potenzial der ethnohistorie

seit herodot oszilliert geschichte zwischen geschriebener und nicht-geschriebener variante. dabei favorisiert die geschichtswissenschaft die schriftliche form, weil sie der kritik besser zugänglich ist. das hat seine guten gründe! doch nun erhebt die ethnohistorie den vorwurf, dass so wesentliches der überlieferung unerfasst bleibe und im geschichtsbewusstsein verloren gehe. und der stadtwanderer doppelt nach; sie verschliesst einem den blick auf geschichte, die noch nicht geschrieben wurde, aber in grosser zahl rund um uns herum existiert. soweit die these zu meiner auseinandersetzung mit herodot und seinen folgen, – 3. teil!

folge 1: herodot – vater der geschichtsschreibung

folge 2: räume sehen und lesen lernen

unterschätzte ethnohistorie


während meines geschichtsstudium bekam ich von der verbindung der historie mit der ethnologie nur wenig mit auf den weg. ethnologie galt uns damals bestenfalls als erneuerte völkerkunde, die durch den missbrauch im dritten reich diskreditiert war. was danach folgte, war der versuch einiger intellektuellen, die nicht mehr kolonisierte, aber weiterhin traditionelle Welt zu verstehen. sie zu studieren, erschien mir wenig lohnend.

einen ersten gegenpunkt setzten die befreiungsbewegungen in aller welt, über die die medien im gefolge des vietnam-krieges berichteten. sie waren anti-amerikanisch, anti-imperialistisch, und sie hatten die sympathien meiner generation, was sich in der lektüre von unzähligen rororo-taschenbüchern äusserte. ernsthaft studieren konnte man dieses neue teilfach der geschichte jedoch nicht, und wenn sich einer wie (der schon früh verstorbene) albert wirz daran machte, da sah man darin den versuch, einen ganz spezialisierten lehrstuhl an einer fernen uni zu erwerben.

zwischenzeitlich hat sich die ethnologie kräftig gewandelt, und sie beginnt uns weltverständnis gründlich zu verändern. sie lehrt uns, die kulturellen selbstverständnisse der religionen, der philosophien und der sozialwissenschaften zu entdecken und zu reflektieren. dabei macht sie nicht halt vor der geschichtswissenschaften. wie alle kulturwissenschaften unterliegt sie zeitlichen und räumlichen einflüssen, ist sie selber kulturell gefangen.

assmanns und müllers grosser wurf

das markanteste buch, das ich hierzu letztes jahr in den schwedischen wäldern zu lesen begonnen und jetzt endlich verstehe, heisst „Der Ursprung der Geschichte“. herausgegeben wurde der sammelband von jan assmann und klaus e. müller.


(foto: schweden-wanderer, anclickbar)

der historiker assmann war bis vor kurzem professor für aegyptologie an der universität heidelberg; er erhielt 1998 mit dem deutschen historikerpreis die begehrtes auszeichnung der profession und hat seither eine fast unübersichtliche zahl von büchern, artikeln und interviews veröffentlicht. klaus e. müller ist emeritierter professor für ethnologie an der universität frankfurt und arbeitet seither an verschiedenen kulturwissenschaftlichen instituten. auch er hat in den letzten 10 jahren zahlreiche bücher veröffentlicht.

die beiden herausgeber beschäftigen sich mit ihren mitstreiterInnen mit den archaischen kulturen, dem alten ägypten und dem frühen griechenland. dabei geht es ihnen nicht um die schon so oft erzählte ereignisgeschichte: sie beschäftigen sich auch nicht mit neuen erkenntnisse der archäologie. vielmehr beschäftigt sich das wissenschaftsteam mit dem Verhältnis von zeit und geschichte, mit den geschichtsverständnissen vor herodot.

der verschlossene blick auf die orale ueberlieferung


vor allem im einleitenden kapitel von klaus e. müller zum ursprung der geschichte wird eine faszinierende ethnologische theorie von gegenwart, vergangenheit und zukunft, dem entstehen von erinnerung, ihre aufbewahrung und ihre darstellung vorgeführt. es geht darum, wie zeitverständnisse überhaupt entstehen, wie traditionen gebildet werden, wie trennungen davon perspektiven eröffnen und zurückgelassenes historisieren. und genau damit werden die voraussetzungen der geschichte geschaffen: denn nicht nur texte, auch kulturen archivieren wissen, sind gedächtnisse, museen vergangener zeiten gleich, die so in die gegenwart reichen.

das gebotene ist nicht zuletzt eine raffinierte kritik am geschichtsselbstverständnis der profession im gefolge herodots. denn geschichte ist viel älter als die vorherrschende geschichte der geschichtsschreibung vorgibt. geschichte existierte auch ohne die philosophie der griechen und das alphabet der phöniker. geschichte ist eine viel grundlegendere kulturelle leistung des menschen.

das alleine lässt aufhorchen, – und mahnt zur vorsicht: völker ohne schrift werden gemeinhin auf tieferem kulturellen niveau angesiedelt als solche mit schrift. und völker ohne schrift gelten deshalb den meisten als geschichtslos. damit sind wir wieder nahe bei wertlos, so wie die aussereuropäische geschichte in meinem studium. und wir sind auch bei herodots selbstverständnis.

dieses denkschema geht nicht zuletzt auf herodot zurück: wie bis heute üblich, unterschied er führende hochkulturen von abhängigen pflanzerinnen- und züchterkulturen, diese wiederum hat er gegen hirtennomadische kulturen abgegrenzt, die sie schliesslich über sammlerinnen- und jägerkulturen zu stellen.

formen der oralen geschichte

um aus diesem, vor literalität geprägten kulturverständnis auszubrechen, muss man sich, so der sammelband von assmann und müller, den annahmen der griechischen geschichtsschreibung versagen:

. man muss die geschichte vor der geschichtsschreibung entdecken wollen. . man muss sich den nicht-schriftlichen formen der überlieferung öffnen.
man muss dabei der falle der alten überlieferungen entweichen, die herodot vor 2500 jahren endlich überwunden hatte.

das ist ihr modernes programm der ethnohistorie, die ueberlieferung sehr wohl kennt, wenn auch nicht in literarischer form.

auf dieser suche nach traditionellen überlieferungsformen hat die ethnologie ziemlich allgemein sechs gattungen gefunden, die nicht-schriftlich von vergangenem berichten; es sind dies:

. mythen, die von der entstehung der welt durch die götter erzählen;
. legenden und sagen, welche die grossen taten tradieren, die halbgötter und urahnen vollbracht haben,
. genealogien, die die stämme aufzeigen, die von der gegenwart zurück zu den urahnen führen,
. grabreden, die gehalten werden, wenn jemand bedeutsames verstirbt und damit der genealogie übergeben wird,
. preisgesänge, die von den taten lebender menschen berichten, wenn sie in der öffentlichkeit auftreten, und
. geschichten, die man sich im alltag vor allem über die vielseitige tun und lassen der herrschenden erzählt.

mythen, legenden, sagen und genealogien sind für das weltverständnis traditioneller gesellschaften von grundlegender und wenig hinterfragter bedeutung. grabreden, preislieder und geschichten ihrerseits tragen zur stärkung des gemeinschaftsbewusstseins bei.

das führt zur zentrale these der ethnohistorie: geschichte entsteht nicht mit ihrer verschriftlichung; sie setzt mit jeder ethnischer differenzierung ein. denn sie soll die unterschiedlichkeit der lebensformen erklären, die man in verschiedenen räumen, aber auch zu verschiedenen zeiten vorfindet. dabei neigen kulturen, die sich selber für besser halten, dazu, mit geschichte die bestehenden, ungleichen verhältnisse zu legitimieren.

die autoren gehen in der kritik an herodot noch weiter. er habe gar nichts neues erfunden. er habe nur die damaligen akzente des umfassenderen geschichtsbewusstsein verschoben. ihn faszinierten sagen, weil sie von sterblichen handelten; doch erklärten sie den gang der dinge nach dem persischen krieg nicht mehr. deshalb habe er sich der jüngeren und jüngsten vergangenheit zugewandt, die sich durch vertrauenswürdige gewährleute, durch augenzeugen und vom hörensagen bestätigen liess. denn sie galten als die verlässlichsten quellen, die einem die aktuelle veränderung erschliessen können. sie festzuhalten, war sein ziel, um athens gewachsene grösse zu zeigen und zu sichern. herodot sah seine stadt als d i e hochkultur seiner zeit; doch sie stand nicht unbestritten, nicht alleine da. sie musste sich gegen persien und sparta verteidigen, und genau deshalb habe herodot so geschichte als eindringliche warnung, als neue sage erzählt und geschrieben.

merkverfahren der ueberlieferung

selbst wenn man die kulturellen implikationen herodots geschichtsschreibung heute hinterfragen kann, eröffnen sich einem mit seinen quellen die merkverfahren der nicht-geschrieben geschichte. ss zeigt sich einem der weg, den die literale geschichte zurückgelegt hat, als sie die orale und gegenständliche tradierung überwand. zu den gängigsten verfahren der überlieferung zählten:

. merkörter: orte mit namen und wege dazwischen, die einen folgezusammenhang zwischen den lokalen geschehnissen herstellten,

. merksachen: objekte aus beuten (insbesondere waffen) oder sonstigem erinnerungswert (grabsteine und menhire, reliquien und sakralobjekte, die vererbt wurden und in geheimbünden zum sprechen gebracht werden konnten

. merkhölzer und merkschnüre, die das zählen auf einer reise oder bei tauschgeschäften erleichterten, oder an vereinbarte treffen erinnerten

. merkmotive, die durch reim, versform, sprechgesang oder als lieder vorgetragen wurden, wobei melodien und rhythmen für ganze geschichten stehen

. merkbilder wie darstellungen der urzeitwesen und porträts grosser ahnen in den versammlungshäusern.

der nutzen für die vergangenheit und die gegenwart


spannend ist dieses geschichtsbuch, weil es die kulturellen leistungen der griechischen geschichtsschreibung und der historiographie, die sich darauf bezieht, nicht leugnet. doch es historisiert sie, lässt sie selber zu geschichte werden, um eines zu verstehen: geschichte wurde nicht erfunden, vielmehr hat sie selber geschichtliche ursprünge. diese erkennt die literatur seit herodot nicht, weil sie in ihrer eigenen kulturellen tradition gefangen ist. diese zu überwinden, gelingt jedoch der ethnologie. denn sie macht klar, dass überlieferung nicht literal, sondern oral entsteht. und orale traditonen der ueberlieferungen entstehend aus symbolen, zeichen, die der mensch mit objekten, tönen, bildern und wörtern ganz bewusst setzt, um das erinnern zu erleichtern, selbst wenn man örtlich oder zeitlich vom geschehen entfernt ist.

nun zeigt die ethnologische erkundung in der gegenwärtigen welt, dass dieser übergang auch heute noch stattfindet. deshalb lassen sich in gegenwart wie in der vergangenheit die traditionellen formen der tradierung und ihre techniken der memorierung studieren. sie sind heute genauso so, wie sie es früher waren, vordergründung individuelle leistungen, in denen sich jedoch kollektives erinnern äussert. das ist die aufgabe der historikerInnen nicht erst sein herodot, sondern auch ihrer kulturell älteren vorfahren.

an diesem dedankengang der ethnohistorie fasziniert mich weniger das tor zu den ganze alten kulturen. vielmehr spricht mich an, dass sich damit auch türen für die alltagsgeschichte öffnen, die bei weitem nicht immer verschriftlicht ist. dazu meine vorläufigen anregungen.

nicht-schriftliche formen der alltagsgeschichte wieder erkennen

erstens, wer erinnert sich nicht schon daran, vor bilderfolgen mit zeitlichem sinn gestanden zu sein? Ist nicht der heutige film das adäquate medium der alltagsgeschichte?

zweitens, wer erinnert sich nicht an kinderreime, schulgedichte, weihnachtslieder und demo-skandierungen? bedient sich nicht die werbung heute massiv der merkmotive mittels slogans und musak?

drittens, wer hat nicht selber schon einen knopf ins taschentuch gemacht (also sie noch nicht aus papier waren!), oder mit dem sackmesser kerbhölzer geritzt, und weiss heute noch, was er oder sie damit memorieren wollte? ist nicht das armband der kinder die heutige form, ferienerinnerungen aufzubewahren?

viertens, wer war noch nie in einer kunstwarenhandlung, wo man exotische teppiche und skulpturen ausgestellt hat? ist nicht die schatulle, in der man erbstücke aufbewahrt, die geheime form des familienzusammenhalts?

und fünftens, wer war noch nie auf einem vita-parcours, bei dem man erinnert wird, welche vergessen gegangenen Bewegungen für einen gesunden Körper nötig sind? ja, damit bin ich bei meiner pointe: ist nicht die stadtwanderung die heute adäquate form der nicht-schriftlichen vermittlung von stadt- und landesgeschichte, von raum- und kulturgeschichte?

mehr über filme, werbung, armbänder, schatullen als kulturelle ueberlieferungstechniken, wenn ich wieder stadtwandern kann!

stadtwanderer

jan assmann im perlentaucher.de

klaus e. müller im perlentaucher.de

insel erobert, welt in sicht

so ist das heute: da erhält man in den schweden ferien eine postkarte, wird zum weekend nach arboga eingeladen und erhält dort ein taufrisches buch zur schweiz übereicht: „Guidebook to Direct Democracy. In Switzerland and beyond“, herausgegeben von Initiative&Referendum Institute Europe habe ich geschenkt erhalten und eine kleine wanderung mit dem herausgeber gemacht; – der report!


wie alles begann: eine postkarte in unserem briefkasten
(foto: stadtwanderer)

Mr. President and beyond …

bruno kaufmann ist schweizer und stammt aus dem luzernischen. 1989 war er aktivist bei der versuchten abschaffung der armee. trotz der niederlage, die er und seine getreuen damals einfingen, ist er ein dezidierter befürworter der direkten demokratie (das BK mit zwei grossen DDs schreibt) geworden. aus prinzip, wie er sagt, nicht aus vorteil. anders als ein französischer europaparlamentarier, der ihn gerade wegen einer eu-initiative angerufen hat. weil bruno die initiative positiv dokumentiert hat, sie aber quer in der politischen landschaft frankreichs steht, hat ihm der französische politiker präventiv die unterstützung gekündigt.


bruno kaufmann, president iri-euorpe

ihm, das ist das IRI, das Initiative&Referendum Institute, ein think thank für direkte demokratie, dessen europäischer präsident bruno seit 2001 ist. angefangen hat es noch ziemlich abenteuerlich: bruno hat, wie er über sich selber schreibt, an der University of Gothenburg einen master in sozialwissenschaften erworben. seither ist er berichterstatter über den europäischen norden für die „Zeit“ und den „Tagi“ gewesen; gegenwärtig arbeitet er für radio DRS in gleicher sache. nächstes jahr soll die karriere des 40jährigen den vorläufigen höhepunkt erreichen, ist bruno kaufmann doch der wegbereiter der 1. weltkonferenz für direkte demokratie, die auf seine veranlassung hin im heimischen luzern stattfinden wird.

representative democracy and beyond …

arboga, wohin bruno kaufmann uns einlud, hat mir natürlich gefallen: mittelalterlich, mit kopfsteinpflaster und historisch bedeutsam. 1435 tagte hier der erste schwedische reichstag, der vorläufer des heutigen parlamentes. volksheld eckebrecht mobilisierte damals gegen den dänisch-schwedischen könig, der die in schweden ungeliebte kalmarer-union repräsentierte, und er versammelte seine getreuen oppositionellen in der schwedischen kleinstadt. gerne wird er mit der armbrust abgebildet, – und gleicht so, wenigstens für schweizer, ein wenig willi tell. den verhassten könig konnte eckebrecht jedoch nicht stürzten; das gelang erst drei generationen später gustav wasa, der dann das moderne schwedische königreich – nationalstaatlich, lutheranisch und militärische expansiv – begründete. davon profitierte 1648 auch die schweiz, denn schweden war neben frankreich die zweite garantiemacht bei der unabhängigkeit des landes vom heiligen römischen reich deutscher nation, zu dem es damals formell noch gehörte. von da entwickelte sich schweden – ganz anders als die schweiz – zur parlamentarischen monarchie, in der die sozialdemokraten seit jahrzehnten den ton angeben. vorläufig noch, denkt sich bruno kaufmann insgeheim!


strasse von arboga, an welcher sich 1435 der erste schwedische reichtstag traf
(foto: stadtwanderer)

einige kilometer ausserhalb von arboga hat der schweizerisch-schwedische doppelbürger bruno mit seiner frau elisabeth, mit seinen töchtern wanja und nina und den beiden meerschweinchen mümla und semla ein kleines ferienhaus. da leben sie, weg vom neuheimischen falun, wie wir, seine 300 kilometer entfernten „nachbarn“, mitten im wald. aber mit internet: „studio Arboga“ nennt bruno kaufmann das, denn gelegentlich spricht er direkt aus der pampa, wenn man ihn in der schweiz hört. in die 8 kilometer entfernte stadt einkaufen gehen die grünen kaufleute nur mit dem fahrrad. ein auto haben sie nicht. und schliesslich ist der politologe ein grossen anhänger des road pricings in stockholm, über das am 17. september 2006, gleichzeitig mit den schwedischen parlamentswahlen, in einer volksabstimmung entschieden wird.

und das ist auch sein thema: den weltweiten export der einzigen schweizerischen politischen erfindung zu fördern. vielleicht wird bruno kaufmann einmal als henry dunant der direkten demokratie weltweit bekannt sein. dafür fliegt er jetzt schon mitten in den sommerferien nach japan, jettet er an einem wochenende von bern, wo er an meiner stadtwanderung teilnimmt, nach stockholm, wo er seine weltkonferenz für DD vorbereitet, und geht dann mit dem flugzeug wieder nach zürich, wo er eine ungarische oder bulgarische oder spanische oder deutsche oder französische oder polnische oder russische studiengruppe durch die schweiz führt.

the big challenge and beyond …

zusammen mit zwei anderen schweizerInnen, dem politologen rolf büchi, der in helsinki lebt und arbeitet, und mit der juristin nadja braun, die in der berner bundeskanzlei für volksrechte zuständig ist (und da natürlich auch viel arbeitet!), hat er vor zwei wochen das genannte buch als 2007er edition des „IRI Guidebooks“ herausgegeben. es stellt analysen und meinungen zur direkten demokratie vor, und es stellt essays zur direktdemokratischen schweiz schweiz resp. fakten zur noch nicht direktdemokratischen welt zusammen.


(foto: stadtwanderer)

es ist nicht für schweizerInnen gedacht, sondern für freunde der direkten demokratie in der ganzen welt. deshalb ist es von a bis z auf englisch erschienen, hat es ein prominentes vorwort, von der aussenministerin micheline calmy-rey, und wurde es von präsenz schweiz unterstützt. roger de weck, kaufmanns ehemaliger chef bei der „Zeit“ und beim „Tagi“ schreibt über das buch in leichter abwandlung von churchills spruch: „Direkte Demokratie ist die schlechteste Form der Demokratie – ausser aller anderen.“ und brian breedham vom economist lobt gleich weiter: „das ist das klarste und überzeugendste buch, das ich je über direkte demokratie gelesen habe.“

direct democracy in switzerland and beyond …

die herausgeberInnen sehen sich in einem grossen trend: direkte demokratie, in den liberalen kantonen der schweiz des 19. jahrhunderts soeben 175 jahre alt geworden, ist die adäquate antwort auf die kommende weiterentwicklung der demokratie. heute lebt die mehrheit der menschen unter mehr oder minder demokratischen verhältnissen, doch genügend freie wahlen für das parlament und verfassungsmässig garantierte menschen- und frundrechte nicht mehr. gefordert wird die demokratisierung der demokratie! die bürgerInnen-mitsprache muss bei sachfragen ausgebaut werden; abgehobene politische behörden müssen zurück verortet werden, und der bevölkerungswille muss in der politischen planung und in der willensbildung von regierung und parlament besser verankert werden.

gleich weltweit wollen die autorInnen das system der schweizerischen demokratie nicht einführen; dafür sind sie realistisch genug. das parlamentarische politische system durch volksabstimmungen auf stadt- und länderebene erweitern jedoch schon, dafür sind sie hartnäckig genug.

deshalb haben sie 12, leider nicht gezeichnete essays verfasst oder verfassen lassen. am anfang steht astrid r., die nicht in altdorf, sondern in zürich lebt. auch in der grössten schweizer stadt regiert die direkte demokratie; 2003 hat sie als stadtzürcherin an sechs wahlgängen und 30 referenden teilgenommen. sie ist modern, zu modern für zürich, und sie unterliegt deshalb in der mehrzahl der fälle bei sachabstimmungen. aber sie ist stolz, einen persönlichen beitrag zur politische verantwortung für ihr land beitragen zu können. dann geht nach den prinzipien von IRI rasant durch das politische system der schweiz:

. wie das volk dank direkter demokratie gas geben kann, wird beschrieben.
. wie die demokratische revolution mitten in europa entstand, wird berichtet.
. wie die direkte demokratie aus bürgerInnen glücklichere menschen macht, bekommt man zu lesen.

überhaupt: direkte demokratie wird am beispiel des kantons juras als zeitgemässe und friedliche form der geburt von gliedstaaten empfohlen, und als sinnvolle regierungsweise in ihnen und ihren kommunen dazu. dann kontern die herausgeberInnen knallhart den härtesten vorwurf an die schweiz im ausland: dass die bürgerInnen überfordert seien, wenn sie mehr als zwischen zwei parteien auszuwählen hätten.

doch auch damit nicht genug: abschliessend wird auch gezeigt, wie das design von institutionen die qualität von demokratie beeinflusst und wie der verbesserungsdiskurs in der schweiz geführt wird. das alles mündet ins schlusskapitel: „Utopia becomes reality“. hier werden die ansätze der direkten demokratie von norwegen bis taiwan präsentiert, um schliesslich bei den europäischen verfassungsabstimmungen zu landen. falsches design, entsprechender misserfolg!, könnte man nach der lektüre des bandes zur direkten demokratie hierzu sagen.

guidebock and beyond …

die kapitel sind kompetent, kritisch und kurz. von lehrerhaften ausführungen resp. fussnoten-exkursen sind sie gottseidank ganz befreit worden. wer das buch mehr als lexikon nutzen will, schlägt hinten nach: bei der ausführlichen literaturliste, bei den factsheets, bei den statistiken über die volksabstimmungen in der schweiz und 32 weiteren europäischen staaten. und wer in der schweiz einmal einen vortrag an einer ausländischen botschaft machen sollte, bekommt das beste glossar aller begriffe geboten, die von der direkten demokratie handeln, freihaus geliefert: in fachlich korrektem und stilistisch perfektem englisch, für das der übersetzer und korrektor paul carline von der manchester university gesorgt hat. momentan sucht man noch sponsoren für buchübersetzungen ins französische, ins deutsche und ins spanische. eine arabische version ist schon unterwegs!


traditionelle form der direkten demokratie: landsgemeinde im rahmen der versammlungsdemokratie

es wäre zu wünschen, dass aus dem guidebook ein regelmässig erscheindes jahrbuch würde. trotz den 333 eng bedruckten seiten ist vieles, was nötig ist oder in diskussion steht, nicht gesagt resp. geschrieben worden. es fehlt immer noch an aussagekräftigen bildern über die modernen formeb der direkten demokratie in der schweiz. die ersten anfänge im buch wirken noch etwas zaghaft. und es darf nicht übersehen werden, dass seit einigen jahren die mehrheit der volksabstimmungen nicht mehr in der schweiz, sondern darüber hinaus stattfindet.

„Switzerland and beyond“ ist nicht nur ein schöner untertitel für ein buch. es ist eine harte realität der politischen entwicklung heute. diese mit und aus dem schweizerischen hintergrund zu verfolgen und einen beitrag zur demokratiepraxis weltweit zu leisten, ist wohl eher eine dauerbeschäftigung als eine von bucheditorInnen im frühling 2006.


moderne form der direkten demokratie: einwohnerInnen-votum im rahmen der abstimmungsdemokratie

besonders wertvoll fand ich beim lesen „factsheet 3“, wo über die unterschiede der vor- und der modernen demokratie berichtet wird. da geht es auch den schweizerInnen ans eingemachte: propagiert wird die individualistische demokratie, die alles andere als die landsgemeinde oder gemeindeversammlung ist. sie ist kein gegenkonzept mehr zur aristokratischen regierungsweise; vielmehr ist sie die alternative zur repräsentativen demokratie. begründet wird sie ganz im naturrecht, und die prinzipien der direkten demokratie sollen nicht für die ingroups einer nation, sondern für alle menschen eines raumes gelten. partizipationsausbau rund herum, als bester schutz gegen politische korruption, die mit ämter- und stimmenjagd der parteien, wird hier empfohlen. “das alles ist auf unserem mist gewachsen”, sagt kaufmann.

ein ander mal würde ich gerne mehr und ausführlicher darüber lesen. und ich würde gerne mehr nicht-schweizerische autorInnen zur direkten demokratie schreiben lassen. dafür könnte man die eine oder andere dokumentation getrost ins internet stellen. ich glaube nicht, dass jemand die vollständige liste der eidgenössischen volksabstimmungen von 1848 bis heute auf englisch lesen wird; ich bin aber sicher, dass man über die thematischen anknüpfungspunkte und ergebnisse staunt, wenn man im www über die schweiz recherchiert.

beyond the first island …

ein paar schritte wandern wir noch gemeinsam, bruno und ich. diesmal nicht in bern, sondern an den arboga-fluss. das politisieren lassen wir. aber bruno erzählt von seinen nachbarn im wald: der eine pensioniert, lebt mit seiner frau das ganze jahr abseits, – „hejhej“, denn sie strecken gleich die köpfe raus, als wir kommen. der andere ist lutheranischer bischof, vormals arbeiterpfarrer in arboga, – und schliesslich sind wir doch noch bei den politikerInnen angelandet. die sind jedoch nicht zuhause; sie ist parlamentarierin für die sozis in stockholm; er war berater von anna lind, bevor sie ermordet wurde. er wird nun staatssekretär im aussenministerium, deshalb zügeln sie gerade. “vielleicht”, orakelt der in schweden oppositionelle kaufmann, “wird das nur ein kurzes gastspiel; gut ist es nicht, wenn eine partei so lange alleine regiert.” schön grün, ist es in ihrem garten jedenfalls schon!

nach arboga eingeladen hat uns bruno mit einer für ihn typischen postkarte. sie zeigt in einem der vielen schwedischen seen eine klitzekleine insel, – mit einem haus oben drauf, das genauso gross wie die insel ist. der erste stock ist erheblich, der aufbau darauf gering, das dach ist schon fast flach. vielleicht war das als symbol für die schweiz gemeint: flächendeckende direkte demokratie, welche den unterbau der politik stärkt und die spitzen schwächt. noch ist die insel durch wasser vom umliegenden land mit viel wald abgetrennt.

ebenso symbolisch könnte man bruno erwidern: am liebsten würdest du einen grossen brand auslösen, in den vielen wäldern schwedens und der welt. dort, wo wir unsere ferien verbringen, hat es in diesem trockenen sommer schon mal so viele waldbrände wie seit 15 Jahren nicht mehr gegeben. eben: man ist weltweit in brunos trends!


foto: iri-euorpe

und im herbst sind wahlen in schweden, verbunden mit volksabstimmungen wie dem road pricing in stockholm. eckebrechts nachfolger in den schwedischen städten mobilisieren schon, weniger laut, aber vielleicht erfolgreicher als der unglückliche held von 1435. ueber das ergebnis der wahl und der abstimmung wird der journalist kaufmann sicher mit ebenso grossem engagement in der schweiz berichten, wir er die direkte demokratie in schweden und anderswo vorstellt: „präsente Schweiz, präsente Welt“, ist das motto des weltenbummlers, lokalaktivisten, familienmanns und meerschweinchenhüters.

stadtwanderer

iri-europe

ode ans kopfsteinpflaster (5)

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zurück zu teil 2 (zur geschichte der pflastersteine)

zurück zu teil 3 (zur politologie der pflastersteine)

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schluss mit pflastersteinen

wer denkt, die mittelalterlich geprägte stadt könne vorgestellt werden, ohne vom pflasterstein sprechen zu müssen, der oder die täuscht sich gewaltig. pflastersteine erschliessen einem den raum, sagt der stadtwanderer. was will man mehr?


foto: stadtwanderer (anclickbar)

man bekommt sie gerne, wenn man kopfsteinpflasterstrassen (fast) täglich erwandert. sie fehlen einem, wenn man von ihnen getrennt ist. so klein ein jeder kopfsteinpflaster ist, so gross ist das leben, über das sie berichten.

stadtwanderer

ode ans kopfsteinpflaster (4)

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zur sozialforschung der pflastersteine

damit sind wir definitiv bei der sozialforschung der pflastersteine angelangt: soziologisches bewusstsein wird nötig, psychologische Kenntnisse sind von vorteil, diskursfähigkeit im team ist gefragt, bei gleichzeitig methodisches vorgehen, das sich aufdrängt: denn es geht um pfalstersteine als soziale haut. man nähert sich in dieser perspektive dem ort der (fast unmittelbaren) begegnung von mensch und stein. Der content dieser website ist ebenso unvollendet, wie das buch der historiker, das gespräch mit der politologin. Doch er hat schon einen arbeitstitel: „Stadterfahrung durch Pflastersteine. Möglichkeiten und Grenzen einer modernen Lebensform“. auf der homepage sind drei bilder von franz von assisi, max weber und niklas luhmann. Darunter die ersten textentwürfe: als erinnerung an die franziskanerklöster, wo man noch barfuss natur und kultur erfuhr. den click zum zweiten bild schafft man über einen birkenstockschuh, um dann zu lesen. Im wissen um die protestantische ethik, die die welt entzauberte, das subjekt rationalisierte und der moderne durch objektivierung der dingbar gewordenen objekte zum durchbruch verhalf. nur mit luhmann kann man noch nicht direkt kommunizieren, „under construction“ steht da vielsagend. Immerhin: ein pflasterstein steht zum unverbindichen anclicken da, um dann „Autopoesis des Kopfsteinpflasters“ aufblinken zu sehen und „Die Herausforderung der soziologischen Theoriebildung“ vorgesetzt zu bekommen. man ist froh, nicht weiter zu kommen „404 this page not found“ und beim gegenständlichen von max weber bleiben zu können, denn da geht es noch empirisch, das heisst einigermassen erfahrbar, halberwegs verständlich und mehr oder weniger plausibel zu und her.


foto: stadtwanderer (anclickbar)

„Buckelig“, hiesse der erste erkundungsbericht, den man sich herunterladen kann. es geht um das leben benachteiligter. von spitzen pflastersteinen ist die rede, von erosionen des untergrunds wird berichtet, über die unebenheiten des realen wird geklagt. da weiss jede und jeder: es geht um kopfsteinpflaster! um pflasterstrassen! um bsetzisteine! sie alle schaffen diskriminierungen, denen man sich in der viel beschäftigten alltagswelt oft zu wenig bewusst wird. erfahren wird man das erst, wenn man im rollstuhl sitzt, nach einem skiunfall oder aus altersgebrechlichkeit. doch dann wird man sehen, wie hinderlich pflastersteinstrassen sind. symbol der sozialen qual steht da im deutsch der sozialarbeiterInnen. doch es stimmt: man sitze gesund in einen rollstuhl und befahre diese buckeligen strassen, bewege die ganze körpermasse nur mit der bescheidenen kraft der eigenen arme. die kleinen vorderräder werden unkontrolliert herumzappeln, der rollstuhl wird nicht steuerbar sein, durch vertiefte wasserrinnen geführt werden, an erhöhte randsteinen anschlagen. selber wird man bis aufs mark vom kopfsteinpflaster geschüttelt werden, und entnervt aufgeben! test bestanden, steht auf der website zu lesen. gründen sie eine selbsthilfegruppe, um das sozialamt zu mobilisieren. aktivieren sie das sozialamt, um die stadtplanung zu beeinflussen. politisieren sie die stadtplanung, um die architekturschulen sensibilisieren! erleben sie die genese der kopfsteinpflaster-bewegung! Wahrlich, diese website fährt ein.


foto: stadtwanderer (anclickbar)

„ganz unten“ ist der zweite erkundungsbericht betitelt. eigentlich müsste man hier nicht mehr mit den augen, sondern mit der nase die virtualität und realität erkunden. denn es geht um abfall, den keine andere form der strassenbedeckung besser aufbewahrt als das kopfsteinpflaster. archäologie der pflastersteine hat foucault diese sektion des fachs schon mal genannt. es geht um die alltäglichkeit von kaugummis, drogenspritzen und zigarettenstummeln., sie alle finden sich im auf strassen mit kopfstein gepflästert zuhauf. Im schwang ist gerade das seminar zu „wende im sozialen“. die vorbereitungslektüre lieferte die bewusstseinsindustrie mit dem slogan „Rauchen schadet der Gesundheit“, nachgedoppelt hat das administrative system der gerichte, die den befund der aerzteschaft im streitfall bestätigt hat, und seither privatisiert die öffentlichkeit die sucht. um saubere kopfsteinpflaster zu bekommen, wird eine übung zu „Raucherstüblis“ veranstaltet. Es geht darum, für alle schichten, generationen und geschlechter in der passenden form den sozialen kontrolle zu finden. denn ein essay in den berliner heften „soziales pflaster“ hat jüngst darauf verwiesen, wie die zusammenhänge von sexualität, kultur und kopfsteinpflaster funktioniert. zunächst der typ „Schüchterner an der Bushaltestelle“, der schon lange und nur zu gerne mit der attraktiven frau von nebenan in kontakt getreten wäre, die zigarette stets bereit hält, für den fall, dass sie kommt, um nach feuer, „Feuer!“ fragen zu können, doch dann, welche katastrophe für das ich, als er nur ein achtloses „Da!“ zur streichholzschachtel hinzugefügt bekam, kein kuss sich ergab, der weiteres ermöglicht hätte, und der sich hier mit der bestrafung von natur und kultur revanchiert, indem er die noch ungebrauchte Zigarette auf das trottoir schmeisst. sodann den typ „wartende im strassenkaffee“, die umschwärmt und angebetet werden will und bis dies eintrifft, die ewigkeit des alleinseins mit lutschen am raucherstengel überbrückt, um dann, wenn sie erlöst werd, die zigarette flugs einzutauschen gegen das vielversprechende gespräch der augen und der hände; und schliesslich der typ „macho“, der sich seiner sexuellen macht bewusst über die gehsteige der stadt schlendert, bis ein fisch anbeisst, um der sich dann, als untrügerisch es zeichen des beginnenden vorspiels als erstes der zigarette zu entkleiden beginnt, die er auf die ühne des lebens schmeisst, sobald sie unwesentlich geworden ist. ja, „pflaster&stein“ hat unsere übungsteilnehmerInnen daran erinnert, wie wichtig kopfsteinpflasterstrassen sind, wie viele menschentypen froh sind, dass ihr persönlicher widerstand gegen das normative der gesellschaft irgendwo sichtbar aufbewahrt bleibt. Mehr dazu gibt es in der nächsten ausgabe, die man dann wieder runter laden kann.


foto: stadtwanderer (anclickbar)

vorerst muss man sich mit den dritten und letzten link „spuren zum sein“ begnügen. es geht um taubenkot und katzenfutter, um teddybären und menschenkleider, über die das kopfsteinpflaster regelmässig vermisstmeldungen erstellen könnte. doch nicht nur das: kopfsteinpflaster sind eine form von kunst. sie sind der restposten ornamentaler gestaltung in der westlichen welt, wie die reportage der hiesigen fachhochschule für visuelle kunst zeigt. zudem erschliessen einem farbkleckser in jeder form den strassenraum. da hat noch eben der maler von nebenan gewirkt, und mit wasser geputzt; hier hat die künstlerin aus dem dachstock ihre farben als szenische kunst auf die strasse fallen lassen. Es gibt städte, da werden die vorbeiziehenden touristen periodisch geduscht, um den speziellen witz des ortes zu erfahren. pflastersteinspuren sind manchmal noch unangenehmer: ist das nicht der rest der katze, die jüngst überfahren worden ist? und war das hier, wo letzte nach jemand erstochen worden ist? angenehmer ist es, wenn pflastersteine schöne plätze formen, die schon mal fotosessions für japanische modezeitschriften gesehen haben. überhaupt, wenn ein hauch von welt über die pflastersteine duftet, lebt man auf. da raucht einer mal wasserpfeife auf der kopfsteinpflasterstrasse, während vis-à-vis weinduft aus dem keller emporsteigt. ein blumenladen gestaltet den raum vor der eigenen türe mit schönen pflanzen, und der antiquar, der vergangenes wissen bewahrt, will mit weihrauch das strassengeschäft ankurbeln. bisweilen wird man überrascht, wenn selbst in der protestantischsten aller städte die kontrolle nicht mehr funktioniert, weil doch tatsächlich konfettis seitlich zum münster im kopfsteinplaster aufgebahrt von der letzten kinderfasnacht zeugen. spannend wird das pflaster bei brunnen. abflüsse gestalten die pflasterstrassen und lassen schon mal ein paar blumen platz, während sich bei zuflüsse oftmals metall und stein verbinden. tröge wieder gewähren an heissen tagen durstigen tieren einen kühlen schluck. am interessantesten ist es aber, die spuren des lebens von steinen selber zu bestimmen. frisch gepflästerte steinstrassen erkennt man sofort daran, dass sie wie hunde aussehen, die gerade aus dem coiffeursalon kommen. altes Pflaster dagegen ist abgewetzt, hat panzerspuren, ist von tramerschütterung zerfallen, ist mit gummistreifen auf bremsmanövern überzogen oder wurde immer wieder mit kies überdeckt. gleichsam höhepunkt der sozialforschung auf pflastersteinstrassen ist es, wenn namen eingraviert wurden. „Therese Schlicht“, ist da schon mal zu lesen. und wo man hinschaut. jedem stein seine person. jeder person ihren stein. gott sei dank ist letzte die unpersönlichkeit des steins verschwunden, und die endlichkeit der person verewigt.


foto: stadtwanderer (anclickbar)

petrus, du bist der pflastersein, auf den ich meine kirche gebaut habe, suche ich allerdings verzweifelt immer noch.

stadtwanderer

vorwärts zum ende (schluss mit pflastersteinen)

ode ans kopfsteinpflaster (3)

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zur politologie der pflastersteine


nahtlos kann man so die politologen begrüssen, die dem staunenden publikum mediengerecht das zeitgenössische wesen der pflastersteine erläutern könnten. anders als die historiker, die sich mit tönen vergangenen zeiten erklingen lassen müssen, können die politologen authentische bilder kommentieren. doch auch sie müssen mut zur fantasie haben, zum beispiel die politische symbolik der pflastersteine erkennen können. denn in tat und wahrheit stehen sie wie kein anderes symbol stellvertretend für politische kultur in allen städten.


foto: stadtwanderer (anclickbar)

mit der ersten antwort müssten die medienpolitologen sinnlich erfahrbare bezüge zu den zuschauern des 21. jahrhunderts schaffen. Es gilt, aus stummsteinen stimmsteine zu machen. denn die pflastersteine bevölkern wie die bürger die städte. wie diese versammeln sie sich auf plätzen, um sich kund zu tun. dabei darf keiner den anderen überragen, um alleine zu dominieren; es wird auch keine elite geduldet, die sich zusammenschliesst, um besser sehen zu können. dafür werden schon mal gehsteige eingeebnet, womit sie ihren wortsinn verlieren. dafür wird, wie in jeder demokratischen gesellschaft, basale solidarität geübt: jeder stein stützt den nachbarn soweit, dass er aufrecht steht, aber stets das gesicht wahren kann. denn jeder mndige pflasterstein soll stets und überall das öffentliche leben mitverfolgen und seine meinung zum ausdruck bringen dürften. nur so ertragen sie die alte bürokratische herrschaft, vor der demokratie zu so vielen aufständen anlass gegeben hat und dennoch unverzichtbar ist: was wäre eine gesellschaft aus pflastersteinen ohne separierte fussgängerstreifen, ohne strassenspuren für taxis und busse, ohne parkplätze für autos und velos, ohne stoppsignal und ohne pfeil, der mal nach rechts oder links weist. und was wäre eine stadt, deren stadtwappen nicht irgendwo im pflasterstein verewigt wurde.


foto: stadtwanderer (anclickbar)

wenn man so den bezug von pflastersteinen und bürgerschaft geschafft hat, könnte man getrost zur zweiten frage übergehen, und sich mit der strukturanalyse der pflastersteine beschäftigen. jetzt ginge es zentral um ihre maserung. man würde den mainstream herausarbeiten, den immer wiederkehrenden halbrund auf pflastersteinstrassen erwähnen, und ihn ihm die stetige erinnerung an die französische revolution sehen, die nation jeden tag auferstehen lassen, das parlament erwähnen, das sich in genau so einem halbrund versammelt, um links und rechts in der politischen landschaft unterscheiden zu können. Man müsste aber auch gleich den sonnenstand mitdenken, das licht und den schatten im tagesablauf über eben diesen halbrund wandern sehen, um regierung und opposition, mehrheit und minderheit erläutern zu können. denn das wesen der demokratie ist es, dass niemand mehr die macht auf sicher hat. die vergänglichkeit des tages würde sich in der reversibilität der herrschaft spiegeln, denn gerade diese reversibiliät reversibler verhältnisse ist es, die den glauben an das politische system, an die demokratie, sichert.


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in einem exkurs über spezielle politische systeme würde man dann auf eigenheiten verweisen, die allem amerikanischen denken zum trotz auch in kopsteinpflasterstrassen verblieben sind: gelegentlich kommt jede strasse an ihr ende, genauso wie die politik gegelegentlich eine wende nimmt. das stellte die strassenbauer im kopfsteinzeitalter oft vor probleme. der halbrund will hier so selten passen, sodass man sich für neue formen entschied. und tatsächlich auf den pflastersteinstrassen der kreis zurück! da ist sie also wieder, die landsgemeinde, die weder ein links noch ein rechts kennt, dafür aber fein säuberlich die inneren von den äusseren Ringen voneinander trennt. nur wer nahe des zentrums ist, wird nicht übersehen, kann druck ausüben, um effektiv mitreden zu können. die andern müssen sich anstrengen, dass ihre nachnachfahren auch ins zentrum vorrücken, um wenigstens dann mitreden zu können.


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die dritte antwort der politologen wäre nun der krise der demokratie gewidmet: von den verschiedenen ursprüngen und formen der demokratie und der diktatur muss gesprochen werden! man müsste vom führerstaat reden, vom tief sitzenden wunsch, nach dem tohuwabohu der demokratie wieder klare verhältnisse zu bekommen. das versammelt sich nicht mehr anarchisch; vielmehr wird es vom führer angezogen, zu kolonnen, zu kohorten gebündelt und im reich zusammengehalten. Auch das findet sich im kopfsteinpflaster wieder: zahllos sind die plätze der herrschaft, ist der wunsch nach ordnung, auch wenn der führer gestürzt worden ist. schurgerade sind die pflastersteine bis heute vor räthäuser und kirchen, vor kasernen und firmen ausgerichtet. sie lassen bis heute die individualität der pflastersteine in sich verschwinden.

die vierte und vorläufig letzte antwort der politologie der pflasterstein wäre den gegenwärtigen trends gewidmet. sie sind weder optimistisch, wie die demokratie der amerikaner, noch pessimistisch, wie jene der europäer. Sie sind ubiquitär und postmodern zugleich! zwar hat das gute sich gegenüber dem bösen fast über all durchgesetzt; demokratie findet sich fast weltweit auf dem siegeszug. Doch ihr wird vorgeworfen, unvollendet geblieben zu sein; es brauche eine demokratisierung der demokratie verlangt: partizipation ist angesagt! selbstentfaltung wird verlangt! so wird stadtverschönerung zum programm. spezielle zonen des kopfsteinpflasters werden eingezont. gepflasterte plätze werden belebt; dafür muss der autoverkehr beruhigt, ja verdrängt werden! inseln der neuen politik sollen sich von der umgebung der alten politik unterscheiden. so werden altehrwürdige pflastersteine aus ihrer angestammten ordnung herausgenommen, denn mutter erde darf nicht länger hinter vater staat zurückstehen: bäume sollen sich entfalten können, kinder sollen sandhaufen bekommen, frauen sollen sich auf parkbänken ausruhen und pensionierte am schachbrett entfalten können. doch das hat auch seine kehrseite: die stadtgärtnerei muss regelmässig säubern kommen, und auch der fuchs liebt es, im sand zu geschäften. jugendgruppen wiederum geniessen die abwechslung, und filmen schon mal das ganze mit ihrer webcam; die clips kann man sich dann im webcorner unter www.mypflaster.net immer wieder ansehen.

stadtwanderer

vorwärts zu teil 4 (zur sozialforschung der pflastersteine)

schluss mit pflastersteinen

ode ans kopfsteinpflaster (2)

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zur geschichte der pflastersteine


pflastersteine kann man vor allem hören. sie klingen nach pferdehufen, man vernimmt den kutscher, brrr …, und kann sogar im dunkeln schnaubende nüstern erkennen! wem kommt bei kopfsteinpflaster und kleinstadt nicht unweigerlich das 18. jahrhundert in den Sinn? wer sieht nicht gleich das zeitalter der europäischen postkutsche wiederaufleben? wer denkt nicht automatisch an stadttore, die über nacht geschlossen werden, einsame laternen, welche die dunkelheit ein wenig erleuchten, und stadtwächter die nach banditen ausschau halten? und wer stellt sich dabei nicht enge gassen vor, die zum nächsten gasthof, der „Krone“, führen? es muss ja nicht gleich napoléon sein, der von paris nach wien unterwegs ist, und in einer seiner zahlreichen garnisonsstädte anhält, um zu etwas essen und ein wenig zu schlafen, bevor es auf holprigen strassen weitergeht, sodass man froh ist, wenn es wenigstens in der stadt sichere brücken und gängige pflastersteinstrasse hat. es kann ja auch eine einfache gesellschaft sein, die mit dem kutscher unterwegs ist, um in der stadt geschäfte zu tätigen. auch sie sind froh, das gesuchte haus sicher gewiesen zu bekommen und übers Kopfsteinpflaster gehen zu können, um sich und ihre kleider vor erdpfützen schützen.


foto: stadtwanderer (anclickbar)

die geschichte der pflastersteinstrassen ist meines wissens noch nicht geschrieben. doch in kenne den aufbau schon: die präliminarien müssten die pest einführen, die sich kurz vor 1350 fast flächendeckend über europa ausbreitete und einen drittel der bevölkerung wegraffte. sie müsste flagellanten erwähnen, die gegen falsche kirchenreligionen predigen. Man müsste das todesgeschrei in stinkenden spitäler zu hören bekommen, in denen unvorbereitete pflegerinnen einen verzweifelten kampf gegen den schwarzen tod führen. und man müsste dem bewusstsein für stadthygiene nachgehen, um zu verstehen, wie es ebenso fast überall auf dem kontinent zu kopfsteinpflästerungen kommt. doch man könnte dabei nicht stehen bleiben: zur sprache kommen müsste auch der verblichene glanz des hochmittelalterlichen kaiserreiches, der niedergang des ewig streitenden adels, der das aufkommen des weitsichtigen fernhandels und des fleissigen gewerbes in den städten ermöglichte. man würde dann die revolution der zünfte verstehen, die sich rheinaufwärts von köln bis basel ausbreitete. so würde man unweigerlich marktplätze hören, die hunderte von Menschen anzogen, um sich und seine waren auszutauschen. sinnlich würde man dann an die Kraft erinnert, die so von städten ausging und am ende des 14. jahrhunderts exemplarisch zum oberrheinischen städtekrieg gegen die aristokratie führte. in schwaben verloren die bürger diesen zwar, doch in der eidgenossenschaft gewann ihn luzern mit seinen verbündeten gegen habsburg. „Sempach!“, müsste man das kapitel betiteln, das vom protostaat zwischen zürich und bern berichten würde. und endlich müsste man auf die wichtigste städtebauliche Veränderung von basel über solothurn bis in die innerschweiz hinweisen: das kopfsteinpflaster! quasi als symbol des stadtbewusstseins verbesserte man jetzt die elenden erdstrassen in den stadtzentren der erwachenden eidgenossenschaft. der stein sollte nicht nur den politischen aufstieg markieren; er sollte auch zeigen, dass die adelige gründerzeit der holzstädte vorbei ist. er sollte jedem der den stadtbezirk betrat sichtbar machen, dass man sich hier und jetzt dauerhaft niedergelassen hat, niemandem mehr weichen wird, und niemanden mehr über sich tolerieren wird.


foto: stadtwanderer (anclickbar)

das geschichtsbuch zu den pflastersteinen in den europäischen städten würde sein vorläufiges ende in den jugendunruhen des späten 20. jahrhunderts finden. von „68“ würde berichtet werden, der revolte der jugend gegen die kleinbürgerliche erwachsenenwelt, die man gleichsam mit pflastersteinen zerstören wollte. um den verklemmten zeitgeist gehörig eins auszuwischen, wurden die strassen aufgerissen, das verdeckte private hinter der gepanzerten öffentlichen hervorgezerrt. endlich befreit! pflastersteine en masse wurden dafür eingesetzt, und sie waren das aequivalent für die frei gewordenen energien: pflastersteine gleich freiheit mal energie im quadrat, hätte einstein das auf den punkt gebracht.


foto: stadtwanderer (anclickbar)

politisch war diese revolte, denn sie formulierte lauthals ihren gesellschaftlichen gegenentwurf. anders war das dann 1980, als die autonome jugendbewegung das zeitalter der antipolitik verkündete. doch auch jetzt dienten die verbliebenen pflastersteinstrasse als schauplätze der geschichte. auf dem von wasserwerfern glitschig gespritzten pflaster, taatüü-taatüü, wurde der strassenkampf gegen gummischrot ausgetragen, ziff, ziff, ziff. autonome räume wollte man so öffnen und alternativen kultur sollte zugelassen werden. „Freie Sicht auf die Alpen!“, war die losung. erobert wurden hierfür leer stehende häuser in den stadtkernen und ungenutzte industrieareale in den aussenquartieren, die nicht selten aus rötlichem backstein waren und innenhöfe hatten. in diesen fanden die ersten vollversammlungen statt: es wurde kaskadenartig geklatscht, wenn eine(r ) zu lange sprach, und es wurde laut skandiert, wenn eine(r ) dummes zeug erzählte. und all dies auf den kopfsteinpflaster, das schon fast vergessen, mancherorts der geburtsort der alternativkultur ist,.

stadtwanderer

vorwärts zu teil 3 (zur politologie der pflastersteine)

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schluss mit pflastersteinen

ode ans kopfsteinpflaster (1)

müsste man ein porträt der europäischen kleinstadt machen, würde man es mit kopfsteinpflaster grundieren. denn die pflastersteinstrassen, die pavés, die clobbet streets und die kleddstengatarna sind das leben in der stadt, egal, ob sie in der schweiz oder schweden stehen. doch sie sind nicht nur orte der verbindung und des austauschs in der vergangenheiten; sie sind das auch heute noch. sie haben der zeit getrotzt. wer glaubt, sie seien dabei alle gleich geblieben, der täuscht sich mächtig. sie sind jung und alt, haben farben und formen, sie duften und stinken, und man kann ihren klang hören. sind waren früher meist unförmig; während sie heute in der regel quadratisch sind.


foto: stadtwanderer (anclockbar)

gäbe es keine stadtpläne und landkarten, man würde an ihnen eine stadt erkennen und den weg weisen können. denn pflastersteinstrassen sind unverwechselbar: sie sind, wo immer man auch hinschaut, die elemantare beziehung zwischen stadt und mensch. man braucht nur ein wenig fantasie, historische, politologische, soziologische und psychologische, um sich das leben mit ihnen vorzustellen: eine ode ans kopfsteinpflaster, das der stadtwanderer schon ein wenig vermisst.

stadtwanderer

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schluss mit pflastersteinen

räume sehen und lesen lernen

der raum erobert sich seinen platz in der geschichte zurück. er wird wieder historisch gelesen. zwar besteht er aus strukturen und verbindungen. doch breiten sich soziale verhältnisse nicht einfach statisch. Sie breiten sich aus, sodass der raum die zeit repräsentiert. Sie setzen kulturelle grenzen, sodass der raum herrschaft spiegelt. Und all das zerfällt in historischen momenten, sodass der raum schauplatz der geschichte ist. denn geschehenes ist konkret, weshalb es nicht nur eine zeit, sondern auch einen ort hat. diese verständnis der geschichtsschreibung führt nicht zuletzt zum vater der geschichtsschreibung, den griechen herodot, zurück. ein antiquiertes vorgehen?, fragt der historiker karl schlögel keck seine die zunft. diese möchte am liebsten nicken. doch der autor hält so kräftig dagegen, dass man schon fast etwas verschämt wegsieht, oder beigeistert ist. wie der stadtwanderer, – auseinandersetzung mit herodot und seine folgen, – 2. teil!

folge 1

die dialektik von raum und zeit

die historikerInnen nach herodot haben dem epos der früheren geschichtserzählung eine radikale absage erteilt. mythen, legenden und sagen sind für sie keine quellen mehr, denn sie verzichten auf zeit. vergangenes wird zwar berichtet, aber nicht historisiert. es fehlt dem epos das bewusstsein vor ein vor- und ein nachher. es spielt in der ver-rückten vergangheit. doch der raum lehrt uns, dass die zeit ein vor- und ein nachher hat. sie entsteht aus der unwiderruflichen bewegung der gestirne, und sie kann eingeteilt werden, sodass gerichtete und gemessene zeiterfahrung entsteht. deshalb hat sich die geschichtsschreibung die chronik ins zentrum gerückt, und sie mit fragen an die Vergangenheit verbunden, die als geschichte erhellen soll.


legende „,mensch und raum (I)“:
wiege der menschheit – wahrscheinlich beginnt alles an einem ort und erfasst von da in einer million jahre den raum der ganzen erde, abbildung von oldoway (bild anclickbar)


legende „menschen und raum (II)“:
land genommen – überwindung der erde durch die eroberung des weltalls durch die usa, abbildung des fusstritts von armstrong (bild anclickbar)

so gut das ist, so einseitig ist es auch. Denn die historiker haben den zusammenhang von raum und zeit weitgehend vergessen. vielleicht überschreiten wir erst jetzt, mit der globalen kommunikation, die gebundenheit an den ort, sodass wir die bewegung als zeit erleben. vielleicht werden wir uns dessen dafür auch gerade jetzt wieder bewusster. das losgelöste hat seinen platz im internet, weil es ubiquitär ist. doch selbst da vermuteten man neuerdings örtliche bezüge und gibt atlanten der philosophie heraus. da mag es nicht überraschen, dass auch die raumgeschichte heute in blüte steht.

die kritik an der gegenwärtigen geschichtsschreibung

zum gewohnheitsrecht der historischen zünftler sei es verkommen, geschichte nur entlang der zeit zu erzählen, kritisiert karl schlögel. postmarxist genug, fordert er die beschäftigung mit dem sein wenn’s ums bewusstsein geht. das wird zwar nicht mehr materialistisch gedeutet, aber dennoch als kampf. denn schon fernand braudel sagte in seiner meditéranée, der raum sei der „Feind Nummer eins“ des menschen. und daraus leitet schlögel ab: menschliche geschichte ist ein kampf gegen den horror vacui, sie ist die unentwegte anstrengung zur bewältigung des raumes, seiner beherrschung, seiner aneignung und seiner überwindung. bis dahin ist es aber ein weiter weg, der zum programm der geschichte erklärt wird.


legende „islam und christentum (II)“:
expanison des fränkisches reich bei der krönung pippins, 751, bis zum tode seines sohns karl, 814, gestoppt durch das emirat von cordoba (bild anclickbar)


legende „islam und christentum (I)“:
expansion des kalifats vom tode mohammeds, 632, bis zu den rückeroberungen durch die macedonische dynastie das byzantinische reich, 867 (bild anclickbar)

selber hat der osteuropa-historiker schlögel „seinen“ Faum x-fach bereist. 48er Jahrgang, hat er noch in „Moskau“ und dem damaligen „Leningrad“ studiert. 1990, nach der wende, wurde er ordinarius in frankfurt an der oder. und er ist ein fan von herodot! wie dieser den raum des vorderen orients kannte, kennt schlögel russlands raum, über den er als journalist, essayist und wissenschaftler berichtet(e ), aus dem effeff. ja, er ist medienschaffender, künstler und professor in einem, der dem konkreten in all seinen facetten zugewandt ist. die zeit, schreibt er, erfasse die menschliche existenz nicht ganz. hierfür brauche es auch den raum. sein und handeln, tun und lassen sind immer konkret, was eine gleichzeitige reflexion über zeit und raum bedinge. und hierfür zitiert er friedrich ratzels satz: „Im Raume lesen wir die Zeit“, der dem buch den titel gegeben hat, das hier angezeigt werden soll.

einheit von ort, zeit und handlung wieder ernst nehmen

karl schlögel will herausfinden, was geschieht, wenn man geschichtliche vorgänge immer auch als räumliche und örtliche denkt und beschreibt. er versteht die welt, die er vorfindet, als ein grosses und einzigartiges geschichtsbuch, das zu lesen er bestrebt ist. lesen bekommt dabei einen neuen sinn: gelesen werden mit diesem band zwar vorwiegend texte wie in andern büchern auch. die texte schlögels sind aber nicht gelesene texte, die andere autoren zu anderen autoren verfasst hatten. sie sind gegenwärtig. denn sie sich aus der eigenen anschauung entstanden. die fast 50 versuche, die der band vereinigt, sind im wahrsten wortsinn originell. und sie sind, so der autor, die paradigmatische form der erkundung und erschliessung.


legende „bedrohung und befreiung der europäischen zivilisation (I)“:
niederlassung der magdyaren in pannonien, streifzüge zwischen 899 mit der schlacht von brenta bis 970 mit der schlacht von arcadiopolis als ost/bewegung (bild: anclickbar)


legende „bedrohung und befreiung der europäischen zivilisation (II)“:
auswirkungen der französischen juli-revolution 1830 auf belgien, hannover, braunschweig, hessen, sachsen, die schweiz und parma, modena und bologna und polen als west/ost-bewegung (bild anclickbar)

schlögel schreibt zu seinem innovativen unterfangen: „Immer wieder erweist sich der Ort als der angemessene Schauplatz und Bezugsrahmen, um sich einer Epoche in ihrer ganzen Komplexität zu vergegenwärtigen.“ denn nur der ort verbürge komplexität. deshalb habe er ein vetorecht gegen die von der disziplin und von der arbeitsteiligen forschung favorisierte parzellierung und segmentierung der historischen themen. o-ton des autors: „Der Bezug auf den Ort enthielt insgeheim immer ein Plädoyer für eine histoire totale – wenigstens als Idee, als Zielvorstellung.“ daraus ergeben sich, so schlögel, neue darstellerische register und narrative, die der einheit des topos geschuldet seien.

topografisch zentrierter geschichtsschreibung gefordert

topografisch zentrierte geschichtsschreibung leitet sich direkt aus dem gestand ab. dafür hat schlögel einen neuen quellenbegriff geprägt: die antworten auf seine fragen findet er zunächst in fahrplänen und adressbüchern, auf landkarten und grundrissen. mit denen erkundet er seine städte und landschaften, jedoch nicht als tourist, der informationen sucht, sondern als historiker, der die repräsentationen des raumes, der distanzen und der zentren zu entziffern gelernt hat. sie beinhalten für ihn wie symbolbilder auch momente der geschichte und vorstellungen der herrschaft. sie sind darstellungen der kultur. und darum geht es in der raumgeschichte.


legende „konventionelles und unkonventionelles leben (I)“:
pilgerwanderungen auf den jakobswegen seit dem mittelalter, mit santiago de compostella als ende an der peripherie (bild anclickbar)


legende „konventionelles und unkonventionelles leben (II)“:
casanovas reisen durch das europa des 18. jahrhundert, als netzwerk der städtischen zentren (bild anclickbar)

eingeleitet werden sie durch das kapitel „Die Wiederkehr des Raumes“, welches die absicht und das vorgehen des buches ausführt. dann kommen die neuen formen des historischen arbeitens an die reihe: „Kartenlesen“ und „Augenarbeit“ heissen sie. den repräsentierten raum im grafisch zu erkennen und ihn mit dem wissen des historikers wieder erstehen zu lassen, ist sein ding. Denn es geht ihm um erinnerung an gesehenes, aber nicht nur als touristenerlebnis, sondern als zivilisationsgeschichte. diese sieht er namentlich im letzten kapitel des buches, „Europa diaphan“ genannt, in bewegung. dabei geht es ihm um das entstehen der geschichtsschreibung, die den nationalstaatlichen rahmen hinter sich lässt und den kontinent als ganzes zu denken beginnt. generationen von historikerInnen werden auf diesem platz arbeiten, bis sie europas zeit im europäischen raume lesen können, prophezeit der historiker.

ein juwel in herodots sinn

zu diesem anregenden Buch schrieb (ausgerechnet) die „Zeit“, es sei „von tiefem Ernst und grosser Leichtigkeit, ein Pamphlet und eine Spurenlese, dicht und werthaltig. Nur zu glänzen, ist schon ein Menge; dieses Buch glüht von innen.“ und das ist nicht zu viel versprochen, selbst wenn die glut nicht ohne vorsicht angerührt werden sollte. denn mit diesem Juwel der neuen geschichtsschreibung muss man zuerst umgehen lernen. „Uebungen“ schreibt der meister hierzu, und fügt gelegentlich auch „Anläufe“ und „Aussichten“ bei, wenn er sein unterfangen beschreibt. und er bleibt im bild: die lektüre gleiche der seefahrt ins ungewisse. sie orientiere sich an den ufern, an den kaps und an den bergen, denn einen kompass der raumgeschichte gibt es noch nicht. deshalb, so der autor, verkündet das buch auch keine lehre, keine methode und keine ergebnisse. doch das macht nichts aus! man legt es, gelesen, zur seite und ist voll von anregungen, was im raume alles steckt, wenn man sich nur genügend bildet, um ihn endlich zu verstehen.


legende „traum und wirklichkeit (I)“
jahrtausendwende – ort und stelle der zerstörung des american dreams, abbildung von ground zero am 11. september 2001 (bild cnn, anclickbar)


legende „traum und wirklichkeit (II)“
allzeit – unaufhörliche ausbreitung des christentums zur bevölkerungsreichsten kirche, abbildung vom petersdom in roma (bild anclickbar)

in seiner letzten übung, der vorläufigen krönung, zitiert schlögel dann herodot. nicht als uebervater, auch nicht als anachronismus führt er ihn ein. vielmehr bereist er mit ihm sein moskau. mit dem pater historiae gleichsam auf dem roten rplatz rekapituliert er seine these: ein eigenständiges werk habe dieser geschaffen, aus einem hauptstrang mit vielen verzweigungen bestehend, die über das zentrale register der geschichtsschreibung zusammengehalten werde: über den augenschein. Geschichte sei bei ihm immer in raum und zeit erzählt worden, weshalb er die kernbegriffe des historischen könnens nach herodot aktualisiert: „istorie“ sei das eigene erkunden, „autopsia“ das eigene anschauen, „idein“ wiederum ist das schauen und „theoria“ die anschauung.

des stadtwanderers kleine würdigung


der raum lebt vom konkreten. doch er wird in den historischen quellen repräsentiert. auch wer keinen augenschein genommen hat, darf das nicht vergessen! deshalb muss man auch quellen sezieren, lernen karten lesen, bilder zu deuten und grafiken entziffern. erst dann sieht man, was war, und kommt so zu einer bildlichen vorstellung der vergangenheit. genau das lehrt, die einheit von raum und zeit wieder zusammen zu denken und zu beschreiben, – anders als es die historischen zunft heute tut. so das spannende lesebuch von karl schlögel.


Legende „fluss in der landschaft“
der fluss steht still, doch das wasser fliesst. bewegung entsteht erst, wenn die elemente wie das wasser des flusses, wie die handlungen der menschen auf raum und zeit bezogen werden. ohne dies ist alles statisch, gibt es keine geschichte (bild anclickbar)

à suivre. stets und überall.

Schweden-wanderer

Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Ueber Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, Fischer Taschenbuch Verlag 2006 (Erstausgabe: Carl Hanser Verlag, München/Wien 2003)

illustrationen: schweden-wanderer

wenn der rhein erzählt – und burgund hinhört

brilliant, wie er formuliert.
frappant, wie er alle lügen straft.
eklatant, wie wenig er bei uns gelesen wird.

das alles trifft auf lucien febvre zu, den französischen historiker, der von 1878 bis 1956 lebte und professor am collège de france war. gemeinsam mit marc bloch gründete er 1929 die heute berühmte historische zeitschrift “annales”, mit der die herausgeber zuerst die französische geschichtsschreibung, dann aber auch das historiogrphie weltweit revolutionierten. mit den annales haben die zahllosen autoren, die darin publizierten, die geschichte zur „histoire totale“ gemacht. dabei war febvre vor allem für die neuere geschichte zuständig.


portrait des historikers lucien febvre, 1878-1956 (foto: schweden-wanderer)

doch lucien febvre hat sich nicht einfach an die vom deutschen christian keller (cellarius) propagierte einteilung in alte, mittalterliche und neue geschichte gehalten. er hat auch skizzen gemacht, wie die historie totale diesen dreiklang neu eintönen muss. dabei verlangte er viel: er schrieb ein buch zu „Das Gewissen der Historiker“ und eines zu „Der neugierige Blick“. und beides ist programm, das er in seiner bemerkenswerte „Geschichte des Rheins“ ausführte: der fliesst nicht erst seit der reformation von luther und co.; er wurde nicht erst ein bedeutsamer strom, als karl der grosse die länder links und rechts von ihm beherrschte, und er trennt menschen nicht erst, seit caesar romanen und germanen schied. der rhein verlangt geradezu die totale: ueber die zeit, über den raum, und über die kulturen hinweg!

das beispiel der annales schule

lucien febvre hat das buch 1931 geschrieben. zunächst war es eine auftragsarbeit für eine bank. dann wurde es zum exemplarischen text der annales-schule, und heute ist es, auch ins deutsche übersetzt, als buch greifbar. wer sich für synthesen interessiert, kommt hier voll auf die rechnung. geboten wird zivilisationsgeschichte. geklärt wird das verhalten der kirche, der klöster, der städte, der herrscher, der nationen. geschrieben wird über das leben in einer zeitspanne von mehr als 2000 jahren. in diesem buch wird gezeigt, wir der rhein eine strasse ist, eine natürliche grenze, die mal rassen schied, auf deren basis die romania und die barbaria entstanden. doch dann kamen fermente, die im wahrsten sinn des wortes die gegensätze überbrückten: die kirche, die städte und die fürsten, die nach macht streben, – und es kamen die nationalstaaten, die die alte natürliche und kulturellen grenzen wieder auferstehen liessen.


foto: schweden-wanderer (anclickbar)

dem buch gerecht zu werden, ist gar nicht so einfach! denn sein thema entzieht sich allen gängigen gliederungen. es fliesst geradezu. so wie nur die ufer den strom begrenzen, begrenzen zwei buchdeckel den inhalt. so, wie der rhein immer wieder neuen raum erobert, erobert sich das buch immer neuen themen. zwar hat es eine feste form, und doch ist der inhalt immer wieder neu.

lucien febvre nannte das buch eine skizze: eine kurzform der geschichte. weil sie komprimiert werden musste, schrieb er demonstrativ keine zusammenfassung. alles, was das steht, ist nötig, um die geschichte eines naturphänomens, eines gesellschaftsfaktors und vieler menschenleben zu erzählen. erzählen ist dabei das richtig wort: all jene, die glauben, erzählte geschiche komme in der histoire totale nicht mehr vor, straft er lügen. seine rheingeschichte ist in recherche und bericht über kultur, wirtschaft, gesellschaft, politik zugleich, die durchwegs brilliant erzählt wird. man staunt, dass dieses buch nicht bekannter geworden ist, nicht mehr gelesen wird von chur bis utrecht.

die kostprobe der erzählkraft

ein kostprobe kann ich mir nicht verkneifen. eine wunderbare erzählung will ich hier wiedergeben, nicht zuletzt, weil die begebenheit bis nach bern ausstrahlte, um 1470 zum zweikampf zwischen adrian von bubenberg und niklaus von diesbach, zwischen dem burgunder- und der franzosenpartei führte. es ist ein portrait von philipp dem guten, der selbst in berns gerechtigkeitsgasse defilierte. doch es ist keine lokalgeschichte, denn bern liegt nur am zubringer des rheins und febvre schreibt totale geschichte. so ist es ein wurf zur geschichte des rheinlandes im späten mittelalter, eine sequenz der europäischen geschichte, die einschneidend so vieles andeutet, ohne es einlösen zu können. man ist am ende des 100jährigen krieges, der wie kein anderer die energien zwischen dem französischen und englischen königshaus band. als er endlich vorbei war, schuf man neue konzepte für europa. kreativ war das haus valois, das das herzogtum burgund beherrschte und von hier aus ausdehnte. schon kündete das alte mittelreich aus fränkischer zeit seine rückkehr an, und schon stellte man sich die frage, wer der neue kaiser sein sollte. der arme habsburger in wien, der hinterlistige könig in paris, oder die herzöge aus dijon? um seine antwort zu entwickeln, nimmt lucien febvre das gemälde „die anbetung der heiligen drei könige“ aus der bayrischen staatsgemäldegalerie hervor, das von rogier van der weyden, dem burgundischen hofkünstler, gemalt worden ist. und dann erzählt er in einem fluss …


bilderläuterung als erzählkunst, eine kostprobe des könnens von lucien febvre am beispiel der anbetung der heiligen drei könige, dem gemäldtevon rogier van der weyden für philipp den guten, herzog von burgund (foto: schweden-wanderer, anclickbar)

ueber herzog philipp den guten und das rheinland (S. 136-139)

„Am Ende des 15.Jahrhunderts hatte ein ironisches Schicksal ein letztes Mal den rheinischen Ländern den trüben Spiegel einer fernen Vergangenheit vorgehalten – und ihnen ein Angebot zugeflüstert. Mit der Stimme mächtiger und reicher Fürsten – nämlich der jüngeren Valois-Linie:; Philipp der Kühne, Johann ohne Furcht, Philipp der Selbstsichere und Karl der Kämpferische, die sich von ihren älteren Vettern, den Königen von Frankreich, so arg unterschieden -, vor allem aber mit der Stimm des „guten Herzogs“ Phillip hatte das Schicksal den politisch uneinigen, aber eine grundlegende kulturelle Einheit verspürenden Stadtbürgern einen ruhmreichen Namen zugeflüstert – den einzigen, unter dem die verschiedensten Länder am Rhein jemals zusammengeschlossen waren: Und es wiederholte ihn: Lotharingen.

Zu dieser Zeit schien die Nachfolge der Habsburger, die seit Albert II. an der Spitze des Reiches standen, offen. Dem steinreichen Herzog von Burgund gehörte das blühende Flandern; er besass die kostbarsten Gewänder und Geschmeide, und er verstand es am besten, sich eindrucksvoll in Szene zu setzen: darüber hinaus besass er eine kräftige Armee. Der träge und genussreiche Friedrich III., der beim Morgengrauen verschämt aus den Städten floh, die ihn empfangen hatten, weil er seine Schulden nicht bezahlen konnte, hatte dem nicht entgegenzusetzen. Seine einzige Macht lag in Oesterreich, sein Hauptquartier war Innsbruck, und seine Alpenroute ging über den Brenner. In den Augen der rheinischen Bürger, die von den Handelsbewegungen zwischen Lombardei und Nordsee lebten und sich ganz selbstverständlich am Septimer, am Gotthard und auch am Sankt-Bernhard orientierten, sprach dies alles gegen ihn.

Der Herzog von Burgund hatte alles, um zu gefallen. Und er gefiel auch allen. Den Rittern, die wehmütig ihren Niedergang kommen sahen, bot er berühmte Turniere, triumphale Waffengänge und altmodische Formeln, also ein etwas abgenutztes, völlig künstliches Ideal, das sich jedoch wie selbstverständlich im ritterlichen Gründer des Ordens vom Goldenen Vlies verkörperte. Für die zugleichmystischen und realistischen Stadtbürger spielten drei Dinge eine Rolle: Zunächst einmal die devote Religiosität des Burgunders, seine Fastenzeiten, seine Almosengaben, sein leidenschaftlicher Marienkult. Dann seine Vorliebe für derbe Ausdrücke, für die erzählten und erlebten Cent nouvelles nouvelles. Und zu einer Zeit, da die Menschen vom Ueberfluss träumten und alle ihre Phantasien auf den verführerischen Orient gerichtet waren, da sie den reichen Marco Polo zu den Wundern Asiens begleiteten oder mit Gadifer de la Salles und Jean de Bethencourt zu den Kanarischen Inseln segelten, zu einer Zeit, da Pilger vor der Alterwand von Gent ein Lamm verehrten, das mitten in einem realen oder imaginäre Wald voller wunderschöner Palmen, Zypressen und Pinien stand (so dass man unwillkürlich an einen Märchenwald dachte, „wie in Indien“, in dem merkwürdige Tiere lebten, während der grosse Herzog Philipp mit seinen Anhängern den „Fasanen-Eid“, das Kreuzzugsgelübde gegen die Türken, ablegte); in dieser Situation griff der Burgunder nun den Gedanken des Kreuzzuges wieder auf und schickte Hugo de Lannoy und Bertrandon de las Broquière aus, um ihn vorzubereiten. Dadurch erboberte er sich das übermütige Brügge und die Herzen aller Ritter, die von wilden Jagden träumten, ebenso wie die aller Bürger auf der Suche nach hohen Gewinnen.

Wer nie die Macht der Gewohnheit und die Festigkeit der Bindungen bedachte, die sich im Alltag zwischen den Menschen herausbilden, konnte nun am Rhein für einen Augenblick seiner Phantasie freien Lauf lassen und glauben, dass in Kürze am Bergfried die Stunde des Burgunder fröhlich schlagen würde.

Als er dann erschien, als er 1454 in Begleitung seiner Gesandten die Verbannten in die Städte zurückführte, Konflikte beilegte und schlichtete, begann ein Triumphzug durch Deutschland. Kein Stadtbürger, der jetzt nicht in seiner eigenen Sprache wiederholte, was auch die Schaulustigen von Paris murmelten, wenn sie diesen schönen Reiter an der Spitze eines goldenen Zuges sahen: „Das ist mal ein menschlicher Fürst! Er sei gesegnet, und alle, die ihn lieben ebenso! Was ist dagegen unser König, was für ein armer Mensch, der sich nur mit einem grauen Rock kleidet und nichts so sehr hasst wie die Freude!“

Erinnern wir uns hier an die Anbettung der Heiligen drei Könige, die Rogier van der Weyden für Sankt Kolumba zu Köln malte. Der alte krieende König, der auf diesem Bild ehrerbietig die Füsse des Christuskindes küsst, ist nämlich kein anderer als Philipp der Gute. Und der junge starke König in seinem weiten Mantel, der sich hinter ihm verbeugt und wunderbares Geschmeide in beiden Händen hält, ist sein Sohn Karl der Käümpferische (le Bataillard), den wir den Kühnen (le Téméraire) nennen. Märchenhafte Könige also, die an die Ufer des Rheins, in die grosse Handelsstadt kommen, um ihre Schätze darzubringen. Berühmte Könige, die das alte Wort der Karolinger wieder aussprechen, das den Rheinländern so lange am Herzen lag: Lotharingen.

Als nun Philipp der Gute von Friedrich III. ein Königreich dieses Namens forderte, hatte er nicht die Absicht, mit dem Schwert einen bunten Flickenteppich zu schneidern, also die am ganzen Rhein verteilten Herrschaften unter ein burgundisches Joch zu zwingen. Das war eher eine moralische als eine territoriale Frage. Da der Burgunder, wie Chastellain sagte, „zwar kein König war, aber den Mut eines Kaisers hatte“, wünschte er sich einen Titel, der ihn sowohl aus der Lehnsabhängigkeit von Frankreich befreite, als auch seinen Vorstellungen von Rittertum und Kreuzzug entsprach. Es ging im nicht nur um eine Krone; als man nämlich die Möglichkeit eines Königreichs Brabant erwähnte, lehnte er hochmütig ab. Er wollte einen Titel von historischem Gewicht, einen Titel, der eine Hegemonie legitimierte und auch dem Kaiser gegenüber etwas darstellte – eben darum ging es dem Burgunder. Seine Herrschaft sollte vor allem eine moralische und mythische Dimension haben. Ihre Grenzen mochten verschwommen bleiben, und ihre Anwendung sollte leicht fallen. So würden auch die Rheinländer eher zu gewinnen sein. Obwohl der Herzog sie von zwei Seiten her, von Norden (den Niederlanden) und von Süden (dem Oberelsass), unter Druck setzte, bedeutete sein Lotharingen für sie nicht bloss eine stärkere rechtliche und politische Bindung, sondern in erster Linie eine Ausstrahlung einer gemeinsamen Kultur:; französisch genug, um reich und geachtet zu sein; aber auch rheinisch genug, damit die Menschen am Rhein ihre uralten Lebensweisen und Gefühlswelten darin wieder erkannten.
Dieser Traum währte nur kurz …“

ganz schön dramatisch, wenn lucien febvre den rhein zu sprechen bringt, wenn er die geschichte des burgunders erzählt, der grossartig lotharingen wieder auf erstehen lassen wollte und dessen sohn ebenso unglaublich daran scheiterte …
stadtwanderer

schweden-wanderer

Lucien Febvre: Der Rhein und seine Geschichte. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Peter Studer, Campus Verlage, Frankfurt/New York 1995

herodot – vater der geschichtsschreibung

geschichte soll lehren, meinte der grieche herodot, und verfasste vor fast 2500 jahren erstmals nicht nur ein epos oder eine chronik, sondern ein philosophisch inspiriertes geschichtswerk. der weit gereiste historiker, geograph und völkerkundler in einem beeindruckt bis heute, selbst wenn seit den römern bis heute vielfältige kritik an seinen historien aufgekommen ist. eine erste kleine auseinandersetzung mit der prioniertat der gelebten geschichtserzählung, – aus den ferien des stadtwanderers, – folge 1!

gelebte geschichte, egal ob erzählt oder geschrieben

als ich geschichte studierte, kam er nicht vor. die geschichte der geschichte begann mit dem historismus, der deutschen form der geschichtsphilosophie. dieser entstand anfangs des 19. jahrhunderts als abgrenzung zum wirken napoléons. für die historiker des historismus sind die staaten und männer die treibenden kräfte in der geschichte. diese ist denn auch in hohem masse politische geschichte. anders als in frankreich und england hat sich die geschichte in deutschland lang nicht mit der sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichte befasst, die ich im verlauf des studium doch noch kennen lernte.

seit wann man geschichte hat, erzählt und schreibt, interessierte mich ebenfalls gegen ende des studiums, und so begann meine beschäftigung mit der theorie der geschichte. ich wählte das sogar als prüfungsfach bei walther hofer. auch er war ganz dem historismus verpflichtet, wenn auch in modernisierter form. und mit ihm konnte man so herrlich streiten, und in dieser dialektik wurden einem these und antithese bewusst, egal wer sie vertrat. Damals war meine ablehnung des historismus klar, und das führte mich in anlehnung wie in den späten 70er üblich von der historischen sozialwissenschaft zur soziologie und schliesslich auch zur politikwissenschaft und meinungsforschung.

das interesse an diesen fragen ist bis heute wach geblieben. und dabei gegnete ich ihm doch noch: herodotus, dem vater der gelebten, erzählten und geschriebenen geschichte, der von 484 bis 425 vor unserer zeitlebte, und der mit seine historien eine neue gattung in der griechischen literatur begründete. Wohl ist er nicht der begründer der geschichtswissenschaft, aber er ist der begnadete erfinder des weltlichen geschichtsverständnisses.

leben, werk und würdigung von herodot

schon herodots leben war für seine zeit spektakulär: er wurde in halikarnassos in kleinasien (heute bodrum in der türkei) geboren. schon als junger mann unternahm er viele und lange reisen nach persien, aegypten, babylonien und ans schwarze meer. dort lernte er die vorderorientalische welt kennen, die ihren höhepunkt schon hinter sich hatte. mit dem ganzen erfahrungsschatz, den er so gesammelt hatte, schloss er sich einer gruppe von stadtgründern an, welche das süditalienische thurioi entstehen liessen. um 450 verliess er seine gründungsgemeinschaft, um als gelehrter nach athen zu gehen, wo er mit den grossen seiner zeit, sophokles und perikles, in kontakt trat. hier – oder in thurioi – ist er auch gestorben.

seine lebenserfahrungen fasste herodot zunächst in kleinere, in sich zusammenhängende geschichten, später logoi genannt. diese trug er als erstes in der öffentlichkeit vor, sprach auf athens plätzen so, dass er interessierte zuhörer fand. seine anhänger waren ihm wichtig, und ihre reaktionen auch, denn sie lehrten ihn, den geschichten eine form zu geben, die lebendig und fest zugleich war. so entstand ein geschichtswerk aus der praxis, als sammlung von eigenen ansichten und traditionen, mit denen herodot gross geworden war. bis heute ist sein 9bändiges lebenswerk im buchhandel und (teilweise) auf internet gefragt.

cicero, der grosse rhetoriker, der führende politische gegenspieler von caesar und der glücklose verteidiger der römischen republik, lobte herodot als „vater der geschichtsschreibung“, tadelte ihn aber auch als „erzähler zahlloser märchen“. diese ambivalenz in der würdigung des weltreisenden, des stadtgründers und des gelehrten herodots ist bis heute geblieben. niemand kommt an ihm vorbei, wenn man die geschichte der geschichte ausrollt, doch alle rümpfen ein wenig die nase.

der philosophierende tausendsassa

warum das? herodot war zunächst ein tausendsassa, ein pionier in vielen gebieten. er befasste sich mit politischen fragen, verglich verfassungen und gab ratschläge, was gut und schlecht ist. er verstand sich auch als geograph, der vorgab, wie die welt und ihre karte auszusehen haben. und er war ein völkerkundler, der seine, aber auch fremde kulturen durch eigene anschauungen kannte. das alles machte er mit verve, was in seinem erzählerischen talent bis heute zum ausdruck kommt.


karte: die welt als insel, gezeichnet nach den vorschlägen herodot, im 5. jahrhundert vor unserer zeit. die konturen und proportionen rund um das östliche mittelmeer und das schwarze meer, die herodot von seinen reise her kannte, stimmen auffällig gut. wo der augenschein jedoch fehlte, stimmen auch die angenommenen verhältnisse sichtbar schlecht.

sodann verfasste herodot seine geschichte nicht als epos und wirken der götter oder als chronologie und gedächtnis der herrschenden. nein! erstmals verband mit herodot ein historiker seinen bericht mit einem philosophischen thema. Denn es ging ihm um die frage, wie es kommen konnte, dass persien, dass über dem alten vorderorientalischen gleichgewicht der mächte in aegypten, babylonien, medien und lydien zu einer imperialen grossmacht aufgestiegen war, in der schlacht von marathon gegen den stadtstaat athen verlor.


karte: verlauf des persischen krieges in griechenland, der mit dem überraschenden sieg athens endete, und der herodot zum verfassen seiner historien veranlasste. der marathonlauf erinnert bis heute an den sieg der athener 490 vor unserer zeit in der schlacht von salamis

philosophie war damals in hohem masse morallehre. und genau darum ging es herodot. dem bedenkenlosen handeln stellte er das bewusstsein für das eigene tun gegenüber. das war (und ist) nicht selbstverständlich, sondern der anfang aller selbstreflexion. seine lehre war eine art corporate governance, denn sie beinhaltete vorschriften über verantwortung, aber auch über leistung, erfolg und schuld. und: seine morallehre war eine grosse warnung vor hochmut. der gescheiterte aufstieg der perser stand für ihn sinnbildlich dafür; während athen noch rein war. doch es musste gewarnt werden, gleiches wie in den zerfallenden reichen des orients zu begehen.

herodot aus sicht des stadtwanderers


heute ist man vorsichtiger mit aussagen, wie sie herodot machte. man treibt wissenschaft; dafür kann man auf den schultern anderer stehen, die vor einem ihre lebensweisheit in den grossen diskurs um sinn und wahrheit eingebracht haben. man muss auf all dies vorher erbrachten leistungen referieren, und man kennt auch alle enttäuschungen, welche die wissenschaft ausgelöst haben.

ob die geschichte uns etwas lehrt, wird heute überwiegend bezweifelt. den moralisten und optimisten stehen skeptiker und pessimisten gegenüber. da passt herodot nicht mehr so richtig hinein.

und dennoch ist herodot, der nie geschichte studiert hat, der geschichtsschreibung wie kein anderer begründet hat. Seine kritierInnen hat er allesamt überlebt, weil er geschichte gelebt hat. Weil er sie selber verkörpert hat. Weil es sie vortragen konnte. und weil er ihr eine literarische form gegeben hat. das ist mehr, als viele gescheite chronisten heute können, oder theoretiker je zu denken wagen.

vielleicht ist das auch das unergründliche geheimnis der geschichte, die sich allen versuchen zum trotz immer wieder gegen die verwissenschaftlichung gesperrt hat. mich jedenfalls hat das schon im studium überzeugt, bei meinen damaligen lehrern walther hofer und erich gruner genauso wie bei meinen späteren vorbildern unter den schweizer historikern, walter burkhardt und jean-rudolph von salis. ohne es damals schon zu wissen: sie alle war für, während oder nach meinem studium herodots schüler, die auf mich wirkten.

für herodot waren seine historien erkundungen. er war reisender. er war wanderer. stadtwanderer. er besuchte führungen, und verwickelte seine mitmenschen in klärende gespräche. damit hat er wie kein anderer die klassisch-griechische geschichtschreibung begründet. durch ihn hat die geschichtsschreibung eine bis heute nachwirkende form erhalten. doch er überzeugte schon zu seiner zeit. er hat die alten kräfte der geschichte, die götter und die helden der vergangenheit und der gegenwart, nicht geleugnet. er hat ihre kunde jedoch mit den eigenen anschauungen verbunden, die er mündlich und schriftlich weiter gegeben hat. seine bleibende leistung ist, pionierhaft die reichhaltigkeit der kulturellen erklärungen, die seine zeit anbot, persönlich gesammelt und für die nachwelt festgehalten zu haben.


grafik: vorstellung der entwicklung der menschheit, wie sie im 20. jahrhundert karl jaspers als philosoph des westlichen und technischen zeitalters entwickelt worden ist, und zahlreiche weltgeschichtliche betrachtungen heute noch prägt.

gelebt hat herodot in einer zeit, die karl jaspers als einschnitt in der menschheitsgeschichte interpretiert hat: der achsenzeit: die alten hochkulturen, die aus den ersten zivilisationen hervorgegangen waren, hatten, wie in aegypten, ihren höhepunkt erreicht. der hellenismus griechenland war die kulturell aufstrebende kraft. mit ihm entwickelte sich gerade im 5. jahrhundert die dialektik von orient und occident, deren synthese europäische imperien entstehen liess, während ihre aufsplitterung religiöse welten begründete. Das kulturelle erwachen in der achsenzeit, das kunst, religion und philosophie veränderte, weckte herodots neugier, die ihn zu seinen geschichten antrieb, ohne zu ahnen, was aus der welt und seinen historien werden würde.

selbst einstein und der stadtwanderer zähl(t)en herodots werk zu ihrer bevorzugten lektüre. ueber sein (und ihr) grosses thema, dem krieg und dem frieden, hielt herodot für seine leser in zwei sätzen, die prägnanter nicht sein können, fest:

im frieden begraben söhne ihre väter. im krieg väter ihre söhne.

stadtwanderer

Literatur
Herodot: Historien. Ditzingen 2002

weltgeschichtliche betrachtungen

manchmal erschliesst sich einem sogenannt bekanntes ganz neu, wenn man es in der Ferne sieht. so erging es mir gestern, als ich das zähringerwerk im westlichen mittelland der heutigen schweiz in der bibliothek von ekshärad, einer mittelschwedischen, wirtschaftlich bedrohten kleinstadt, als teil der grossen weltgeschichte beschrieben sah.

die bibliothek von ekshärad


wer glaubt, wir lebten hier in värmland ganz in der pampa, der irrt! gut, im wald ist man fast für sich, und stark mit dem eigenen (ueber)leben beschäftigt. viel zeit bleibt da nicht, und grosse vorräte über den nächsten winter hinaus anzulegen. doch nur schon in ekshärad, der nächstgelegenen kleinstadt von unserem feriendomizil aus, sieht es schon anders aus. eine supergute bibliothek haben sie. da kann ich mich nach tagen voll von waldblättern wieder mal im blätterwald der bücherwelt verweilen.


bibliothek von ekshärad erinnert an die guten zeiten der schwedischen sozialdemokratie, bevor sich die folgen der globalisierung in ekshärad auszubreiten begannen (foto: schweden-wanderer (anclickbar))

diesmal hat es mir die 15bändige weltgeschichte „bra böckers världshistoria“ (weltgeschichte der guten bücher) angetan. reich illustriert ist die serie, populär geschrieben ist sie, und dennoch auf dem stand der deschichtswissenschaft. 1984 wurde sie verfasst, und sie basiert in wesentlichen teilen auf der cambridge world history. in der tat, es ist eine Weltgeschichte, – nicht einfach eine erweiterte landesgeschichte, die zu mehr stilisiert wird. die entwicklungen in asien, in afrika und in der neuen welt werden minutiös nachgezeichnet, und die europäische entwicklung ist gut eingebettet.

zu gewohntes in ungewohntem licht


grosse augen habe ich dann im band 5, bearbeitet von knut helle, gemacht. auf seite 162 ist mir eine karte entgegen gesprungen, die ich doch nur zu gut kannte. in der tat: abgebildet ist unter dem titel „zähringarnas städer i nuvarande schweiz“ (zähringerstädte in der heutigen schweiz) das gebiet zwischen neuenburger- und thunersee. und bekannte orte sind aufgeführt: burgdorf, thun, bern, oltigen, gümmenen, laupen, murten, freiburg und moudon. unglaublich!

ich lese in diesem kapitel von der europäischen entwicklung im 12. Jahrhundert. zur sprache kommen das Städtewachstum und das so ausgelöste wirtschaftliche und kulturelle wachstum: erzählt wird von carcassonne, der ersten befestigten, mittelalterlichen stadt, die es zur hohen blüte brachte, bis sie von den katholischen heeren wegen ketzertum halb zerstört wurde. beschrieben wird auch san gimignano, die stadt in der toskana, die man von weitem an den vielen türmen erkennt. und vorgestellt wird das alterwürdige köln, das in nur 75 Jahren seine bewohnte fläche vervierfachte. von diesen Einzelbeispielen europäischer musterstädte ihrer zeit geht es direkt über zu den grossen städtegründungen in england nach 1066, zum fernverkehr von frankreich zwischen paris und orléans, der zahlreiche stationsstädte entstehen liess. und man wird lückenlos nach bern und umgebung versetzt.


meine entdeckung: das zähringerwerk in der weltgeschichte besonders gewuerdigt (foto: schweden-wanderer anclickbar))

das werk der zähringer, die zwischen 1157 und 1191 den landesausbau zwischen emme und broye vorantrieben, wird da exemplarisch ausgeführt. die tatvolle kraft des schwäbischen adels, der sich anders als die welfen und staufer nicht mit sippenkriegen unter eingebildeten begnügte, wird da schon mal gelobt. hervorgehoben wird, dass die wenig besiedelte sprachgrenze zwischen der deutschen und französischen schweiz viel platz bot, um sie tatkräftig mit strassen und städten zu erschliessen. und nicht unerwähnt bleibt, dass das für die region und das land handfesten, wirtschaftlichen segen brachte.

selbstverständlich profitierten die zähringer davon, stiegen so zu mächtigen und reichen herzögen auf, die es bis zur schwelle der deutschen königwürde brachten, bevor sie ausstarben. hervorgehoben wird, dass das das erwachte mittelatlerliche stadtleben privilegien mit sich brachte, menschen aller art anzog, von alter abhängigkeit befreite, neue lebensformen ermöglichte, das wirtschaftliche leben stimulierte, zu neuen handelmöglichkeiten führte, und ein wenig luxus in die aufblühenden gegenden verbreitete. der Vorsprung der europäisch führenden städte in der lombardei und in flandern begann zu schmelzen. Wahrlich, eine prioniertat, in einer zeit, wo es in europa nicht einmal schubkarren gab!

wessen mosaikstein einmal zum blühen gebracht wurde, dessen wünsche gehen an alle anderen mosaiksteine!


manchmal ist es gut, das bekanntes aus unbekannter sicht und in neue umgebung zu sehen. die städtegründungen von burgdorf bis murten von oltigen bis moudon als weltgeschichtliches momentum, – das habe ich mir selber nie überlegt! zu stark ist unser fortschrittgeprägtes auge davon geprägt, dass das leben bei uns früher mühsamer war! Zu wenig sind wir mit dem blick geübter historiker ausgestattet, die auf die ganze erdenrund schauen, und die kleinen, aber wesentlichen veränderungen in einer ecke der welt erkennen.

es ist gut, aufmerksam gemacht zu werden, wie prionierhaft die 9 städtegründungen der zähringer in 34 Jahren waren; wann und wo geschieht das heute noch? in zwei generationen haben die verkannten Schwaben, (trotz einigen späteren Ausfällen) fast nur bleibendes geschaffen, und waren damit mindestens nochmals 35 jahre allen anderen adeligen in der umgebung voraus, die mit nachziehenden stadtgründungen im ganzen mittelland versuchten, ihre schwindende macht wieder zu festigen. wir in bern und umgebung profitieren von der früheren prioniertat bis heute ein wenig davon! denn unser mosaikstein wurde einmal von fremden geputzt, bis dass er glühte.


die kriche von ekshärad erinnert an den alten pilgerweg nach nidaros (trondheim) und an bessere zeiten fuer die kleinstadt (foto: schweden-wanderer (anclickbar))

und es ist schön, in ekshärad daran erinnert zu werden, – eine stadt in der provinz, kaum grösser als die meisten mittelalterlichen städte! gerade wenn man nach tagen aus dem wald kommt, kann man erahnen, was für ein toller sprung auch nur schon eine heutige kleinstadt bedeutet. man würde es ekshärad und seiner bibliothek gönnen, dass auch sie etwas vom wirtschaftlichen aufschwung durch städtegründungen spüren wurden, denn die globalisierung macht der region zu schaffen. es ist nicht einmal sicher, ob die bibliothek noch nächstes jahr da steht, wo ich meine kleine ent-deckung wenig erinnerter zusammenhänge gemacht habe.

danke für die möglichkeit einer kleinen tagesüberraschung, – und jetzt schon viel kraft, dass euer mosaikstein die krise überlebt und von neuem glänzen wird!

schweden-wanderer

bruno und edmund. von problem-bären und problem-politikern

der tod von bär bruno beschäftigt mich immer noch. in schweden, wo ich gegenwärtig meine ferien verbringe, gibt es fast ueberall bären. das hat auch vorteile: man hat es nicht verlernt, mit ihnen umzugehen. in der schweiz, und in bayern!, weiss man das nicht mehr! deshalb verhält man sich auch ziemlich barbarisch, wenn ein bär auftaucht. die analyse des aktuellsten problemfalls aus der zivilisierten optik.

vernünftig bleiben

seit einigen Jahren leben in värmland wieder braunbären. sie sind vom norden her gekommen, und sie haben sich hier niedergelassen. die jungen männchen brauchen ihr eigenes revier, und deshalb dehnt sich die wachsende bärenpopulation auch räumlich aus. zwischenzeitlich sind es sogar mehrere bären in unserer gegend.

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gesehen haben wir die bären noch nie, weder in natur, noch medial. letzten herbst hat man hier erstmals offiziell zwei bären zum abschuss freigegeben. man wollte verhindern, dass sie sich weiter nach süden ausdehnen, – ins dichter bewohnte gebiet von schweden. ein ganz normaler vorgang für die menschliche zivilisation, die ihren lebensraum mit bären teilt.

als man die ersten bären hier wieder bemerkte, war das schon ein bisschen ein thema für die lokalpresse. doch das verhalten blieb sachlich: keine sensation, keine touristenströme, auch keine medien- und politikeraufmerksamkeiten. vielmehr erinnerte man sich an das normale verhalten gegenüber bären: an sich sind die bären eher scheu, und sie meiden den menschen. erst wenn man sie bedroht oder verführt, werden sie aggressiv. so verliess man sich darauf, dass es in schweden seit 200 jahren keine unfälle mehr mit bären gegeben hat. seit 1806 ist nie mehr eine zivilperson einem bären zum opfer gefallen. wenn es seither zu zwischenfällen kam, dann nur durch falsches verhalten, – in der regel von ungeschickten jägern.

deshalb hat man die bevölkerung bei der wiederkehr des bären auf die zentralen verhaltensregeln aufmerksam gemacht:

keiner bärin mit jungen zu nahe kommen;
keine lebensmittel unbewacht liegen lassen oder aufbewahren, und
keinem bären bedrohlich entgegen treten oder ihn erschrecken.

wenn man einen bären sieht, weiss er es in der regel schon, dass man in seiner nähe. deshalb gilt: kuehlen kopf bewahren und nicht davon rennen. geräusche von sich geben, ohne ihn erschrecken, und langsam davon davon laufen.

klar, ich weiss nicht, ob so kaltes blut hätte, wuerde ich einem bären begegnen, aber ich bin froh, solche verhaltensregeln schon mal zu kennen, wenn die möglichkeit besteht, mit einem bären in kontakt zu kommen!

schweiz: eine bären party draus machen

letztes jahr, als wir in die schweiz zurück kehrten, hatte man gerade eine riesengaudi mit dem verirrten bären aus slowenien. die sonntagspresse war voll davon, als wir in zürich landeten, und wir konnten die welt nicht verstehen. statt zurückhaltendem umgang wurde da ddie grosse bären-party gefeiert. das spektakel um den bären verführte übermütig gemachten menschen gar zur unvorsichtigen bärenpirsch. selbst gestandene vjs erlagen der versuchung: jede bewegung des bären wurde medial dokumentiert; ja, man konnte den jungbären live schritt auf tritt verfolgen. die touristenströme zur bärensafari ins engadin blieben denn auch nicht aus. die lokale 1. august-feiern verblassten, angesichts der überraschend ausgebrochenen fete.

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engadin: der bäre auf der flucht vor den fotojägern

nicht nur die medien bemächtigten sich des bären. auch die politiker mussten sich damals zu diesem und jenem äussern, obwohl niemand eine ahnung im umgang mit bären hatten. expertenstimmen wurden zwar zitiert, gingen aber angesichts des politmedialen gross-events fast ganz unter. lernprozesse wurden kaum ausgelöst. geendet hat das fest erst, als der bär unser land verliess.

bayern: endlich ein bärenfäll verteilen können

doch seine geschwister kamen wieder: technisch gesprochen als „ jj-1“, populär als „bruno“. damit beginnt der unterschied des barbarischen umgangs mit bären zum zivilisierten. nie hätte ein bär in schweden eine journalistische taufe erlebt, nie wurde er medial „personalisiert“, und nie zur lebenden ikone stilisiert. doch damit tappte der arme „bruno“, ohne es zu merken, in die moderne bärenfalle: der bär, den jetzt jede(r ) kannte, musste staatlich-administrativ erfasst werden: ein flüchtling? ein rebell? oder gar ein sozialfall?


bayern: eines der letzten bilder des bären

nein! „bruno“ mutierte umgehend vom schad-bär, wie man bären nennt, die andere tiere reissen, zum problem-bär, das heisst, zu einem tier, das auch für menschen gefährlich ist. und das war das signal, dass alle dämme der zivilisation brechen liess: jetzt brauchte es retter, die in der not, die menschheit vor grösserem schaden bewahrt!

keiner war in bayern, wohin sich bruno verirrt hatte, so prädestiniert, zum bären-helden aufzusteigen wie edmund stoiber:

er, der 2002 das fell des bären schon verteilt hatte, bevor das tier erlegt war.
er, der sich bei den damaligen bundestagswahlen schon mal als sieger feiern liess, um dann zu merken, dass schröders koalition ein paar stimmen mehr als seine hatte.
er, der 2005 wiederum siegesgewiss die latte für merkel auf über 50 Prozent legte, um auch ohne die fdp von münchen aus über berlin regieren zu können, um dann mit ansehen zu müssen, was für ein bumerang daraus gerade auch in bayern wurder.

er, der danach trotz päpstlicher unterstützung in der versenkung seiner eigenen csu verschwunden war, hatte nun die grosse chacne: dank „bruno“ nochmals zu einem grossen auftritt zu kommen. o-Ton stoi-bär: „Nun ham wir ähm ‚n normal verhaltende Bär lebt im Wald, geht niemals … äh … raus, und, äh, reisst vielleicht, äh, ein bis zwei Schafe im Jahr. Aeh … wir haben dann einen Unterschied zwischen dem normal sich verhaltenden Bär, dem Schadbär, und dem, äh, Problembär. Und … es ist ganz klar, dass … dass … dieser Bär … ein Problembär ist.“

rhetorisch wenig brilliant, sag ich da! aber kommunikativ ein glatter treffer! was dann kam, ist bekannt: der bär musste erlegt werden! und: endlich bekam edmund mit brunos haut ein bärenfell zum verteilen, ohne dass es eine demokratische wiederrede geben konnte!

die moral von der geschichte

ich bin froh, dass wir hier in schweden nicht so aufgebracht reagieren, wenn ein bär auftaucht. und dass wir, „äh, … keine politiker haben, … äh, die sich, … äh…, wegen ihren eigenen fehlern, ähm, noch etwas beweisen müssen, und … äh, so, … ganz klar, … zu problem-politikern werden!

bären-wanderer
(mit nägeln in der blechbüchse, wenn er allein im wald wandert)

bären in schweden (dt/sw)

mit meinen neuen favoriten unterwegs

habe viele bemerkungen gekriegt, zu meiner rubrik “mit meinen neuen favoriten unterwegs”. betroffene haben sich bedankt, ausgelassene haben sich empfohlen, und interessierte haben es als interessante dienstleistung an die blogosphäre verwendet. werde deshalb meine favoriten auch inskünft immer anfangs monat festlegen, und wie in meiner jugendzeit, als ich noch hitparaden hörten, aufzeigen, wer welche position inne hat resp. im vormonat inne hatte!

1. weiach (1)

unverändert unschlagbar das beste, was es für politisch-historisch interessierte stadt- und dorfwanderer gibt. ich bewundere die gabe, auf fast nichts, nichts weniger als eine täglich spannende kolumne schreiben zu können.

weiachblog

2. blogkritik.ch (neu)

hatte ja ein kleines intermezzo mit der redaktion von blogkritik. niemand mag sie, und doch schauen alle hin. denn es gilt in der kleinen bloggerszene das gleiche wie im literaturzirkus: schlimmer noch als verrissen zu werden, ist es ignoriert zu werden. weiter so, blogkritikerInnen, sie schaffen mit ihren rezensionen hilfreiche orientierungen in der szene!

blogkritik

3. ignoranz.ch (3)

interessante seite zur politisierung des alltag, nicht der hohen politik, aber der alltagspolitsich. wohl eher links, letztlich aber unkonventionell erfrischend. gegen ignoranz gerichtet, und voll von spannenden anregungen gegen die trägheit im alltag.

ignoranz.ch

4. blogwiese (7)

sprachsensibilität entwickelt man meistens dann, wenn man eine sprache erlernen muss. hier ein aufmerksames, einfallsreiches und höchst aktuelle sblog zu helvetismen aus deutscher sicht. selbst ich lerne da noch viel, was woher kommt und was es eigentlich meinte!

blogwiese

5. kulturstattbern (4)

bern – langweilig! nein, sag ich da. nicht wegschauen! hinschauen! dies ist der beste blog über das kulturleben in bern. kinokritiken, künstlerkritiken, stadtkulturkritiken. und viele bilder. meist gebrauchsfotografie. aber auch spezialfotografie über orte, die man sonst übersieht. von der zeitung “der bund” gesponsort (gegenwärtig ohne chefredaktor)

kulturstattbern

6. wanderer von arlesheim (neu)

wurde mit empfohlen, zurecht! geboten werden skizzen zur arlesheimer kultur, geschichte und natur. es wird gewandert, geschaut, und gefunden. und darüber wird berichtet. mein aufsteiger des monats!

wanderer von arlesheim

7. rhetorik

unverändert die beste seite zur (politischen) kommunikation. fast tägliche updates, aktuell, geistreich, gepflegtes layout. hohe kunst der instant vermittlung von informationen, eigentliche pflichtlekütre für alle, die insbesondere die medienrhetorik durchschauen wollen.

knill+knill kommunikationsberatrung

8. marcel bernet (neu)

bin per zufall, der aber system hat, darauf gestossen. gut gemacht, aktuell und informativ. klar, eine werbeplattform für die eigene firma, aber eher diskret. man kann sich auch verweilen, ohne kaufen zu müssen. marcel bernet hat mich wegen seinem neuen buch zum interessenten gemacht.

marcel bernet

http://www.bernetblog.ch/

9. edemokratie (8)

höchst anspruchsvolle seite, mit vielen informationen und kurzanalysen eines politikwissenschafters (aus bern!), der sich der politsichen kommunikation via intrnet verschrieben hat. gelegentlich etwas brav, gelegentlich aber auch experimentell. offener, liberaler geist, der die debatte sucht.

edemokratie

10. medienzirkus

medien bestimmen, was uns bestimmt. und sie verändern sich schnell. gut, dass es da blogger gibt, die versuchen, genau die veränderungen der bedingungen unseres alltagsdenkens zu beschreiben. medienzirkus der beste davon, den ich kenne.

medienzirkus

stadtwanderer

alles zu: “mit meinen favoriten unterwegs”

eiertanz der historiker

um dieses bild aus der berner geschichte machen die allermeisten historiker einen weiten bogen. diebold schilling hat es in seiner chronik veröffentlicht, und auch kommentare dazu geschrieben. doch seither schweigt man über den grössten skandal im mittelalterlichen bern: es duellieren sich zwei menschen, ein mann und eine frau, und der sage nach hat die frau den mann besiegt. was nur ist geschehen?


quelle: diebold schilling, spiezer chronik (um 1480)

der chronist schilling nimmt eine alte geschichte zum anlass für dieses bild. um 1288 soll es in der stadt zahlreiche veränderungen gegeben haben. es belagerte der deutsche könig rudolf I. bern, da man sich, eingebunden in eine burgundische opposition, weigerte, steuern zu bezahlen. rudolf erschien im sommer zweimal vor bern, belagerte die stadt vom heutigen krichenfeld aus, setzte über die aare in die matte, die damals noch nicht zur stadt gehörte, und versuchte, die holzstadt von westen her in brand zu stecken. das alles misslang vorerst gründlich, und könig rudolf musste erfolglos von dannen ziehen. ein jahr später kam jedoch sein sohn rudolf, der sich herzog von schwaben nannte, erneut nach bern, lockte die übermütigen städter auf der schosshalde in eine falle und besiegte die trutzige stadt im handstreich ausserhalb der mauern. bern musste nun die steuerschulden begleichen, blieb aber reichsstadt.

in bern kam es zu tumulten, wohl auch zu totschlägen gegen eigene leute. um die kriegsschulden bezahlen zu können, borgte man sich geld bei den ansässigen juden; diese bezichtigte man jedoch schon bald darauf, einen rituellen knabenmord begangen zu haben, und man verwies die juden der stadt. die schuldscheine, die man bei ihnen hatte, wurde vernichtet, und so waren die steuern indirekt bezahlt worden. erst 1293, nach fünf turbulenten jahren, gab der neue deutsche könig, adolph, der stadt eine neue verfassung, die es ihr erlaubte, aus den aufständen heraus zu kommen, und im namen des deutschen königs eine eigene bündnis- und territorialpolitik zu entwickeln.

was nun aber wird mit dem bild dargestellt? zunächst eine schöne starke frau, die einen schwachen ritter besiegt. doch was war damit gemeint? was ist der anlass? was ist das aussergewöhnliche? was waren die folgen? über all das weiss man wenig!

sicher hat der chronist schilling die personen aus seiner zeit, dem ende des 15. jahrhunderts, dargestellt. nur schon die frauenkleidung verweist darauf. 1288 wäre es undenkbar gewesen, dass frauen in bern eng anliegende und auszeichnende kleider getragen hätten. das kam erst mit dem frivolen 15. jahrhundert auf. und war selbst 1470 noch ein skandal. die burgunderin, jeanne de la sarraz, die frau des schultheissen adrian von bubenberg kleidete sich so, und sie wurde vor ein sittengericht zitiert. unbotmässig ihr freches verhalten?

der anlass für den zweikampf, der nach damaligem selbstverständnis immer auch ein gottesurteil brachte, muss aussergewöhnlich gewesen sein, dass ein chronist rund 300 jahre später die begebenheit in der matte erneut erzählt. vor allem aber, dass sich eine frau gegen einen mann durchgesetzt hat, scheint sich tief in die berner seele eingeprägt zu haben.

waren die frauen stärker als die männer, oder mutiger als die männer, oder vernünftiger als die männer? all das weiss man nicht. eiertanzen, das lernen die meisten historiker, wenn sie vor solchen bildern stehen!

also frage ich: was nur ist geschehen, 1288 in bern?

ich weiss es auch nicht! ich hoffe aber, dass sie, geneigte leserin, geneigter leser, sich in der sommerlichen hitze einmal zeit nehmen, und ihren kommentar zum speziellsten bild aus berns geschichte schreiben! werde aus der ferienferne beobachten, was für inspirationen das bild hergibt. und welchen beitrag wir leisten können, dass die historikerInnen bern zu einem erkenntnisfortschritt kommen!

stadtwanderer

tromp loeuil – berner kuriositäten (3)

ja, bern hat viele kleine gassen. da kann es schon mal sein, dass man keine sonne abbekommt. dass es einem zu dunkel ist. und dass es einem zu eng wird.

gerade in der ferienzeit habe ich viel verständnis dafür. und ich habe mein auge auf die sonne, die die enge nicht erreicht, ausgerichtet.

keine angst, es gibt keine grosse reportage über die innere und die äussere enge mehr, auch nicht über die mattenenge und das mattenenglisch. das alles folgt später.

die ferienkuriosität in berns gassen, die am besten zu meinem heutigen interesse passt, findet sich in der postgasse.


sieht man hinein oder hinaus? das ist die frage, schaut man in der postgasse an die wand.
foto: stadtwanderer

da eröffnet sich einem an der hauswand ein grosses fenster, und man blick über die dächer in die ferne.

ist man jetzt drinnen oder draussen? man wähnt sich in einem haus, und schaut hinaus, doch ist man draussen, und schaut – eben nicht hinein!

das ganze ist eine witzige augenstäuschung. nichts stimmt hier, und dennoch bekommt man das bild gern. man blickt nur an einem hauswand, die bemalt ist. der ganze rest ist einbildung. fata morgana in bern, oder heimischer ausgedrückt: ein tromp d’oeuil.

das ist vielleicht viel ernster gemeint als es tönt. denn städte sind räume. städte grenzen sich ab, vom umland, früher durch mauern, heute durch umfahrungsstrassen. städte haben eine gesetze, früher durch privilegien, heute durch die urbane lebensweise. schliesslich lebte es sich in städten gedrängter als auf dem land: früher durch die trutzige bauweise, heute durch die vielen menschen.

man sagt auch: in die stadt gehen, in der stadt sein. stadtleben, das ist drinnen, nicht draussen.

und weil ich soviel drinnendraussen bin, wenn ich stadtwandere, tausche ich sie für einen monat mit der weite der schwedischen wälder.

waldwandern statt stadtwandern ist angesagt!

schöne zeit in der schweiz! keine angst, ich schreib gelegentlich, über bären, wölfe und elche, und wie man ganz ordentlich in ihrer nähe leben kann, hoffentlich …

der (ferienhungrige) stadtwanderer!