lachen mit peter sloterdijk

aus der tasche auf dem boden ragt ein buch, in dem ein kugelschreiber steckt. das zeugt von aktiver lektüre der “theorie des romans”.
ob es georg lukacs’ buch war, weiss ich jetzt noch nicht. immerhin weiss ich, wer es las: peter sloterdijk, einer der bekanntesten deutschsprachigen philosophen der gegenwart.

618-peter-sloterdijk-1philosoph peter sloterdijk (quelle: siegfried woldheg)

was ein so berühmter mensch im regionalzug nach spiez mache, will ich spontan wissen, ohne mich vorzustellen.
er sei in interlaken an einer tagung gewesen, wolle nach bern, nein, eigentlich zum flughafen in zürich, denn sein ziel sei lyon, erwidert mir sloterdijk.
ich bin vorerst perplex mit in diese reise zu geraten. dennoch ergibt sich das gespräch schnell, denn ich bekomme es nicht nur mit dem autor der “kritik der zynischen vernunft” zu tun, sondern auch mit dem wachen, geistreichen und unkomplizieten philosophen, der auf jedes stichwort einzusteigen weiss.

zum beispiel auf das der sozialdemokratie, bei deren berner kongress in interlaken ich eben war. “rotgrüne mehrheit in der regierung verteidigt, während beide parteien bei den parlamentswahlen verlieren”, sei mein thema gewesen, sage ich. der deutsche schwenkt die geistige kamera postwendend nach hessen: “rot-grün-rote mehrheit im parlament – und doch keine linke regierung, kontert er!
warum eigentlich nicht, will ich wissen. der gefragte fackelt nicht lange: das wäre der tatsächliche ausstieg aus der atomenergie gewesen, mitten in deutschland. 70 bis 80 prozent des stroms können man heute mit alternativenergien produzieren, die umstellung dauere eine, maximal zwei legislaturen. deshalb habe die energiewirtschaft mit ihrem lobbyisten wolfgang clement das linke regierungsexperiment so gründlich diskretiert. eine spur des bedauerns wird spürbar. vielleicht, schliesst sloterdijk, wäre hessen so in die politischen ideengeschichte eingegangen, – genau so wie die schweiz als erfinderin der demokratie.

und der philosoph lächelt.

ich erzähle meinem gegenüber, an der uni st. gallen wahl- und abstimmungsforschung zu unterrichten – und liefere damit unfreiwillig das nächste stichwort. die uni sei gut, auf allen podien der welt vertreten, um ihre businesslehren zu verbreiten, urteilt der weitgereiste rektor der karlsruher hochschule der künste. wirkliche denker, theoretiker, deduktivisten, wirft er allerdings ein, gäbe es unter den professoren in st. gallen nicht. eher induktivisten, empiriker und praktiker.

jetzt lächle ich.

doch dann kommt der gegenschlag: keiner von diesen könne heute mehr sicher sein. denn die erfahrung alleine lehre nicht mehr, was die zukunft bringe. damit sind wir nahtlos bei den schwarzen schwänen. es sei erstaunlich, sagt der autor des wohl meist verkauften philosophischen werkes auf deutsch, dass nassim talebs buch mit diesem titel zum weltbestseller geworden sei. denn er habe einen kleinen ausschnitt aus der realität analysiert. der aber offenbare die ursachen der heutige unsicherheit am besten, folgert er.
ob er an schwarze schwäne glaube, will ich vom tausendsassa der gegenwartsdiagnose wissen. dieser fährt sich kurz ins haar. philosophisch sei die frage, ob es weisse schwäne gäbe, auf jeden fall heikler. denn jeder wisse, dass schwäne weiss seien, und wer von weissen schwänen spreche, sugeriere, dass man schwarze finden würde, wenn man nur lange genug suche.

in thun, wo wir zwischenzeitlich sind, gibt es schwarze schwäne, werfe ich ein. die seien aus australien eingeflogen worden und durch ihre ablehung seitens der tierschützerInnen zum politikum aufgestiegen. das habe den zorn der touristiker hervorgerufen. die grösste demonstration in thuns gegenwart sei zugunsten schwarzer schwäne gewesen.

jetzt lacht sloterdijk herzhaft.

in extremadura, dem altersitz von kaiser karl v., das er mit seiner frau besucht habe, gäbe es auch schwarze schwäne. einer hätte seine tierliebende partner angegriffen, sodass sie ihm erzählt habe, beinahe vom schwarzen schwan gepackt worden zu sein. also müsse es sie geben.

nun lachen wir beide.

in spiez, wo wir auf unserem kurzen gemeinsamen weg umsteigen mussten, erlebte ich für einen kurzen moment den unsicheren menschen im philosophen sloterdijk. was für zeit es sei, frage ich mich. zuerst wusste ich nicht, ob das als prüfungsfrage gedacht war. doch dann wurde klar, dass es nur um die uhrzeit ging. denn es beschäftigte den rastlosen philosophen, dass seine uhr plötzlich hinten nach gehe, und er den anschluss verpassen könnte.
anschluss gefunden haben im zug nach bern durchaus auch andere passagiere, die, wie ich im augenwinkel merkte, immer interessierter unserer heiteren philosophischen runde lauschten.

stadtwanderer

der orangene faden in arlesheim

eigentlich war arlesheim jahrhundertlang ein winzerdorf unterhalb von schloss birseck. doch dann entschloss das domkapitel von basel sich in arlesheim niederzulassen, was den charakter der gemeinschaft an der untern birs gründlich. und einen organenen faden in die geschickte des dorfes spannte.

117294964_8f7480b987basel war seit spätrömischen zeiten eine bischofsstadt mit diözese und schäfchen, aber auch mit einer fürstbischof, der, von kaiser heinrich II. im 11. jahrhundert gefördert, als grundherr und weltlicher auftrat. mit der eigenen bürgerschaft verstand sich dieser zusehends weniger, und schon vor der reformation hatte der bischof seinen sitz nach pruntrut verlegte. sein stab, das domkapitel, verliess basel 1529 richtung freiburg im breisgau.

weder der kirchliche würdenträger, noch seine kanzlei sollten je in der rheinstadt wieder fuss fassen können. vielmehr baute man das fürstbistum basel, weitgehend identisch mit dem heutigen kanton jura als selbständiges staatswesen auf.

1679 war es louis xiv., könig von frankreich, der auf die expansion seines königreiches setzt. gegen holland führte er während jahren krieg, sodass sich dieses mit dem kaiser und dem spanischen könig – beides habsburger – verbündete. deshalb griffen die franzosen auf gebiete des heiligen römischen reiches deutscher nation über und besetzten unter anderem freiburg im breisgau. dem basler domkapitel nahmen die franzosen die einkünfte weg, bis sich dieses entschloss, die stadt richtung der seinen zu verlassen.

ziel der reise war arlesheim, der grenzposten des fürstbistums zu basel, keine stunde zu fuss vom rhein entfernt. der wein schien lieblich und die war bevölkerung lustig, sodass man sich entschied, eine neue katholische kirche, den heutigen dom, zu bauen. noch heute sticht diese einem sofort ins auge, wenn man durch arlesheim wandert. im spätbarocken stil gebaut, innen nach den vorstellung des rokkoko restauriert, überragt das gotteshaus schon in der höhe das bauerndorf. zudem lässt es kultur anklingen, die man sich unmittelbar daneben, im reformierten ergolztal, kaum mehr vorstellen kann.

1792 war schluss mit dieser katholischen herrlichkeit. wie das ganze fürstbistum kam auch arlesheim vorerst zur raurachischen republik, einem satellitenstaat der französischen revolution, bevor man ganz ins frankreich integriert wurde. 1815 entschied der wiener kongress, das ehemalige fürstbistum bern zuzuschlagen, wobei arlesheim zum kanton basel kam. bei der kantonstrennung in den 1930er jahren entschied man sich, den lanschäftlern anzuschliessen, wobei gleiches mit dem laufental 1978 geschah.

der dom überlebte die staatlichen wirren. bei einer gant von privaten ersteigert, später der katholischen kirchgemeinde, strahlt er seitem dem letzten jahr aussen renoviert mit neuem glanz. renovationsbedarf besteht aber im innern der so symbolisierten gemeinschaft, wie ein schreiben von bischof kurt koch, dem bischof des bistums basel mit sitz in solothurn, zu sexuelle übergriffen von pfarrherren an kindern belegt.

und noch erzählt man sich eine kuriose geschichte, wenn man sich auf dem domplatz niederlässt. im nebengebäude rechts des doms, das auf wundersame art und weise der niederländisch-katholischen familien breninnkmeijer (“c&a“), habe man hinter verspiegelten fenstern ein hallenbad eingebaut, sehr zum staunen einzelner arleser, wobei schliesslich das kantonsgericht entscheiden musste, was rechtens war oder nicht.

und so spannt sich eine organer faden quer durch die arlesheimer geschichte, vom 17. jahrhundert und den holländischen truppen, welche die franzosen erbosten, bis hin zu den reichsten europäern aus den niederlanden, die in arlesheim für ein stirnrunzeln sorgen.

stadtwanderer

die farnsburg belagern – einst und jetzt

farnsburg im baselbiet: ein zentraler schauplatz des geschehens im ersten bürgerkrieg unter eidgenossen, lud heute zu friedlichem bräteln ein.

P5241430P5241438P5241425
ruine farnsburg an der grenzen zwischen baselland (sisgau) und aargau (frickgau oder fricktal) (fotos: stadtwanderer)

der aufstieg auf den felssporn war steil. vor allem die letzten 100 meter, zu fuss über einen schotterweg, hatten es in sich. oben angekommen ging es über eine holzbrücke in die farnsburg. ganz nach oben der ruine kam man nur über eine enge wendeltreppe. doch wurde man da mit einem herrlich rundblick über den jura im heutigen baselbiet belohnt.

erbaut wurde die farnsburg um 1330 durch die grafen von thierstein, einem verzweigten hochadelsgeschlecht im jura, das vom aufkommenden handelsweg über den gotthard italien profitierte. sie, wie auch ihre erben 1418, die herren von falkenstein, verfügten über den sisgau, ein lehen des basler bischofs, bis in die zweite hälfte des 15. jahrhunderts.

so wie wir heute marschierten auch im august 1444 vielleicht tausendfünfhundert eidgenossen auf die farnsburg zu. allerdings waren sie weniger friedlich als wir. denn kurz zuvor hatten hans und thomas, die beiden anführer der falkensteiner, brugg mit list genommen und niedergebrannt und damit die berner als stadtherren düpiert. gehandelt hatte man im auftrag des französischen königs, der, vom habsburger könig gerufen, in den alten zürichkrieg intervenierte. zu diesem war es gekommen, weil zürich den bund mit der eidgenossenschaft unterlaufen hatte, mit den habsburger paktierte, was die eroberungen namentlich der berner im aaretal und der luzerner im reusstal bedrohte. und so kam es 1436 zu ersten krieg unter den verbündeten eidgenossen.

SCAN_CL
herrschaftsverhältnisse im raum basel während der mitte des 15. jahrhunderts

die belagerer aus bern, solothurn und luzern, verstärkt durch die artillerie basels nahmen die farnsburg nicht. als sie erfuhren, dass 40000 armaniaken, angeführt von louis, dem französischen thronanwärter, auf basel zu marschierten, lösten sie die belagerung weitgehend auf, rannten die meisten von ihnen, verstärkt durch 200 liestaler, auf basel zu, überwältigten sie in pratteln und muttenz die vorhut der franzosen, überschritten sie selbstmörderisch die birs, und kamen bis vor die tore der stadt. doch da entfachten die zahlenmässig haushoch überlegenen franzosen, in gundeldingen stationiert, die schlacht bei st. jakob (an der birs), welche die eidgenossen verloren. man erzählt bis heute, dass nur drei hand voll von ihnen sie überlebt haben.

in farnsburg zeugt nichts mehr vom dramatischen geschehen: weder von der mordnacht in brugg, noch von der belagerung durch die eidgenossen. denn die burg wurde von den ausgebrannten falkensteinern, die mit den eidgenossen im kleinkrieg blieben, bald darauf an die stadt basel verkauft, befand sich danach im bürgerlichen besitz und verlor durch den beitritt der basler zur eidgenossenschaft 1501 ihre militärischen bedeutung. zugestzt haben ihr schliesslich die eigenen leute: 1653 begehrten die bauern rund herum ein erstes mal gegen die dienstmannen aus basel auf, und 1798 revoltierten sie erneute, verjagten den letzten landvogt und fackelten die farnsburg regelrecht ab.

so gründlich, dass die ruine heute nur noch als ausflugsziel beispielsweise für kinder und erwachsene genutzt wird. um an einem herrlichen tag wie heute die aussicht zu geniessen, die eidechsen zu zählen und cervelats zu bräteln.

stadtwanderer

die hoffnung stirbt zuletzt

schöner kann die herleitung eines wortes nicht sein: “hoffnung” kommt vom mittelniederdeutschen “hopen”, dem hüpfen und springen in freudiger erwartung, das etwas geschehen könnte, was man erwartet. und so empfehle ich, morgen in freier natur zu hüpfen, zu springen oder zu schwimmen. mit gutem grund.

barack_obama_hopeernst bloch, der grosse deutsche philosoph marxistischer ausrichtung, der sich wie kaum jemand anderes mit dem “prinzip hoffnung” beschäftigt hat, kennzeichnet dieses als wärmestrom, das durch gesellschaftliche entwicklungen fliesse, um sie voranzutreiben.

das ist mit sicherheit eine säkulare definition der hoffnung. denn in der christlichen welt war und ist hoffnung das streben nach dem ewigen leben im jenseits. bezogen auf das diesseits, hoffen wir heute meist auf eine bessere zukunft im eigenen leben vor dem tod, allenfalls im leben unserer nachfahren.

andreas m. walker, co-präsident von swissfuture, der schweizerischen vereinigung für zukunftsforschung, glaubt aufgrund einer online-umfrage zum 40jährigen bestehen seines clubs zu wissen, dass barack obama der grösste hoffnungsträger in politischer und wirtschaftlicher hinsicht in der schweiz ist. “yes, we can” gab auch in der tiefsten krise so viel selbstvertrauen, wie es heute keine schweizerin, keine schweizer den eigenen landsleuten vermitteln könne.

jesus christus, mutter theresa und mahatma gandhi hält walker für die persönlichkeiten, die den schweizerInnen in der vergangenheit am meisten hoffnung vermittelten. und die eigenen eltern, suggerieren seine statistik. denn ohne sie geht nichts.

hoffen zu können, schreibt der zukunftsforscher, ist zunächst eine individuelle eigenschaft, die man in der kindheit lernen muss, für die sich die familie, später auch andere vorbilder einsetzen müssen. und was man so erfährt, muss man seinem umfeld auch zurückgeben. denn nur so entsteht die gesellschaftliche energie, die veränderungen bewirkt.

gesund zu bleiben, hält der fachmann für die verbreiteste hoffnung der gegenwart. danach sieht er den erfolg bei der arbeit, die sicherheit vermitteln soll. und die sehnsucht nach der grossen liebe, die sich einstelle.

doch gerade hier warnt walker auch: hoffnungen können enttäuscht werden, realisieren sich nur gelegentlich. damit müsse man umgehen lernen, ohne dass es allgemeingültige rezepte gäbe. durchzuhalten und vernetzt sein, ist vielleicht noch der beste ratschlag. hoffnung, rät der chef der zukunftsforscher, sollen nicht unrealistisch sein, sich auf die nahe zukunft beziehen, um den lebensabschnitt, in dem man steht, voranzutreiben.

dafür, entnimmt man dem dicken untersuchungsbericht, gehen die menschen in der schweiz am liebsten in die natur. denn hier stirbt die hoffnung zuletzt!

und so bleibt mir die hoffnung, meine leserInnen draussen im wald, auf der wiese oder in der aare zu treffen. wo vielleicht nicht nur das gefälle des flusses, sondern auch ein kleiner wärmestrom uns voranbringt.

schöne pfingsten, wünscht der

stadtwanderer

wo soll das alles enden?

er hat geistesgrössen des zwanzigsten jahrhunderts wie den historiker arnold toynbee oder den politologen samuel huntington beeinflusst. gleichzeitig wurde er von karl popper heftig kritisiert. genau dies ist typisch für die rezeption oswald spenglers ” untergang des abendlandes”. bis heute.

070f8b9e-4e6f-424f-bbdd-738d08d403c5

“wo soll das alles enden?”, so könnte man die fragen nach der gestrigen ersten stadtwanderung der saison 2010 zusammenfassen. mit meinen gästen, die meisten umweltbeauftragte aus den innerschweizer kantonen, sass ich im biergarten neben bernerhof. der serbeldne euro, der zustand des bundesrates, die löchrigen nationalstaaten und die übernutzung der natur bildeten die beunruhigende kulisse..

einer der unser gestriges gefühl genau beschrieben hat, gibt uns auch den schlüssel, es auch zu durchschauen. gemeint ist oswald spengler, deutscher philosoph, der zwischen 1918 und 1922 den untergang des abendlandes beschrieb.

kulturhistorisch geschult widersprach spengler dem fortschrittsglauben der hegelianer in der industrialisierungsepoche. nicht linear, sondern zyklisch entwickle sich die kultur, postuliert er. und: “kulturen sind organismen”, schrieb spengler, und “die weltgeschichte ist ihre gesamtbiografie.”

die führende westeuropäische zivilisation seiner zeit sah er mit dem fränkischen reich unter den karolingern aufkommen, sich vom kontinent über england und nordamerika über den ganze erdball ausbreiten und mit dem 1. weltkrieg im 20. jahrhundert enden.

wichtigstes charakteristikum entwickelter, damit aber auch abstrebender zivilisationen ist nach spengler die erstarrung aller lebensbereiche.
es dominiert die anorganische stadt gegebüber der fruchtbarkeit des landes.
es regiert der materialismus, der die religion verdrängt.
es herrschen die alten über die jungen.
es tritt die unterhaltung der sinne an die stellen der bewältung der signale, die von ihnen ausgehen.
es versinkt die moral, zuerst in der kunst, dann in der gesellschaft.
und es kommt zu formloser gewaltanwendung im namen der befreiung vor dem imperium der dominanten zivilisation.

spengler wieder lesen, heisst heute ohne zweifel, die gegenwart deuten zu wollen. spengler lesen heisst aber auch, nicht nur über phänomene nachzudenken, sondern auch über seine philosophischen annahmen.

recht hat der kulturphilosoph, wenn er die entwicklung einzelner kulturen zyklisch begreift, denn die geschichte hat uns ausgehend vom untergang troia, dem aufstieg und fall des römischen reiches, der ausdehnung der angelsächsischen imperien über die ganze welt gelehrt, dass das alles nicht einfach nach einem gerade gespannten faden verläuft. genau das hat auf geistesgrössen eben dieser welt abgefärbt, die sich wie arnold tyonbee oder samuel huntington an die grenzen des historischen und politischen denken der gegenwart gewagt haben. falsch hatte der zeitdeuter von damals jedoch, indem er die kulturelle entwicklung als ganzes ohne fortschritt sah, die möglichkeit einer geschichte der menschheit negierte. damit erhielt sein untergang des abendlandes etwas fatalistisches, das immer nur im absoluten nichts enden konnte.

oswald spengler war in seiner zeit erfolgreich, denn er porträtierte das lebensgefühl der “generation titanic”. doch anders als der luxuriöse hochseedampfer ging die welt trotz spenglers diagnose nicht unter. genau das hat den österreichisch-britischen philosophen karl popper zu einem der wichtigsten kritiker spenglers werden lassen. wenn poppers fortschrittsoptimismus der nachkriegszeit, der die westliche welt erfasste, angesichts globaler verlagerungen der zivilisation nach asien erneut zerbricht, mag es sein, dass unsere generation wieder den untergang der zivilisation beklagt. spengler kritisch lesen, bedeutet deshalb, genau das nicht als beschreibung der geschichte der menschheit misszuverstehen, sondern stand der dinge unserer eigenen kulturellen befindlichkeit.

wahrscheinlich kann man die frage, wo das alles enden soll, nicht beantworten. doch heisst das nicht, dass der weg hierzu abrupt beendet ist.

stadtwanderer

ansehen

medienbilder, menschenbilder: roger de weck aus der ferne und der nähe

über roger de weck, den neuen generaldirektor der srg, ist seit gestern schnell viel geschrieben worden, das so sicher wie das amen in der kirche tönt. ich habe bei den dreharbeiten zur sternstunde geschichte einen ganz anderen menschen kennen gelernt.

SCHWEIZ SRG GENERALDIREKTOR DE WECK
roger de weck, kurz nach seiner wahl zum generaldirektor

letzten sommer bin ich mit roger de weck einmal quer durch die schweiz gereist um vier sendungen der “sternstunde geschichte” zu drehen. im aufstieg zum nufenen begann er unvermittelt über sich und seine familie zu erzählen.

pierre de weck, eine treues cvp mitglied aus dem freiburgischen, war chef einer kleine regionalbank, bevor diese an die sbg verkauft wurde und rogers vater den aufstieg in ersten bank der schweiz suchte. dieser führte ihn bis an die spitze des verwaltungsrates des instituts – ein amt, das er als erster katholik inne hatte. noch bevor die sbg mit dem sbv zur ubs fusioniert wurde, ging pierre de weck in pension. doch machte der bankier aus berufung das nur halb, denn bald schon wurde zur sanierung der vatikanbank nach rom berufen, wo er im hohen alter definitiv kürzer treten wollte, von den greisen kardinälen aber gehindert wurde, weil sie fürchteten, selber schon mit 80 zurücktreten zu müssen. und so wirkte der kürzlich verstorbene, arbeitssame schweizer so lange es ging.

roger de weck selber bezeichnet sich gerne als kulturkatholik. er weiss, aus welche milieu er stammt, und dass das seine sozialisation geprägt hat. doch haben sich die freiheiten der individuen auch vergrössert, sodass eine strenge anpassung an die traditionelle lebensweise angesichts der wertwandels nicht mehr erforderlich sind. der gelernte ökonom aus der hsg-kaderschmiede verbrachte sein ganzes leben in städten: in genf und zürich, hat er die urbane lebensweise schätzen gelernt, ist er mehrsprachig in wort und schrift geworden, und hat er als leidenschaftlicher journalist über wirtschaft und gesellschaft berichtet.

zweimal war roger de weck bisher chefredaktor einer zeitung gewesen: beim tagesanzeiger, während der ewr-entscheidung, und bei der zeit, in den jahren danach. das hat ihm insbesondere im nationalkonservativen spektrum der schweiz den ruf eines euro-turbos eingebracht. mit dieser etikette kann er selber wenig anfangen. denn für ihn sind es die veränderten realitäten, welche die schweiz zu ihrem vorteil zwingen, sich mit der eu, wirtschaftlicher interdependenz und neuen kulturelle trends. das er dabei ein glühener verehrer des eu sei, bestreitet er glatt weg.

stolz erzählt er mir, wie es ihm gelungen sein, das genfer hei, dem institut für internationale studien, in den letzten jahren neu zu lancieren, geld für eine neubau der instituts zu finden, und die genfer wirtschaft davon zu überzeugen, dass sich investitionen in offene und gepflegte internationale beziehungen wirtschaftlichen und kulturell lohnen. geholfen hat ihm dabei kein geringerer als christian lüscher, dem ehemaligen fdp-bundesratskandidaten, wie er nicht ohne schalk erzählt.

nun ist roger de weck zum neuen generaldirektor der srg ssr gewählt geworden. mich hat es gefreut, denn ich halte ihn für einen der fähigsten schweizer publizisten, der weit- und überblick hat, und dennoch eine spezielle liebe zur schweiz bewahrt hat. mich freut auch, dass man nach jahren, in denen man sich von managern klassischer art, die vor allem sparprogramme kennen, sich selber bereichern und rasch wieder fort von ihren wirkungsstätten sind, einen integren kulturmenschen mit intellektuellem format an die spitze einer nationalen institution stellt.

die überraschung bei der verkündung der wahl gestern war gross, die freude verbreitet, auch auch der aufschrei im lager der gegner de wecks war nicht zu überhören. eigentlich bin ich überzeugt, dass das mit gutem willen überbrückt werden kann. denn roger de weck kann zu hören, entgegenkommen zeigen, ohne seine standpunkte zu verleugnen und damit substanziell gegensätze integrieren. für verständigung braucht es aber immer zwei seiten.

wahrscheinlich hat roger de weck das von seiner familie gelernt, welche aus aristokratischer verbundenheit den liberalen bundesstaat von 1848 bekämpfte, verfolgt wurde, sich dann aber arrangierte und in der kultur gemeinsamkeit von gegensätzen vollwertig aufgegangen ist. das bewies roger de weck, als er, oben auf dem nufenen, die motorenbremse rausnehmen liess und mit dem schuss aus den alpen mit seinem team ideen für eine weitere staffel von sternstunden geschichte für das schweizer fernsehen entwickelte.

stadtwanderer

ir wäbere, z’bärn, ghört

seit die sonntagszeitung über die gespräche der mitte-allianz berichtet hat, ist in der schweiz der politisch-mediale teufel los. und der hat eine ganz spannende diskussion über das regieren in der schweiz entstehen lassen, die ich nicht missen wollte. deshalb bereichere ich sie um einen gedanken.

aperosaalzunftratszimmerwaeberechaeller
gut bürgerliche kost in gemütlicher atmosphäre: ort, wo die präsidenten von fdp, cvp und bdp tagten, um die allianz der mitte zu besprechen.

“d’wäbere”, wie man der zunft zu webern, in bern sagt, empfiehlt sich für “traditionelle küche, mit marktfrischen zutaten modern interpretiert” an. da ist für rück- und vorwärtsgewandten etwas dabei, genauso wie für die bodenständigen und marktfahrer.

das muss es gewesen sein, weshalb sich die nationalen spitzen von fdp und bdp durch den cvp-parteipräsidenten ins berner zunfthaus locken liessen. darbellay, christopherus, nämlich wollte, dass alle drei bürgerlichen parteipräsidenten das potburri, das sie bisher abgegeben haben, wegschmeissen, und inskünftig mit- statt gegeneinander kochen.

zwar weiss man nicht, wer die planspiele gegenüber der presse ausgeplaudert hat. doch der kreis der informierten war nicht gross. drei parteipräsidenten, wohl auch ihrer hintermänner und -frauen in den generalsekretariaten und vielleicht eine handvoll sekundanten wusste, dass man sich gezielt aus der zentrumsfalle heraus manövrieren will, in die man, eingeklemmt zwischen der wählerstarken svp und den forderungsreichen grünen und sp, geraten ist. ich jedenfalls war es nicht – und habe doch eine meinung.

dass sich die zentrumsparteien untereinander absprechen, um ihre positionen zu bereinigen, begrüsse ich ausgesprochen. ob es zu einer wahlplattform zwischen fdp, cvp und bdp kommt, kann ich heute nicht beurteilen: auf nationaler ebene ist das denkbar, im gebälk der kantone dürfte es aber kräftig knarren. bleibt die frage, was bei den bundesratswahlen 2011 geschieht.

konkret geht es um eveline widmer-schlumpf, denn nach den treffen der fdp und der cvp mit der bdp, ist diese definitiv in die mitte gerückt und kann man die bündner magistratin beim besten willen nicht mehr als besser hälfte auf einem svp-sitz bezeichnen.

wer der konkordanz das wort redet, muss sich deshalb darauf einstellen, dass die mitte-parteien 2011 mit aller voraussicht nach nur noch drei sitze haben werden, und widmer-schlumpf die nachfolgerin von hans-rudolf merz ist. die svp wiederum könnte ihren fraktionschef caspar baader zum bundesratskandidaten küren wollen, und sp und grüne würden zunächst unter sich ausmachen müssen, durch wen sich nach dem rücktritt von leuenberger moritz im bundesrat vertreten sein wollen. im gespräch sind auf jeden fall die bernerInnen simonetta sommaruga und bernhard pulver.

das alles wäre aber nicht weit weg vom status quo. verbessert werden könnte dieser, indem die mitte mit vorgaben für die aussenpolitik auf treten würde, die so gut sind, dass sich die pro und cons der anderen parteien an ihnen reiben müssen. und, so füge ich bei, dass man sich in wirtschafts-, gesellschafts- und staatspolitischen fragen soweit einigt, dass das ganze auch innenpolitisch sinn macht.

wenn die parteiengespräche indessen ein auftakt für eigentlichen koalitionsbildungen waren, könnte alles ganz anders aussehen. die mitte könnte ihre vier sitze behalten, die svp im falle einer mitte-rechts-koalition aber gar zwei neue bundesrätInnen stellen. sollte es zu einer mitte-links-koalition kommen, dürften die grünen den sitz von ueli maurer erben.

nur, so füge ich bei, müssten die parteien, die das prästieren, auch lernen, wie man koalitionen bildet: indem man sie sachlich vorbereitet, vor der wahl eine präferierte koalitionsaussage macht, die wählenden darüber entscheiden lässt, und danach, wenn es für eine mehrheit gereicht hat, das propagierte auch umsetzt. falls es für die mehrheit nicht reicht, muss man auch bereit sein, auf den oppositionsbänken platz zu nehmen oder zurückzutreten.

dafür reichen gespräche in der gemütlichen atmosphäre der berner wäbere nicht. vielmehr rate ich für diesen fall, im berner boxkeller von trainerlegende charly bühler das austeilen und einstecken von der pike auf zu erlernen. sonst könnte es leicht auch einige blaue augen absetzen.

stadtwanderer

parteienanalyse im st. galler “wienerberg”

ich bin ein wenig zu früh auf dem st. galler unihügel. meine veranstaltung zur empirischen politikforschung in der praxis beginnt erst um zwei. “comparative politics“, ein dickes lehrbuch, das an der elite-uni in oxford herausgegeben worden ist, greife ich in der studentischen buchhandlung auf, um im restaurant “wienerberg” darin zu schmökern.

rwb_01restaurant wienerberg, wo ich mich auf die vorlesung an der hsg einstimme

herausgeber daniele caramani, direktor des st. galler instituts für politikwissenschaft, analysiert darin übergeordnete entwicklung der europäischen parteiensysteme wie folgt:

erstens, die nationalen revolutionen des 19. jahrhunderts spalteten die gesellschaft in zentren und peripherien, welche revolutionär resp. antirevolutionär waren. hinzu kam der gegensatz zwischen kirchengebundenen und säkularisierte kräften. in der schweiz drückte sich da im gegensatz von freisinn und katholisch-konservativen (heute cvp) aus.

zweitens, die industriellen revolutionen am übergang des 19. zum 20. jahrhundert teilten die menschen zwischen bauern und bürgern auf, aber auch zwischen arbeitern und unternehmern. in der schweiz sprengte das den freisinn, der einerseits in fdp un bgb (heute svp) zerfiel, anderseits die sp als eigene vertretung der arbeiterschaft entstehen liess.

drittens, die internationalisierung der politik im 20. jahrhundert brachte neue gegensätze: etwa zwischen kommunisten, welche die weltherrschaft anstrebten, oder in faschistische parteien, die sich an deutschland und italien ausrichteten. dauerhaft überlebt hat in der schweiz keine der parteien aus dieser spaltung.

die aktuelle transformation der parteiensysteme entwickeln sich nach caramani in zwei richtungen entwickeln: einmal sind mit den grünen postmaterialistische bewegungen und parteien entstanden, sodann sammeln sich die nationalkonservativen kräften in neuen parteien, oder verändern bestehende. die gegewärtigen wahlsieger der schweiz, die svp und die grünen, stehen für das ein wie für das andere.

vermittelt wird dies alles jedoch durch die eigenheiten des politsichen systems. in der schweiz entscheidend ist das konkordanzsystem, das sprachliche gräben überbrücken, konfessionelle gegensätze einebnen, bürger und bauern einander näher bringen will und die sozialpartner anhält, sich so weit wie möglich untereinander zu einigen.

am unversöhnlichsten prallen die standpunkte bei der aktuellsten konfliktlinie, dem gegensatz zwischen offener und geschlossener gesellschaft, aufeinander. die svp bildet den einen pol. die fdp und die sp den andern. letztere setzen auf offene grenzen, freien ökonomischen austausch, um wirtschftlichen fortschritt zu erzielen und befürworten multikulturelle gesellschaft mehr oder mindern. dagegen protestieren die vertreter der nationalen interessen immer deutlicher. aus internationalen organisationen wollen sie austreten, supranationalen verpflichtungen sind ihnen zu wider, denn sie werden als verlustgeschäfte zugunster globaler moloche gesehen, die nicht funktionieren. entsprechend setzt man auf die rechte und privilegien der autochtonen bevölkerungsteile, und bekämpft man das kulturelle andersartige.

wertesynthesen wie beiden grünliberalen, die den konflikt zwischen ökonomie und ökologie überwinden wollen, zeichnen sich hier noch kaum ab. am ehesten bei der bdp, der fall. die, von der svp herkommend, ihre politik ablehnt, und einen ausgleich zwischen der isolation der nationalkonservativen und dem neoliberalismus oder superetatismus der öffenungswilligen sucht.

voilà, das schützengarten-bier ist aus, das dicke buch von caramani noch lange nicht fertig gelesen, doch zeigt mir die uhr an, dass ich jetzt unterrichten gehen muss.

stadtwanderer

samih sawiris soll direktor der pro helvetia werden

auffahrtstag – ruhetag. zeit, die zeit zu lesen. zum beispiel, die 10 ideen für eine besser schweiz. hier die sätze, die mir beim lesen blieben. nicht, weil ich sie alle gut oder schlecht finde, sondern weil sie mich auf- oder angeregt haben, hier die hitparade in meiner ordnung:

Samih Sawiris
Samih Sawiris, Begründer von Neu-Andermatt, soll Direktor der Pro Helvetia werden

10. Muammar al-Gadhafi, Staatspräsident Libyens:
“Ich rufe auf, das Staatswesen der Schweiz aufzulösen. Die Schweiz ist eine Weltmafia und kein Staat. Sie wurde gebildet aus einer italienischen Gemeinschaft, die zu Italien zurückkehren sollte, einer deutschen Gemeinschaft, die zu Deutschland zurück sollte, und einer französishcen Gemeinschaft, die Frankreich zurückgegeben werden sollte.”

9. Walter Wittmann, Oekonom:
“Die spektakuläre Erfolggeschichte des Schweizerischen Bundesstaates von 1848 bis 1914 basierte auf einem völlig anderen System, als wir es heute haben. Es gab Majorzwahlen, es gab eine handlungsfähigen Bundesrat mit sieben Radikaldemokraten, ab 1891 auch mit einem Vertreter der Katholisch-Konservativen. Der Föderalismus war schwach entwickelt, die direkte Demokratie spielte eine untergeordnete Rolle. Man konnte regieren – und tat das auch zügig.”

8. Martin A. Senn, Journalist:
“Der Kern des Selbstbewusstseins der Schweiz fusst auf einer Schweiz, die konservativ, aber auch ökologisch und sozial nachhaltig sowie wirtschaftlich-technologisch modern ist: auf der realen Schweiz. (…) Falls Sie dies schönfarberisch finden: Es war der ungelenkte deutsche Finanzminister, der mit seiner Wildwestmetapher die Sympathien unfreiwillig zugunsten der Schweiz verteilt hat. Denn die Indianer sind seit Karl May die Sympathieträger der Welt.”

7. Ludwig Hasler, Philosoph:
“Die Gesundheitspolitik muss um 180 Grad gedreht werden. Sie soll die Leute stärken, nicht vor allen Uebeln verschonen. Stark wird ein Mensch am Widerstand. Eine Politik, die an kräftigen Bürgern interessiert ist, ermutigt deren Freiheit, sicher nicht deren Unmündigkeit -wie soeben mit den messianischen Nichtrauchergesetzen.”

6. Bruno S. Frey, Oekonom:
“Jede staatliche Aufgabe soll sich in dem Raum abwickeln, der dafür die passende Ausdehnung hat. So entstünden funktionale Körperschaften, die sich überlappen und die für ihre Aufgaben nötigen Steuern in einem demokratischen Verfahren erhebendürften. (…) Das stellt eine neue Form von Föderalismus und Demokratie dar, in der sich die staatlichen Strukturen den Erfordernissen der Individuen anpassen – nicht umgekehrt.”

5. Simonetta Sommaruga, Ständerätin
“Ich schlage vor: Einem vollzeitlich erwerbstätigen Mann wird, wenn er Vater wird, das Arbeitspensum automatisch um mindestens 30 Prozent reduziert. (…) Dies hat zur Folge, dass auch Frauen Kaderpositionen anstreben und erhalten. Denn viele Frauen sind heute nicht bereit, für einen Chefposten, Familie, Freundschaften und Hobbys zu vernachlässigen und emotional zu verkümmern.”

4. Margrit Sprecher, Journalistin:
“Unsere Schweizer Volksvertreter machen nicht nur ein schlechte Figur. Sie genügen auch nicht dem internationalen Standard. Just die Schweiz, die so viel Wert auf höchste Qualität ihrer Produkte und Ausbildung legt, lässt sich sich von Amateuren vertreten, die ihren ausländischen Gegenspielern, gewandten, geschulten und cleveren Profis – hoffnungslos unterlegen sind. (…) Aber wollen wir das?”

3. Roger de Weck, Publizist:
“Eine in mehreren Kulturen verhaftete, global ausgerichtete Willensnation wie die Schweiz braucht Investitionen in die Mehrsprachigkeit ihrer BürgerInnen und Bürger. Die im Kindesalter gar nicht so grosse Mühe lohn sich, das beweist auch das Luxemburger Beispiel. Im Grossherzogtum sind dank des Schulsystems fast alle sowohl des Deutschen als des Französischen mächtig. Die Luxemburger pflegen überdies ihre lebendige Mundart.”

2. Remo Largo, Kinderarzt:
“Für mein Land wünsche ich mir eine Frauenpartei oder eine Familienpartei, die von Frauen geführt wird. Damit die Schweiz kinderfreundlicher wird. (…) Denn gemäss einer kürzlichen Umfrage des Beobachters würde es Eltern aus dem Mittelstand sehr schwer fallen, auf ihr Auto zu verzichten, weit weniger auf ein weiteres Kind.”

1. Daniele Muscionico, Journalistin:
“Samih Sawiris kann als Visionär unserem Land die Welt näher bringen. Die Bedingungen sind ideal: Er hat seinen Dürrenmatt gelesen und ist mit dem Besuch der alten Dame genauso vertraut wie mit dem Stall des Augias. Unser Gast aus Aegypten erfüllt alle Bedingungen als nächster Direktor der Kulturstiftung Pro Helvetia.”

uff, und wow,

stadtwanderer

“schreien nützt nichts!”

sie hielt das beste referat, obwohl sie kein wort sagte. denn helene jarmer, die grüne abgeordnete zum nationalrat aus wien, hörte nichts, spricht nichts, und führte den versammelten politberaterInnen europas trotzdem vor, wie man wahlkämpfe führen und gewinnen kann.

P5081285
helene jarmer, gehörlose politikerin in österreich, am kongress der eapc in wien

“ihre angelobung im nationalrat geriet zu vielbeachteten lektion in der gebärdensprache”, sagte helene jarmer am kongress “emotions in politics and campaigning” durch ihre interpretin. vorher habe man im österreichischen parlament das problem der gehörlosen ignoriert. doch seither würden alle sendungen aus dem nationalrat mit gebärdensprache übersetzt. bingo!

“schreien nützt nichts”, war damals ihr slogan. er hat die politikerin landesweit bekannt. dass kommunikation mehr als reden ist, weiss die tempramentvollen sonderpädagogin gut zu vermitteln. den verblüfften politberatern aus ganz europa zeigt sie ohne wenn und aber: ihr standort auf der bühne ist nicht hinter dem rednerpult, sondern mitten im geschehen, was die referentin souverän macht. für den bericht aus ihrem leben braucht sie auch kein manuskript, was gerade nach abgelesenen vorträgen durch professoren erfreut. und schliesslich setzt politikerin jarmel bilder auf der leinwand genauso wie ihre körpersprache viel bewusster als die meisten anwesenden ein, um sich mitzuteilen.

die gebärdensprache, die ihr hilft zu verstehen, was andere sagen und mit der sie geübten interpretinnen mitteilt, was sie andern sagen möchte, ist dabei alles andere als international. vielmehr kennt sie nationale eigenheiten – und sogar dialekte. besondere probleme ergeben sich mit namen, etwa im parlament. wolfgang schüssel, der frühere övp-chef und dann ministerpräsident, habe sie stets mit dem “mascherl” gleichgesetzt, das er früher trug und ihn unverwechselbar gemacht habe. und so zeigte ihre gebärde für ihn schnell mal die form einer fliege. für viele der anderen politikerInnen habe sie aber neue zeichen erfinden müssen, was man sehr geschätzt habe.

“schauen sei gehörlosen ins gesicht, wie allen anderen menschen auch”, gibt die 39jährige wienerin allen anwesenden auf den weg. ohne übersetzung verstehe sie zwar nichts; ohne ihre person müsste man aber auch nichts übersetzen. und so könne sie wenigstens einen teil ihrer emotionen in diskussionen direkt vermitteln. das fällt einem auch nicht schwer zu verstehen. denn: “genauso wie es unter menschen mit gehör langweiler gibt, finden sie solche auch unter gehörlosen.” dass helene jarmel nicht gehört, wird einem rasch klar, wenn man ihr zusieht um zuzuhören.

jarmels botschaft bleibt einem nach dem referat tief sitzen. und trotzdem macht man einen dummen fehler, wenn man herzhaft klatscht. denn auch das hört die gehörlose politikerin nicht. mit den händen in der luft wackeln, bedeutet sie dem publikum, und als es das macht, nimmt sie es mit sichtbarem dank mit auf ihren weg.

stadtwanderer

emotionen in der politik: von enthusiamus, angst und wut

es muss anfangs der 90er jahre gewesen sein, als ich vom wiener magistrat eingeladen war, über möglichkeiten der bürgerInnen-beteiligung in der stadtplanung nachzudenken. erwogen wurde damals, direkte demokratie im der hauptstadt auszubauen. ohne erfolg zog ich mich damals zurück, und kehrte heute an den ort des geschehens zurück.

Emotion-Masks-760100das experiment scheiterte schon in den ansätzen. eine vorbereitende akadamische tagung verlief animiert-artig. die anschliessende öffentiche tagung war dann ebenso animiert, aber gänzlich unartig. sie geriet zur eigentliche behördenbeschimpfung, bei der die junge moderatorin ohnmächtig wurde, und es mir als podiumsmitglied erst nach etwa einer stunden heftigem streit, die minimale spielregeln in der auseinandersetzung zwischen dem roten stadtrat und den protestierenden zu sorgen.

als ich lass, dass heute in wien über emotions in politics and campaigning debattiert werde, entschloss ich mich kurzerhand, nach wien zu reisen. vielleicht würde ich jemand eine erklärung geben können, was damals den vulkan zum explodieren brachte.

eine erste interessante annäherung bracht susanne glass, politologin aus deutschland, die als ard-korrespondentin aus wien berichtet. sie glaubt, dass der umgang mit emotionen in der politik gerade in kleinen gesellschaften schwierig ist. sie zeigte bilder, als bundespräsident klestil die erste schwarz-blaue regierung vereidigt. die entaffektierung des staatsaktes war perfekt. dafür lebten die emotionen in kärtnen auf, von wo jörg haider aus die österreichische politik aus der opposition heraus aufputschte, bis er an seinen eigenen emotionen zerbrach. journalistin glass zeigte sich selbstkritisch aufzuzeigen, dass gerade in der auslandberichterstattung der bewegten medien emotionen eine zentrale rolle zukommt. brechen sie aus, lassen sie sich gut vermitteln, wenn sie vorurteile gegenüber dem fremden bestätigen. und sie fördern vor allem die vermittlung der rechten oppositionellen.

nicht alle beiträge am heutigen tag waren so selbstkritisch. einige der redner an der konferenz europäischer politberater verwechselten ihren auftritt mit dem vor einem parteitag, warben mit eindringlichen bilder und drastischer sprache für ihre sache.

den erhellendsten beitrag in der sache lieferte ted brader, politologe an der renommierten michigan university. drei emotionen interessierten besonders: den enthusiamus, die angst und die wut. enthusiasmus entstehe, wenn es gut gehe. sei dies nicht der fall, entstünden angst oder wut. ersteres weckt zwar kurzfristig die aufmerksamkeit, wirkt sich aber eher apathisch, denn mobilisierend aus. letzteres kennt umgekehrte vorzeichen, denn die wut sei es, welche parteiisch kriegerbürgerInnen forme.

und so erinnere ich mach an die veranstaltung aus den 90er jahren zurück. denn hier kam ein früheres zeichen der wut, die es gegenüber der politik, ihren repräsentantInnen und institutionen gibt, zum vorschein. dafür fürchtete man sich unter den etablierten politikerInnen damals noch, weshalb man auch gegenüber jeder form der direkten demokratie skpetisch war. heute weiss man in wien wie in österreich, dass sie sich die wut nicht einfach negieren lässt. und wird sie bewusst unterdrückt, mobilisiert sie erst recht politischen potenziale von ungeahnter kraft.

stadtwanderer

stadterweiterungen – dorferweiterungen: andermatts neubau im spiegel desjenigen von bern

1255 erweiterte man die stadt bern ein erstes mal gründlich. gleiches geschieht seit heute in andermatt. mit welchen risiken, und mit welchen chancen? ein kleiner vergleich.

masterplan-1-H
alt-andermatt rechts – neu-andermatt links: das dorferweiterungsprojekt samih sawiris im urserntal

gestern noch fuhr ich durch andermatt. alles schien ruhig. doch heute ist alles anders. denn es wird mit dem grossbauprojekt des ägyptischen investors samih sawiris begonnen. neben alt-andermatt mit 1300 einwohnerInnen soll ein alpen-ressort als neu-andermatt entstehen – mit doppelt so vielen bewohnerInnen.

die enorme dorferweiterung im urserntal tönt ein wenig wie die stadterweiterung in bern, als aus der zähringischen gründungsstadt von 1191 zwischen aare und zytgloggen um 1255 ein savoyisches herrschaftszentrum wurde – mit doppelt soviel einwohnerInnen und einem stadtbann, das jetzt bis zum käfigturm reichte.

in andermatt treiben die bisherigen wirtschaftskräfte die dorfentwicklung nicht mehr an. die schweizer armee hat den ort nach 130 jahren verlassen. und dieses gibt es erstmals keine viehschau mehr. das sind untrügerische zeichen, dass die bauern&soldaten-schweiz selbst an ihren ursprünglichen orten zu absterbenden mythos wird.

die anstehenden veränderungen werden gegensätze zwischen den generationen mit sich bringen: namentlich die alteingesessenen fürchten um andermatts identität, könnte der ort doch zur mittelstation des glacier expresses verkommen, wenn die reichen zwischen st. moritz und zermatt pendeln. und auch bei den natürschützern mehren sich die bedenken, dass die wichtigste ressource der gegend, die naturm einen kahlschlag erleben könnte.

die jüngeren menschen haben sich schon länger aus der reduit-schweiz verabschiedet. gemeinsam mit sportlegende bernhard russi sehen sie in der dorferweiterung mehr chancen als risiken. sie hoffen auf eine zukunft vor ort, nicht nur im altersheim, sondern in unternehmen, in denen man in den jahren vor der pensionierung aktiv sein kann. die stimmung unter ihnen ist gut, ja, ein wenig goldgräber-mentalität entwickelt sich im urnerland.

der rückblick auf bern lässt erkennen, dass stadterweiterungen viel liebgewordenes verändern. nebst der leutkirche des deutschordens traten klöster mit südlichen regeln. und anstelle der informellen politischen entscheidungen braucht es nun eine stadtregierung und einer stadtparlament. doch erst alle dies liess aus dem dörflichen bern ein städtisches gemeinwesen entstehen, dem der deutsche könig seinen jahrhunderte lange gültigen schliff verlieh: denn nur ein prosperierenden urbanes zentrum kann im ruralen umland aufgaben der verwaltung übernehmen.

was aus andermatt wird, weiss wohl niemand so genau. sicher ist aber, dass die veränderungen rascher gehen werden als seinerzeit in bern. und dennoch kann man die dorferweiterung im obesten teil des kantons uri als biotop verstehen, das züge zeigen wird, wie sie sich an vielen andern orten auch ergeben, wo man wirtschaftlichen und gesellschaftlichen grossbauten realisiert(e).

eines hat man in vielen dieser projekte nicht gemacht, das jetzt in andermatt initiiert wird: ein monitoring der bevölkerungsmeinungen zum ganzen geschehen, das als frühwarnsystem dienen soll, um tiefgreifende konflikte rechtzeitig zu ersehen und ihnen damit auch bald möglichst begegnen zu können.

ich bin gespannt, wie sich die dorferweiterung in andermatt anlässt und entwickeln wird – und was wir aus dem innenleben alles erfahren werden.

stadtwanderer

consilium abeundi

ich halte einen vortrag im kloster disentis – über direkte demokratie, ihren ursprung in der schweiz, den export in die ganze welt, und den versuch, so die volksmeinungen verstehen zu lernen. unweigerlich landen wir dabei beim ehemaligen disentiser klosterschüler filippo leutenegger.

kultur_kloster_disentis

pater urban empfängt mich mit einer leichten verneigung an der pforte des klosters disentis. vor dem vortrag im peter-kaiser-saal bin ich zu einem feierlichen abendessen mit salaten und fischen geladen. schon bevor alle geladenen da sind, gibt es bei einem leichten rosé diskussionen – über volksabstimmungen, minarett-initiative und umfragen.

es sei ein disentiser klosterschüler gewesen, der mich bewegt habe, umfragen vor abstimmungen für das schweizr fernsehen durchzuführen, entgegne ich. sofort ist allen klar, um wenn es geht: filippo leutenegger ist im kloster disentis ein umstrittener, aber bewundeter star.

das consilium abeuni sei über leutenegger verhängt worden, meint pater pirmin. das bedeutet soviel wie “rat zur wegweisung” erinnere ich mich aus meiner gymnasiumszeit. es ist mehr als die ehrenrunde, aber weniger als die definive abweisung. das weiss auch pater pirmin: man habe ein exempel statuieren müssen, gegen die leutenegger. denn er habe sich an keine regel halten wollen, und in einem der strengen benediktinerklöster gehe das einfach nicht. doch habe man ihm den berufsweg nicht ganz verhindert wollen, fügt er bei.

damals, sagt der ostschweizer physiklehrer im schwarzen gewand, hätten sich die rektoren der katholischen internate regelmässig getroffen und über den verblieb der problemfälle gesprochen. bei filippo habe man sich darauf geeingt, dass er in altdorf abschliessen könne, was dann auch geschah.

nach dem vortrag werde ich am späten abend an der pforte, an der ich am vorabend eingetreten war, wieder entlassen. ein consilium abeuni habe ich nicht zu befürchten. das zeigte mir schon der herzliche applaus des publikums, aber auch reichliche wein, den die patres danach ausschenkten. ich kann bleiben, in disentis und bei der srg …

doch regnet es zwischenzeitlich heftig, sodass wir keinen trockenen weg zurück ins hotel vor uns haben. ein einheimischer aus der späten vortragsrunde bietet sich an, uns ins hotel rhätia zu chauffieren, und wir nehmen das angebot dankend an. sofort ist das gespräch wieder beim kloster. unser wegbegleiter gesteht: seine pubertät habe er im kloster verbracht, das präge. und so sei er in disentis geblieben. filippo konnte man einfach nicht prägen, zu widerspenstig sei der mitschüler damals gewesen, fügte er ungefragt an. deshalb habe er auch gehen müssen.

doch kehrt der ehemalige chefredaktor der schweizer fernsehens und heutige medienunternehmer wenigstens symbolisch immer wieder nach distentis zurück. denn als wir am folgenden tag wieder vor der pforte stehen, um einer exlusiven klosterführung beizuwohnen, erklärt uns pater urban unumwunden: geschichte habe er seinen schülerInnen eben unterrichtet. der absolutismus in der geschichte sei das thema gewesen. über stalin, mao, hitler habe er das interesse der eleven zu packen versucht. und dazu habe man gemeinsam diskutiert, was diktaturen und absolutisten gemeinsam hätten – in form einer arena, mit pro und contra, die unter leitung eines modertoren-schülers aufeinander geprallt seien.

arena-begründer filippo hätte seine helle freude an der späten anerkennung gehabt.

stadtwanderer