau zu sein. als mein chip aus dem fotoapparat spickt und ausgerechnet im schmalen schlitz zwischen holzbalustrade und steinmauer des salons verschwindet, weiss sie sofort rat. sie demontiert mit einigen handgriffen das gestell, weisst den herbeigerufenen, hilflosen hausmeister an, an welcher schraube er drehen solle und befreit im nu meinen chip mit allen fotos, die ich im stadtwanderer veröffentlichen will.

chapeau, madame, sagt sich da im 4. stock des roten hotel jalta von michalovce der

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der maibaum

der empfang in michalovce war lebensfroh. denn am übergang vom april zum mai ist in der slowakei was los.

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volksfest am vorabend des 1. mai in michalovce, im zeichen des maibaumes (links), (foto: stadtwanderer)

ein paar starke jungs aus michalovce trugen den maibaum durch die fussgängerInnenzone an die zentrale stelle mit dem brunnen. dort stellten sie die mit farbigen bändern geschmückte, lange birke als sichtbares zeichen des festbeginns auf. dann er tönte blasmusik von der bühne, und bald schon begannen die lebensfrohen einlagen.

selbst die ganz kleinen mädchen kam, mit streng gebündeltem haar, um zu singen und zu tanzen. die etwas älteren hatten sich schon mal ihre lippen dickrot gezogen. sie warben auf der bühne um die sportlichen jungs mit hut. die hauptsache ging jedoch ab, als die erwachsenen tanzten, in gruppen, zu zweit, bisweilen aufalleine. einmal sogar mit puppe, welche den nachwuchs symbolisiert.

in der vorersten sitzreihe freute sich der stadtpräsident über die gelungene aufführung. hinter ihm sassen die familien, deren nachwuchs auf der bühne faszinierte. selbst einige roma hatten platz genommen und zu zeigen, dass auch sie sich freuten.

zwischen bühne und publikum blieb ein wenig platz. den nutzten die muntersten und den kleinkindern. bei den grösseren reichte das kinn schon mal über die bühnenkante. und die kleinsten unternahmen die ersten schritte der werbung gegenüber dem anderen geschlecht.

wenn man in diesen tagen michalovce verlässt, wird man in den bauerndörfer rund herum über an die sitten im wonnemonat erinnert. kein haus an den ausfallstrasse, in denen eine junge frau mit freund oder verehrer lebt, hat keinen maibaum im garten nicht. denn der erinnert an den wonnemonat, den monat der liebe, die in gegenden wie jener von michalovce jedes frühling einzug hält.

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