Die Schweiz: eine kollektive Wahlmonarchie?

Rezension von Urs Altermatt: Bundesratswahlen, #NZZLibro, Zürich 2020

«Die Bundesräte – schweizerische Royals?», fragt Historiker Urs Altermatt gleich zu Beginn seines Buches «Bundesratswahlen», das eben im NZZ Libro Verlag erschienen ist. Und der Autor gibt eine originelle Antwort.

Was kommt, ist keine Auswertung der Titelblätter der Schweizer Illustrierten. Da würde, wie Adrian Vatter vor Wochenfrist in seinem Bundesratsbuch gezeigt hat, gemessen an der Amtszeit Karin Keller-Sutter vor Elisabeth Kopp und Christoph Blocher führen.
Vielmehr ist das Buch des Solothurner Historikers die erste Übersicht über die Wahlen in die Regierung des Bundesstaates von 1848 bis 1875. Nach 270 flüssig geschriebenen Seiten beendet Altermatt sein neuestes Werk mit dem Titel «Kollektive Wahlmonarchie». Ganz ohne Fragezeichen!

Die geglückte Staatsgründung
Die Gründung des Bundesstaats von 1848 in der Schweiz war die einzig dauerhaft erfolgreiche liberal-demokratische Revolution im grossen europäischen Revolutionsjahr. In Rekordzeit von sieben Wochen wurde davor eine eigene Verfassung aufgesetzt und verabschiedet. Bald schon wurde erstmals ein Parlament mit National- und Ständerat als Legislative gewählt und ein Bundesrat samt Bundespräsident als Exekutive eingesetzt.
Der Bundesrat war von Anbeginn an ein Zwitter, weil seine Mitglieder Teil eines Regierungskollektivs waren und an der Spitze eines einzelnen Departements der Verwaltung standen. Auch der Bundespräsident von damals war ein Hybrid, etwas zwischen «primus inter pares» (Erster unter Gleichen) und einem Schattenkönig, so Altermatt.
Grund dafür war, dass die Verwaltungseinheiten – ganz anders als heute – erst aus der Taufe gehoben werden mussten. Derweil war das Präsidium, gestützt auf die Institutionen der Helvetische Republik ein halbes Jahrhundert zuvor, damals herausgehoben und hatte bereits eine Bundeskanzlei als Drehscheibe im Rücken.

Bundesratswahlen angesichts des Todes im Amt
Wenig klar war zu Beginn, was mit den amtierenden Bundesräten am Ende der damals 3jährigen Legislaturperiode geschehen solle. Denn sie hatten sich einer sogenannten «Komplimentswahl» zu stellen. Die bestand darin, vorerst erfolgreich im Heimatkanton für den Nationalrat zu kandidieren, um erst danach von der Bundesversammlung mit dem Lob der Bürger bestätigt zu werden.
Der Berner Ueli Ochsenbein scheiterte 1854 spektakulär und war der allererste abgewählte Bundesrat der Schweizer Geschichte. Doch sollte er die Ausnahme bleiben. Wichtiger ist Altermatt nämlich, dass die die drei nächsten Bundesräte, die ersetzt werden mussten, allesamt im Amt starben. Erst 1863 kam es zu einer ordentlichen Demission zu Lebzeiten. Und es dauerte bis 1875, als es erstmals zu einem Austausch der Mehrheit des Bundesrates durch Wahlen kam

Der demokratische Sonderfall
Historiker Altermatt nimmt genau das im letzten Kapitel seines Buches zu Anlass, den Charakter des Bundesrats als Institution zu bestimmen. Dazu führt er aus, wie er an internationalen Tagungen vor Verwunderten regelmässig die personelle Kontinuität der Schweizer Regierung erklären müsse und trotzdem von einer Demokratie spreche. Denn nach der gängigen Demokratietheorie stellt der Wechsel der Regierungseliten ein unabdingbares Element der demokratischen Staatsform dar.
Stimmt also die angelsächsische Definition der Demokratie nicht, oder war die Schweiz 1874 zwar eine Republik, aber keine Demokratie?
Altermatt wäre nicht ein pragmatischer Erzähler, hätte er hier nicht eine salomonische Antwort parat. Die Schweiz sei eine Demokratie, schreibt er, aber eine, die Vorstellungen der parlamentarischen, präsidentiellen und direkten Demokratie mixe. Insofern sei der Mischling in einer europäischen Perspektive ein Sonderfall – aber ein früher, der Mitten im 19. Jahrhundert das bewerkstelligte, was die meisten europäischen Länder im Westen erst nach dem Sturz des Nationalsozialismus 1945 und im Osten nach dem Ende der Sowjetunion 1898 fertiggebracht hätten.

Kollektive Wahlmonarchie
«Kollektive Wahlmonarchie» hält der Wortschöpfer für eine berechtigte Mixtur aus der Gründerzeit, Das Wortspiel solle die Zeitgenossen des Autors bewusst irritieren. Entstanden sei die Regierungsform nämlich aus innenpolitsicher Notwendigkeit. Denn in einer Zeit der Exklusion, welche die Radikal-Liberalen und Konservativen im 19. Jahrhundert in ihren Kantonen konsequent praktizierten, war die Regierung auf Bundeseben die einzig integrative Institution des langsam werdenden Nationalstaates. Ohne den Zwang zur Einheit wäre das Experiment wohl nicht geglückt.
Die wichtigste Eigenheit der kollektiven Wahlmonarchie war deshalb, dass seine Mitglieder während ihrer Amtszeit nicht abgesetzt werden konnten. Wie Monarchen schieden sie anfänglich erst durch den Tod aus dem Amt. An der Stabilitätserwartung hielt man fest, selbst als die Referendumsdemokratie eingeführt wurde. Denn selbst bei Abstimmungsniederlagen rüttelte man eigentlich nicht an dieser Besonderheit des schweizerischen Regierungssystems. Vielmehr zähle man darauf, dass die gescheiterten Regierungsmitglieder neue Kompromisse suchen würden, die in der zweiten, allenfalls erst noch späteren Variante akzeptiert würden.

Die Klammer über den Partikularismen
Im Ausland sehe man die fehlende Abberufung gescheiterter Politiker(Innen) bisweilen als Demokratiedefizit des schweizerischen Politsystems, fügt Altermatt an. Im Inland rechtfertige man dies damit, dass das Volk, nicht die Regierung der Souverän sei und gar nicht demissionieren könne. Gerade wegen den Launen der Referendumsdemokratie erwartete man schon in der jungen Republik, dass der Bundesrat übergeordnet denke und dem Gemeinwohl diene. Sonst würde alles bald in Partikularismen enden.
Übersetzt in die heutige Zeit wirkt der Gründungsgeschichte des Bundesstaates und seiner Bundesratswahlen bisweilen als mythologische Verklärung. Dafür sind die Verhältnisse 172 Jahre nach der Bundesstaatsgründung zu verschieden. Doch macht das Buch die Weichen sichtbar, die in vielfältiger Art und Weise unter veränderten Bedingungen nachhallen und zwischen 1848 und 1874 unter der ersten Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft gestellt wurden.
So der gut informierte Historiker!