Pandemie City- eine Stadtwanderung im Werden

Ich habe das schöne Wetter heute genutzt, mich örtlich und gedanklich mit meiner neuen Stadtwanderung zum CoronaRegime in der Schweiz zu vertiefen. Ein erster Faden durch Ereignisse, Orte und Geschichtem liegt nun vor.

Im Moment plane ich eine Stadtwanderung mit 10 Stationen:

1. Der Käfigturm: Übersicht über ein Jahr im Zeichen der Pandemie
2. Das EDI/BAG: die umstrittene Zentrale der Krisenbewältigung
3. Der Balkon zum Bundesratszimmer: Epidemiengesetz und die Macht des Bundesrats
4. Das Medienmedienzentrum: Wo jeden Tag schlechte Meldung kommentiert werden müssen
5. Die schwedische Botschaft: Der große Modellstreit beginnt
6. Der ETH-Rat, Büro Bern: Wissenschaft berät, kritisiert, wird kritisiert und beraten
7. Das EFD: Die finanzielle n Kosten der Pandemiebewältigung sind enorm unübersichtlich
8. Economiesuisse, Büro Bern: Lobbying für das große Ganze und für die kleinsten Details
9. Das Parlament: der große Abwesende erwacht – viel zu spät
10. Wo Referendumsunterschriften eingereicht werden: Die Abrechnung zum Covid19-Gesetz am 13. Juni 2021

Noch nicht eindeutig ist, wie ich die Kantone unterbringe. Allenfalls vor dem Ständerat in der Station 9 oder als 11. Station vor dem Haus der Kantone.

Ich beginne schon mal, Dokumente zu sammeln. Gerne berücksichtige ich auch Vorschläge aus der Runde!

Stadtwanderer

Mein Corona Update

Heute hat der Bundesrat als ein Teil von Vielem und Wichtigem entschieden, Zusammenkünfte im öffentlichen Bereich bis 15 Personen wieder zuzulassen. Das ermöglicht es mir, wieder Stadtwanderungen in kleinen Gruppem durchzuführen – selbstverständlich unter Einhaltung aller Sicherheitsvorschriften!

Ich denke, das Bedürfnis ist groß genug, über das in den letzten 12 Monaten erlebte (Nicht)Funktionieren des Staates leichtfüßig, aber nicht leichtfertig nachzudenken.

Die neue Wanderung soll in Anlehnung an die hier kürzlich publizierte virtuellen Lobbying-Tour, aber zugespitzter auf die Covid19-Zeit Ende März 2021 beginnen. Der vorläufige Arbeitstitel:

„Corona-Update. Politik im Zeitalter der Pandemie“.

Meine ersten 10 Stichworte dazu sind:
. Öffentlichkeit im Stress: Begegnungen, Versammlungen und Massenmedien der digitalen Art
. Ausserordentliche und besondere Lagen: was das Epidemiengesetz mit sich bringt
. Ein gestärkter Bundesrat und ein geschwächtes Parlament
. Das BAG zählt die Opfer, das EFD die Kosten
. Wissenschaftliche Politikberatung dank oder wegen der Pandemie
. Revival des Korporatismus: mächtige Verbände als Lobbyisten
. Der Bern Bär erwacht: Kantone müssen lernen aktiv zu werden
. Parteien zwischen Regierungsstütze und Fundamentalopposition
. Misstrauen, Internet und außerparlamentarische Opposition
. Was folgt aus allem für die Demokratie?

Gerne nehme ich Hinweise für interessante Begebenheiten und Orte dem Kreis der meiner geschätztem LeserInnen auf.

Los geht’s !

13. Station: Im Nirgendwo des Regierungsviertels

Nun stehen wir im Nirgendswo des Regierungsviertels. Es geht nicht mehr um Konkretes, das wir sehen, sondern um das Abstrakte, was bleiben soll. Ziehen wir Bilanz!


Die generelle These
Meine generelle These war, dass sich die Art und Weise wie in Bundesbern Politik gemacht wird fundamental ändert. Man kann von einem Prozess des Übergangs vom Milizsystem zur professionellen Politikformulierung sprechen. Viele Strukturen sind noch ganz geprägt von der Idee, dass die BürgerInnen direkt Politik machen. Das Lobbying jedoch ist ein ausgesprochen typischer Teil der Politik durch Profis.
Man sieht das an Veränderungen…
. der dauerhaften Verhandlungen zwischen Regierung und Verbänden (Wiederbelegung des Neokorporatismus in der Krise),
. der Ansprache von ParlamentarierInnen (direkter Draht zu InteressenvertreterInnen),
. der Public Relations, namentlich in Abstimmungskämpfen (datengetriebene Kommunikation), und
. ganz generell in der Öffentlichkeitsarbeit zur politischen Steuerung (Kommunikationsmanagement).

Typische Veränderungen
Die Lobby-Organisationen in Bundesbern haben sich im letzten Vierteljahrhundert stark ausdifferenziert. Sie haben ihre Arbeit generell verstärkt. Und sie sind damit zunehmend erfolgreich. Trendssetter waren Economiesuisse, Umwelt- und KonsumentInnen-Organisationen.
Neu aufgekommen sind in der helvetischen Bundespolitik vor allem Kommunikationsagenturen, die Lobbying, Campaigning und Medienarbeit kombiniert anbieten und betreiben. Wer das kann, hat einen Vorsprung. Wer nicht, droht marginalisiert zu werden.
Auch die Parteien sind daran, sich zu verändern. Ein Teil von ihnen setzt sich nicht mehr bloss für materielle Interessen ein; vielmehr lobbyiert man vermehrt für ideele Werte und Ziele. Das Aufkommen von Menschrechtsfragen ist dafür typisch.
In Bewegung geraten sind schliesslich auch Institutionen wie die Kantone. Reorganisationen des Bundesstaates und der damit verstärkte finanzielle Druck auf die mittlere Ebene wirken neu via Kantonskonferenzen koordiniert auf Bundesinstanzen ein.

Auf dem Weg zur Regelung des Lobbyings
Erkenntnisleitend für unsere Wanderung war die These der politikwissenschaftlichen Forschung, dass das Lobbying zu einer liberalen Demokratie passt, hierzulande aber vielfach unbewusst stattfinde, intransparent sei und beschränkt werden müsse, um systemverträglich zu sein. Zentrales Thema war deshalb die Regulierung. Was ist dabei herausgekommen?
Erstens, weitgehend geregelt erscheint mir heute das Lobbying via Vernehmlassungen zu Entwürfen des Bundesrats an das Parlament. Der Zugang ist gesetzlich bestimmt, und die Transparenz ist neuerdings gewährleistet. Dennoch haben sich Verwaltung und Regierung einen Handlungsspielraum bewahrt, um abgeleitet aus den Ansprüchen eine eigene Politik formulieren zu können.
Zweitens, noch nicht so weit ist man in Bezug auf Regelungen von Wahl- und Abstimmungskämpfen. Geldflüsse bleiben aber weitgehend intransparent. Geregelter ist dafür, was der Staat und seine Unternehmen dürfen und was nicht. Aktuell geht es um Organisationen wie die Kirche und Hilfswerke.
Drittens, weitgehend ungeregelt verläuft das Lobbying im Parlamentsbereich. Letztlich besteht nur die Vorgabe der beiden Badges für Parlamentsmitglieder. Der Übergang zu einem Akkreditierungssystem wie beispielsweise in der EU ist bis jetzt stets am Widerstand des Parlaments selber gescheitert.
Ich denke, da bleibt noch ein erhebliches Feld an politischer Reflexion, was wirklich gut und schlecht ist.

Die Bewertung von Transparency International in meinem Spiegel
Transparency International gab in ihrem jüngsten Bericht vier Bewertungen ab:
. Das Lobbying in der Schweiz ist vergleichsweise offen.
. Die LobbyistInnen ist mittelmässig integer.
. Das Lobbying in der Schweiz ist weitgehend intransparent.
. Daraus resultierte eine mittlere Gesamtnote im Vergleich aller OECD-Staaten. Besser schneiden beispielsweise die EU-Institutionen ab, aber auch Grossbritannien und neue Demokratien in Osteuropa lassen die Schweiz hinter sich zurück.
Am wenigsten einverstanden damit bin ich in Bezug auf Punkt drei: Die Transparenz im legislativen Lobbying in der Schweiz ist meines Erachtens höher als angegeben. Während durch Gesetze wenig reguliert wird, übernimmt hier die medial hergestellte Öffentlichkeit eine zentrale Rolle zur Garantie einer gewissen Transparenz. Richtig bleibt der Befund zum Bundesrat. Allen Indiskretionen zum Trotz bleibt da vieles im Dunkeln. Begründet wird dies, in der Konkordanzdemokratie Kompromisse schliessen zu können.

Strukturprobleme verschärft, nicht gelöst
Hat es auch seine Handlungsfähigkeit des politischen Systems verbessert? Der Rundgang zeigte, dass der Neokorporatismus im Umfeld des Bundesrats weiter funktioniert, im Parlamentsumfeld aber pluralistisch erweitert wurde. Das Lobbying stärkt das Gemeinwohl nicht, aber die Partikularinteressen. Durchwursteln wird das bisweilen apostrophiert.
Adrian Vatter bezeichnet genau das als eines der drei Strukturprobleme des Bundesrats im Herzen des Regierungssystems. Die Ansprüche sind auch wegen des Lobbyings steigend. Die Handlungsmöglichkeiten des liberal geprägten Staates bleiben jedoch beschränkt.
Mit einem Bild: Die Schweiz gleicht keinem Tanker im Meer, eher einem Boot im Wind. Das hält das Land flexibel. Bei Sturm droht es zu versagen. Aktuell sieht man das an Dossiers wie der Sozialpolitik, der Europa-Frage und des Corona-Regimes. E ist nicht auszuschliessen, dass daraus neue Protestbewegungen entstehen.
Das wurde mir 2020 bewusster denn je. Meine im letzten Februar konzipierte Stadtwanderung musste innert Jahresfrist mehrfach umarbeiten. Und jetzt auch die neue Premiere am Jahreskongress der Schweizerischen Vereinigung für Politische Wissenschaft COVIS19 zum Opfer gefallen.

Kein weiter …
Ich bin fertig!

12. Station: furrerhugi – der Schlüssel zu Bundesbern

Wir stehen hier im Loeb-Viertel. Das besteht aus einem Warenhaus und einer Kommunikationsagentur. Beide sind in Bern eigentliche Qualitäts-Marken.

Bekannt wurde “Loeb” durch François Loeb, Spross derjenigen jüdischen Unternehmerfamilie, die 1881 an der Spitalgasse ein kleines Textilgeschäft eröffnet hatte. Er war nicht nur als Berner Unternehmer legendär. Auch als freisinniger Politiker im Nationalrat war er hoch angesehen. Unvergessen ist sein Engagment für den EWR-Beitritt
Heute führt Nicole Loeb das Unternehmen in der fünften Generation. Sie ist die Partnerin von Lorenz Furrer. Der wiederum ist mit Andreas Hugi Eigentümer der Agentur “furrerhugi”. Entsprechend sind sich Kaufhaus und Agentur direkte Nachbaren.
Furrer und Hugi repräsentieren die beiden Hintergründe der Entstehung, die europäische Integration und die Informatik. Sie sind auch einen eine Brücke zwischen Bern und Zürich. Zusammengebracht haben soll sie Ruedi Noser, dem heutigen Ständerat aus Zürich in der Bundesstadt. Das prägt bis heute den «Stallgeruch».

Lobbying als Teil des Public Affairs Managements
Im Firmenporträt steht, die inhabergeführte Kommunikationsagentur vernetze Menschen mit eigenen Ideen an der Schnittstelle von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Bezogen auf das Lobbying tönt das so: «Lobbying ist in unserem Verständnis ein Teil eines umfassenden Public Affairs Managements: Es geht dabei um den gezielten Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess in direkten Kontakten zu Politikerinnen und Politikern, Vertreterinnen und Vertretern der Verwaltung und bisweilen auch Regierungsmitgliedern» (furrerhugi 2021).
Dargestellt wird die Einflussnahme der Firma anhand des hauseigenen LobbyWheel:
Phase 1: Konzeption mit Zieldefinition und Strategiewahl
Phase 2: Stand-By Lobbying mit Issue- und Stakeholder-Monitoring sowie Stakeholder Management
Phase 3: Operatives Lobbying mit konkreten Projekten zu Entscheidungen und
Phase 4: Evaluation der Zielerreichung

Poll-JournalistInnen zur Vernetzung mit den Massenmedien
Das hat man zwischenzeitlich x-fach anwenden können. Es hat das Unternehmen zum interessanten Geschäftspartner für viel Akteure gemacht. Speziell ist die Agentur auch, weil es eine ganze Abteilung mit ehemaligen JournalistInnen beschäftigt, die für den direkten Zugang zu Massenmedien eingesetzt werden.
Insgesamt arbeiten rund 50 Personen in der Agentur mit Niederlassungen in Bern, Zürich, Genf, Freiburg und Lugano. Umgesetzt werden Mandate für 10 Millionen CHF jährlich. Damit platziert man sich an zweiter Stelle der Branche, gleich hinter Farner Consulting AG.
Die öffentlich zugängliche Kundenliste von furrerhugi. ist beachtlich. Sie umfasst knapp 100 Institutionen und Akteure. Dazu zählen staatliche Stellen beispielsweise der Kantons Zürich, wichtige Verbände wie die economiesuisse, die FMH, curafutura, Unternehmen von der SRG bis Glencore, aber auch lokale Institutionen wie die Hauptstadtregion Schweiz. Betreut werden auch parlamentarische Gruppen wie jene für Philanthropie.

Trendsetter beim Netzwerk in die Wissenschaft
Gelernt hat man bei Furrerhugi. namentlich aus der Abstimmung zur Masseneinwanderung. Da erkannte die Mobilisierung der Wissenschaft als relevanten Faktoren, um Entscheidungen beeinflussen zu können. Seither hat man Netzwerke aufgebaut, die bewusst Staat, Unternehmen und Universitäten verknüpfen. Damit ist man Konkurrenten voraus.
Beim Nein zur Durchsetzungsinitiative hat sich das gelohnt. Denn hier traten WissenschafterInnen prominent gegen das SVP-Begehren auf. Heute ist das fast schon üblich geworden wie die anstehende Abstimmung über das CO2-Gesetz aufzeigt.

Starkes Engagement gegen die Konzernverantwortungsinitiative
Wie das Kommunikationshandwerk funktioniert, konnte man auch bei der Konzernverantwortungsinitiative sehen. furrerhugi. gehörte zu den führenden Agenturen, die von der economiesuisse mandatiert die Nein-Seite vertraten.
Zentrale Botschaften waren die Bürokratie beim Vollzug oder konkrete Nachteile für die Schweiz. Hinzu kam die Kritik an der Kampagne der BefürworterInnen. Vom aggressiven «negative campaigning» aus SVP-nahen Kreisen gegen das Volksbegehren distanzierte man sich allerdings öffentlich.
Organisiert haben soll furrerhugi. das prominente Engagement der grünliberalen Nationalrätin Isabelle Chevalley im Abstimmungskampf. Obwohl die damalige Vizepräsidentin damit gegen ihre eigene Partei antrat. Doch es passt, um einer neuen Leseweise von Entwicklungshilfe zum Durchbruch zu verhelfen.
Der Abstimmungsausgang war knapp, sehr knapp! Das weiss auch di Agentur. Man habe von Anfang damit gerechnet und gezielt auf das Ständemehr gesetzt, sagte Lorenz Furrer verschiedenen Tageszeitung. Es gab eine hauseigene Untersuchung aller Gemeinden mit ihrem Potenzial für und gegen die Vorlage. Entsprechend gestaltete man die lokale Medien- und Werbeplanung.
Es hat sich ausbezahlt: Dafür stimmten 51%, aber nur 8½ Kantone. Das reichte nicht für die Annahme.

Clé de Berne – Schlüssel zu Bundesbern
Das Engagement gegen die KVI hat der Agentur einiges an Kritik eingebracht. Insbesondere ein Video der Initiantinnen verbreitete heftige Anwürfe. Das machte die Leitung und die Mitarbeitenden schwer betroffen.
Neu ist das nicht. Maurice Thiriet, Chef beim online-Magazin «Watson» bezeichnete furrerhugi. schon mal als «Agentur fürs Grobe». Sich selber versteht man sich eher als Ring von «smart boys» (und «smart girls!»).
Dazu trägt auch das hausinterne Restaurant “Clé de Berne” mit Clubatmosphäre bei, wie der Treffpunkt für KundInnen und solche, die es werden möchten, heisst.
Weniger gelassen reagierte ein Teil des Nein-Komitees. Es kritisierten namentlich die Verwendung von staatlichen Zuschüssen an Hilfswerke für die Kampagne. Das EDA hat das nach der Abstimmung neu geregelt.

Und weiter …
Nicht wirklich geregelt bleiben die Finanzen in Wahl- und Abstimmungskämpfen. Das hat mit der mangelnden Transparenz in der Schweiz zu tun.
Auf zu meiner Bilanz der Stadtwanderung irgendwo im Regierungsviertel!

11. Station: Aussichten vom Dach des Dachverbands economiesuisse

Auf dem Dach dieses Hauses hat man einen schönen Ueberblick über die Stadt Bern und ihr Regierungsviertel. Schöner noch als wie ihn bei der Miniature hatte. Nur gehört er hier ganz economiesuisse, dem Dachverband der Schweizer Wirtschaft. Im Dachstock hat sie ihre Berner Dependence.

Steuern wie Steuerrad und Staatsabgaben
Der Steuermann ist im Griechischen ist der Kybernos. Von ihm leitet sich die Kybernetik als Lehre der Regelung von Maschinen ab. Das übertrug man im 20. Jahrhundert die Biologie, Psychologie und die Sozialwissenschaften. Da ist sie die Kunst des Steuerns – mit den Mitteln der Macht, des Geldes und der Kommunikation.
Es ist ein wenig wie es David Easton viele von uns lehrte. Er war einer der einflussreichsten Politikwissenschafter in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Staat sei eine Black-Box, schrieb er. Man steurt sie mit relevanten Inputs, um den gewünschten Output zu erhalten. Dazu kam der «throughput», die Funktionsweise der Black-Box.
Genau das hat economiesuisse früh begriffen. Und der Dachverband hat genau das vielen anderen Lobbyorganisationen voraus. Man schaut an der Zürcher Hegibachstrasse von aussen auf Bundesbern, kennt es aber dank dem Beobachtungsposten in diesem Haus auch von innen her bestens.

Die Organisation des Dachverbands
Economiesuisse trat früher als «Vorort» der Schweizer Wirtschaft auf. Das war der Vertreter des liberalen Korporatismus. Dann kam in den 1980er Jahren die die zeitgenössische Globalisierung. Sie verlangte von Firmen und Verbänden eine Anpassung an das veränderte Umfeld. Das Nein zum EWR wirkte wie ein Bruch. Seither heisst die neuformierte Organisation «economiesuisse».
An der Spitze stehen heute Christoph Mäder, ein Jurist mit vielfältigen Beziehungen in die Privatwirtschaft, und Monika Rühl, eine Spitzendiplomatin. Sie war persönliche Mitarbeiterin eines Bundesrats und Generalsekretärin im WBF, bevor sie Direktorin der economiesuisse wurde.
Zentrale Tätigkeitsgebiete der führenden Lobbyorganisation sind die Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie die Infrastruktur- resp. Wettbewerbspolitik. So jedenfalls will es das Organigramm.
In der Tat steht die Steuerpolitik aus zwei Gründen zuoberst: Erstens erlauben es tiefe Steuern Unternehmen und Konsumenten, mehr zu investieren resp. zu konsumieren. Und zweitens regelt die Gesamthöhe der Steuern, wie viel dem Staat an Mitteln zur Verfügung steht.
Vorzeigeobjekt des Dachverbands ist die Schuldenbremse. Deren Einführung hat man zu Beginn des 21. Jahrhunderts eng begleitet hat. Grundidee war und ist, dass der Staat nicht mehr ausgeben als einnehmen darf. Das muss nicht jedes Jahr so sein, aber innerhalb eines Konjunkturzyklus. Es hat gewirkt: Die Schweiz funktioniert in vielem nach dem Prinzip des schlanken Staates und die Schulden haben sich verringert.

Drei Stärken von economiesuisse
Meines Erachtens gibt es drei Gründe für die Erfolgsgeschichte der economiesuisse:
Die erste Stärke betrifft die Organisation selbst. Nach eigenen Angaben vertritt man 100’000 Firmen und 2 Millionen ArbeitnehmerInnen. Als Verband ist man zwar in Zürich zentralistisch organisiert, hat aber Ableger in Bern, Genf und Lugano. Zudem verfügt economiesuisse über Geschäftsstellen in allen Kantonen. Meist sind es lokale Handelskammern, Gewerbeverbände oder FDP-Sekretariate.
Die zweite Stärke besteht in der Kombination des Lobbyings mit dem Campaigning. Geht es um Fragen des Wirtschaftsstandortes Schweiz, ist die Organisation permanent aktiv. Verstärkt wird dies durch Kampagnen bei Volksabstimmungen, die aus Wirtschaftssicht interessieren.
Die dritte Stärke entstand erst in letzten 30 Jahren. Nach dem Nein zum EWR 1992 wagte man sich vermehrt in die Öffentlichkeit. Der Verband entwickelte sich zur Kommunikationsdrehscheibe im Vordergrund, wirkt aber in der der Wissenschaft und in Kampagnen weiterhin auch im Hintergrund.
Letztlich ist die Kombination aus Macht, Geld und Kommunikation für die Einflussnahme entscheidet.

Probleme des Neokorporatismus
Doch auch hochprofessionalisierte Politunternehmen wie die economiesuisse kämpfen bisweilen mit Problemen in der schwer berechenbaren direkten Demokratie. In der Europapolitik gibt es eine dauerhafte und heftige Opposition von rechts. Und in Steuerfragen wird man von links angegriffen. Das hat damit zu tun, dass die Vorstellungen der sinnvollen Globalisierung anzugehen ist, voneinander abweichen.
Neuerdings gibt es auch eine Konkurrenz zwischen der economiesuisse und dem Gewerbeverband, die tendenziell einen anderen Teil der Wirtschaft und damit divergierende Interessen vertreten. Gleiches gilt für die Schnittlinie zu swisscleantech.
Eigentlicher Einschnitt war der Fall der Swissair in den 1990ern. Unser Fluggesellschaft stürzte mit der Hyperglobalisierung ab..
In der Folge lancierte der Schaffhauser Unternehmer Thomas Minder die Abzocker-Initiative, die sich gegen die exorbitant hohen Gehälter der Schweizer Managerelite wandte. In der Volksabstimmung von 2013 ging sie glatt durch, was die economiesuisse in eine ungewohnte Verliererposition versetzte. Der zweite Einschnitt war die SVP-Initiative gegen die Masseneinwanderung. Auch sie ging zugunsten der Opposition aus.

Ungeahnte Kräfte der Hyperglobalisierung
Heute versucht man bei economiesuisse die zentralen Ziele im Auge zu behalten, aber Angriffsflächen zu beschränken. Kurzfristig setzt man sich für die CO2-Steuer ein. Darüber hinaus geht es namentlich um den Rahmenvertrag. Beides ist nicht umstritten. Bei der Energiewende sind die politischen Entscheidungen schon weitgehend gefallen; da geht es noch um die Umsetzung. Anderes bei InstA. Da zögert der Bundesrat aufgrund des Veto aus Gewerkschaften und Gewerbeverband. Alleine vorangehen und den Winkelried spielen mag man dann doch nicht.
Das hat auch die Partners Group aus Baar im Kanton Zug gemerkt. Um sie herum gruppiert sich gegenwärtig die Europa-Gegner der Post-Brexit-Aera. Ihr Slogan: «What ever it takes!». Was immer es koste, heisst das auf Gut-Deutsch. Es meint, dass sich heute eine neue Form der plutokratischen Herrschaft aus Big-Business, Geld und PR formiert. Selbst für economiesuisse eine Herausforderung!

Und weiter …
Im Kampf für eine offene Europa-Politik bleibt economiesuisse das Rückgrat. Die Rippen, die den Körper stützen sollen, sind aber vielfältig. Darunter gehören verschiedene PR-Agenturen.
Weiter!

10. Station: Digitslisiertes Lobbying und Campaigning bei den Grünen

Wir stehen vor dem Generalsekretariat der Grünen Schweiz. Es arbeitet im «Haus zum alten Zeughaus». Hier hölt man den alten militärisch-industriellen Komplex von innen her aus. Dafür stösst man in die digitale Politsphäre vor.


99 Luftballons als Anfang
Der Bundesplatz stellt das politische Machtzentrum der Schweiz dar. Er ist zu meiner Linken. Rechts von mir ist der Waisenhausplatzplatz, der Ort der Armen im Ancien Régime. Dazwischen ist der langgezogene Bärenplatz. Da fanden in den 1980er Jahren verschiedene Manifestationen der Friedensbewegung statt. Mann und Frau waren für die Abrüstung, denn sie fürchteten die atomare Eskalation zwischen den USA und der UdSSR.
Gesungen und getanzt wurde damals zu Liedern wie «99 Luftballons» der deutschen Popsängerin Nena. Mit dem Geld, das sie damit machte, gründete sie die Neue Schule Hamburg, ein Haus zur Förderung der Demokratie, und sie praktizierte als Pionierin den veganen Lebensstil.

Die Wahlsiegerin 2019
Nach der Wahlniederlage 2015 erinnerte die Präsidentin Regula Rytz ihre Partei an den Ursprung. Man müsse den Kampf wieder auf die öffentlichen Plätze bringen, um als erneuerte Bewegungspartei wieder gewinnen zu lernen, folgerte sie.
Und siehe da: Die Klimawahl machte die GPS zur großen Siegerin. Sie steigerte ihren Wählenden-Aanteil auf 13.2% und errang 28 Nationalrats- und fünf Ständeratsmandate – ein historisches Ergebnis. Bei der Wählendenstärke ist die GPS neu die Nummer vier, bei den Sitzen unverändert die Nummer fünf.
Doch der anschließende Angriff auf die Zauberformel bei den Bundesratswahlen 2019 scheiterte. Regula Rytz wurde nicht erste grüne Bundesrätin. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, kommentierte ihr Nachfolger als Parteipräsident Balthasar Glättli. Man schaut gespannt, was noch kommt.
Die «NZZ am Sonntag» analysierte das Dilemma der Grünen jüngst so: «Glättli blickt seit einiger Zeit gebannt auf den Klimastreik und die Klimabewegung, weil er weiss, dass er sie enttäuschen muss, wenn er Erfolge im Parlament erreichen will – dass er aber von ihrer Bewegung abhängig ist.».

Politische Kommunikation der nächsten Generation
Weniger beachtet, haben die Grünen im Wahljahr pickelhart an ihrer Kommunikationsfähigkeit mit eigenen Medien gearbeitet. Wo es geht, kommunizieren sie direkt mit ihren Zielgruppen in Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft. Social Media bestimmen das Geschehen der Grünen mehr als das der Konkurrenz.
Das haben die Grünen zuerst in der Stadt, dann im Kanton Zürich. Schliesslich eroberte das erfolgreiche Komm-Team die Bundesebene. Seit den Wahlen profilieren die Grünen auf diese Weise nicht nur sich, sondern auch ihre Parlamentsdelegation und ihre Jungpartei augenfällig.
Im Umfeld der Grünen entstand mit der Konzernverantwortungs-Initiative auch die Plattform „WeCollect“, heute von der Stiftung für direkte Demokratie getragen. Geführt wird sie vom Campaigner Dani Graf. Sie will die Digitalisierung nutzen, um die BürgerInnen-Gesellschaft und damit die Demokratie zu stärken.
Dafür hat WeCollect ein neues und effizientes Konzept der Unterschriftensammlung via Internet entwickelt. Es wirkt als effektives Drohmittel einer außerparlamentarischen Opposition. Vielfach verbessert treten heute zahlreiche Gruppen aus der Zivilgesellschaft ausgesprochen selbstbewusst auf.
So war es auch WeCollect, welche die früher erwähnte Lockerung der Kriegsmaterialausfuhr mit einer angedrohten Volksinitiative von unten zum Stoppen brachte. Ihr bisheriges Paradestück hat die Plattform mit Referendum gegen die sog. Versicherungsspione abgeliefert. Ich selber nannte es das erste Twitter-Referendum, weil es im sozialen Medium unter anderem von der Schriftstellerin Sibylle Berg lanciert worden war. In der Volksabstimmung scheiterte die politische-mediale Oppositionsbewegung allerdings deutlich.

Zwischen CrowdLobbying und Aareschwimmen
Zu den Spezialitäten der Stiftung gehören das Crowdfunding und das Crowdlobbying. Ersteres funktioniert fast immer gut und bringt Geld in die Kassen linksgrüner Bewegungen. Zweiteres erlebte seine eigentliche Feuertaufe beim Stimmrechtsalter 16. Es sei eine Kombination von Campaigning und Lobbying, analysierte der Zürcher Politologie-Professor Fabrizio Gilardi jüngst in der SRF-Tagesschau.
Crowdlobbying wird eingesetzt, um Kommissionsmitglieder auf digitalem Weg anzusprechen, mit geeigneten Statements zu versorgen und durch eine symbolisierte Bewegung zu beeindrucken. Im Nationalrat wirkte es jedenfalls verstärkend. Bei der staatspolitischen Kommission des Ständerats wird dies vermutet.
Die Initiantin von Stimmrecht 16, die Grüne Sibel Arslan, erzählt, wie auch ihr Netzwerk zum Einsatz kam. Die Nationalrätin ist nämlich Präsidentin der Parlamentsgruppe «Friends of Aare Sunset Swimming», kurz FASS. Das ist eine Vereinigung vornehmlich älterer Parlamentarier bürgerlicher Herkunft, die während der Session mit Frau Arslan schwimmen gehen und danach noch politisch eingeseift werden. Das soll schon mal entscheidend gewesen sein, dass gewisse Volksvertreter im entscheidenden Moment nichts statt Nein drückten.
Arslans kompetenter Handlungsbevollmächtigter ist übrigens Philippe Kramer aus der Klimastreikbewegung. Er arbeitet aus dem Hintergrund für PublicBeta, dem Demokratie-Inkubator für die Zivilgesellschaft. Gerade 20 Jahre alt, kümmert es ihn nicht, Lobbyist genannt zu werden. Eine neue Generation Öffentlichkeitsarbeiter tritt auch da auf den Plan.

Und weiter …
Auch bei economiesuisse nennt man sich offen Lobbyist oder Lobbyistin. Obwohl die etablierte Generation ein ganz anderes Lobbyingverständnis hat und andere Ziele verfolgt. Let’s go and have a look!

9. Station: Kantone als Lobbyisten

Wir stehen von dem «Haus der Kantone». Hier treffen der horizontale und der vertikale Föderalismus zusammen. Da koordinieren sich die Kantone und sie lobbyieren beim Bund.

Viele Souveräne
Seit 1803 hat jeder Kanton eine eigene Verfassung. In den 1830er Jahren kamen Parlament, Regierung und Gericht hinzu. Das alles ist älter als auf der Bundesbene. Es stärkte das anhaltende Bewusstsein der Kantone, Souveräne zu sein.
Bei Verfassungsänderungen auf Bundesebene braucht es nicht nur das Volksmehr. Es ist auch eine Mehrheit der Stände nötig.
Und im Komplex des Bundesstaates ist unser «Oberhaus». der Ständerat, absolut gleichwertig wie das «Unterhaus», der Nationalrat. Das ist weltweit einmalig, wie Politologe Arend Lijphard uns alle lehrte.
Stärken und Schwächen des Föderalismus
Schon Napoleon Bonaparte erkannte das Wesen der Schweiz. Als er 1803 mit der Mediationsverfassung die Kantone schuf, sagte er: «La nature a fait votre Etat fédératif, vouloir la vaincre n’est pas d’un homme sage.»
In der Tat : Die Vielfalt der Regionen und Identitäten, welche die Schweiz ausmachen, finden dank dem Föderalismus Eingang in die Nation. Die Kantone sind auch ein Laboratorium für Experimente.
Doch sind da auch Nachteile. Fast unlösbar sind die Schwierigkeiten, wenn Sprachregionen, verstärkt durch ihre Kantone, unterschiedliche Wege gehen wollen. Dann ist vom «Röstigraben» die Rede – der bis heute problematischsten aller Konfliktlinie im Bundesstaat.

Konferenzen der Kantone
Ein Versuch der Abhilfe ist die Konferenz der Kantonsregierungen. Sie ist ein Kind der Krise nach der EWR-Abstimmung. Mit der KdK wollten sich die Kantonsregierungen vermehrt Gehör verschaffen. Dass ihr Haus heute in Bern steht, macht klar, an wen man sich wendet: den Bund! Ursprünglich war man nämlich in Solothurn, um sich dem Einfluss der Bundesverwaltung zu entziehen.
Doch das ist lange her! Seit 2008 ist man hier, weil man koordiniert auf die Exekutive Einfluss nehmen will.
Lobbyieren wollen heute nicht nur die kantonalen RegierungspräsidentInnen. Es tun dies auch die Konferenzen verschiedener Direktionen wie Justizdirektionen, der Gesundheitsdirektionen oder der Finanzdirektionen statt.
Vereinfacht wurde das föderalistische Geflecht damit nicht: «Kantone, Kantone, Kantone!», soll man in der Bundeskanzlei immer wieder hören. Doch wer repräsentiert sie? Ist es der Ständerat, dafür eigentlich vorgesehen? Die Kantonsparlamente, die stolzen Träger der kantonalen Souveränitäten? Oder eben die Regierungskonferenzen, die in Bundesbern lobbyieren?

Testfall Corona-Notrecht
Der Fraktionschef der SP im Bundeshaus, Roger Nordmann, selbst ein ausgebildeter Politologe aus Lausanne, brachte es während der Corona-Krise auf den Punkt. Wenn die Gesundheitsdirektoren sachliche Einigkeit anstreben, finden sie sich im kleinsten gemeinsamen Nenner. Geht es ihn dagegen um finanzielle Forderungen gegenüber dem Bund, strebe man es, das maximal erreichbare Niveau an.
Während des Notrechts beklagten die Kantone, die Unterschiede zwischen den Kantonen seien zu gross, um eine einheitliche Corona-Politik durchziehen zu können. Mit dem Ende des Notrechts bekamen sie ihre Kompetenzen zurück. Sie mussten aber auch für die Kosten aufkommen. Bis einige Kantone fanden, Notrecht sei besser, weil günstiger. Das wiederum wollte der Bundesrat nicht nicht mehr machen.
Politologe Silvano Moeckli schrieb damals träf: Wir kennen den horizontalen Föderalismus. Wir kennen auch den vertikalen Föderalismus. Doch jetzt haben wir den diagonalen Föderalismus. Jeder steht dem anderen im Weg!
Glücklicherweise arbeiten heute Bundesrat Alain Berset und Lukas Engelberger, der Präsident der Gesundheitsdirektor, eng zusammen. Der Bund macht in der Corona-Politik Vorgaben. Er berücksichtigt dabei Kantone mit Pioniercharakter ganz besonders. Und er übernimmt mehr und mehr die Kosten. Und selbst die Nationalbank hilft neuerdings, will sie doch 2021 6 statt 4 Milliarden Franken Gewinn an die finanziell angeschlagenen Kantone verteilen. Aber es gibt kein Notrecht!
Gut lobbyiert, könnte man sagen!

Lobbyist für Kantone und anderes mehr
Ein eigentlicher Wendepunkt im Geflecht von Bund und Kantonen war das Steuerpaket von 2004. Trotz Steuersenkungen wurde es in der Volksabstimmung verworfen.
Schon davor wurde Alfred Rey, Vizedirektor des Eidgenössischen Finanzdepartements. Er wurde als Vermittler zwischen den Interessen gerufen. Der Ökonom, der CVP nahestehend, warnte schon im Voraus. Die Kantone könnten bei der angestrebten Verlagerung von Kompetenzen weg vom Bund nicht mithalten. Sie müssten sich in die Opposition zum Steuerpaket begeben.
Rey sollte recht behalten: rebellierende Linke und oppositionelle Kantone sind in Steuerfragen zu viel, um eine Volksabstimmung gewinnen zu können.
Nach dem Volksentscheid schrieb die NZZ lobend über den König des Föderalismus, man solle bei einer Neuauflage mehr auf den gewieften Kantonslobbyisten im Bundessold hören. Doch nur sechs Jahre später berichtete die gleiche NZZ ganz anders über die gleiche Person. Am Falkenplatz in Zürich hatte man nämlich herausgefunden, dass der Chefbeamte nicht nur Lobbyist für die Kantone war, sondern auch für Private. Zu 80% wurde er vom Bund bezahlt, zu 20% arbeitete er für Vereinigungen von Behindertenwerken. Stets unter der gleichen Telefonnummer erreichbar. Das Doppelspiel wurde bald beendet-
Heute lebt Rey vereinsamt in Bern. Er ist auf Stöcke angewiesen und nutzt fleissig die Bänke, welche die Stadt für Behinderte bereit gestellt hat.
Transparency International hält den Fall “Rey” für ein krasses Einzelbeispiell. Die Ethik der BeamtInnen im Bern sei im internationalen Vergleich hoch. Die Vorschriften für ihr Verhalten würden zudem im internationalen Vergleich Bestand halten.

Und weiter …
Wir sind etwas beschwichtigt! Und wir schauen als Nächstes auf Parteien als LobbyistInnen.

8. Station: Gediegene Clubs für das Soziale und Menschliche

Wir sind jetzt vor dem Schweizerhof. Nach dem Bellevue Palace ist das der vermutlich zweitwichtigste noble Treffpunkt für Lobbyisten in Bundesbern.


Der Club politique
An diesem Ort finden regelmässig abendliche Treffen des „Club Politique“ statt. Ins Leben gerufen wurde diese Vereinigung von Reto Nause, Mitglied der Berner Regierung und Vertreter der CVP, heute der Mitte.
Präsidiert wird der Club von Victor Schmid. Seine politische Karriere begonnen hatte der doktorierte Soziologe als persönlicher Berater von Bundesrat Flavio Cotti. Heute ist er Mitinhaber der Hirzel.Neef.Schmid.Konsulenten AG, eine der führenden Komm-Agenturen in der Bundesstadt. Die” NZZ am Sonntag” nannte ihn jüngst den Grandseigneur der Kommunikationsberatung in Bern. «Lobbyist» hört er nicht gerne, und seine Firma ist auch keine PR-Agentur!

Hochkarätige Gäste
Die Gästeliste des Club Politique ist hochkarätig. Sie umfasst seit 2013 sieben BundesrätInnen, einen Bundeskanzler, fünf StänderätInnen und 23 NationalrätInnen. Man findet darauf auch Firmenchefs und -chefinnen, VerbandspräsidentInnen, ParteisekretärInnen, DiplomatInnen, PublizistInnen und fast alle PolitologInnen aus Bern. Natürlich war auch ich schon mehrfach Referent hier. Und ich bin Mitglied.
Bezahlen muss man in diesem Club übrigens nichts. Für die Aufnahme braucht es aber eine Empfehlung. Und es ist ein Leistungsausweis als Person des öffentlichen Lebens nötig.
Als Beatrice Wertli, die frühere CVP-Generalsekretärin, das Managemnt des Club inne übernahm, stieg der Anteil Frauen im Saal spürbar an
Obwohl der Club ein offensichtliches CVP-Herz hat, kommen hier Leute aus fast allen Parteien. Denn überparteiliche Beziehungspflege bleibt die wichtigsten Voraussetzung für das Lobbying in der Bundesstadt.

Veranstaltungen als Ritual
Die Veranstaltungen im Club sind ein Ritual: Der Gast, die Gästin trägt etwas Wichtiges vor. Danach wird auf einem kleinen Podium debattiert, und zuletzt mischt sich das geladene Publikum ein. Mindestens so wichtig wie der offizielle Teil ist allerdings der obligate inoffizielle Stehlunch danach.
Gehört man zum erlauchten inneren Kreis des Clubs, kann es durchaus sein, dass man mit einem Bundesrat oder einer Bundesrätin im petit comité dinieren und eine anstehende Problematim zu erörtern.
Der hiesige Club Politique ist bei Weitem nicht der einzige seiner Art in Bern. Sie wurden in den letzten 20 Jahren bewusst gefördert. Denn viele der Lobbyzentren in der Schweiz waren in Zürich oder Genf. In Bern herrschte lange Nachholbedarf – bei hervorragenden Voraussetzungen mit der Bundespolitik und der Bundesverwaltung.

Food&Fun am beliebtesten
Beliebter noch als Abende wie im Club sind Anlässe ohne Agenda und übergeordnetes Thema. Dazu gehören auch gesellige Kochrunden, wie sie die Agentur furrerhugi. pflegt. Da bereiten zwei ParlamentarierInnen meist aus verschiedenen Fraktionen ihr Süppchen vor und servieren es ihren Gästen.
Am beliebtesten sind allerdings Schifffahrten auf dem Thunersee. Das segelt dann unter “Food&Fun” in aller Abgeschiedenheit des Berner Oberlandes und ohne jeden thematischen Zwang. Vielleicht ist sogar das die ganz hohe Kunst des Netzwerkens.

Krise des Informellen
Genau dieser informelle Bereich des Lobbyings ist unter Corona-Bedingungen in eine eigentliche Krise geraten. Das ist nicht zu unterschätzen. Fast 30 Prozent der jetzigen ParlamentarierInnen wurden erst 2019 gewählt. Sie haben bis jetzt genau eine ordentliche Session erlebt, danach nur solche, die abgebrochen, ausser Stadt oder hinter Plexiglas durchgeführt werden. Das Soziale und Menschliche an der Politik leidet darunter.
Die Meinung, ob das von Gutem oder Schlechtem sei, gehen weit auseinander. Martin Schläpfer, langjähriger Migros-Lobbyist, meint etwa, ParlamentarierInnen kämen so zu den 20% massgeblichen Informationen, die nie in amtlichen Unterlagen stehen würden. Hart ins Gericht genommen wird er von Gerhard Pfister. Der NZZ diktierte er jüngst ins Notizbuch, das sei ein dreiste Erfindung der Lobbyisten, um sich selber und ihre Events wichtig zu machen. Punkt!
Persönlich kennen gelernt habe ich den früheren CVP- und heutigen Mitte-Präsidenten übrigens hier im Club Politique, als er seine neu positionierte Partei vorstellte und mit allen anstiess.

Und weiter …
Fertig mit Internas! Als nächstes packen wir die Kantone als Lobbyisten.
Als nächstes packen wir die Kantone als Lobbyisten.

7. Station: alte und neue Formen der Regierungsberatung

Haaaaalt! – Fast wären wir achtlos an einer wichtigen Station unserer Stadtwanderung vorbeispaziert. Das wäre sogar symptomatisch gewesen. Denn wofür dieser Eingang steht, geht gerne vergessen.


Christoffelgasse 5, Beren

Was ist die ElCom eigentlich?
Es ist der Sitz der «ElCom», mit vollem Namen die «Eidgenössische Elektrizitätskommission».
Nie gehört?
Im Internet wird die ElCom als «unabhängige, staatliche Regulierungsbehörde, welche die Preise und Tarife im Elektrizitätsbereich überwacht» vorgestellt.
Staatlich! Also eine Institution.
Unabhängig? Also ein Akteur.
Mit dem Organigramm der ElCom erfährt man, dass es hier ein Fachsekretariat gibt. Dieses untersteht der ElCom. Diese wiederum ist dem Bundesrat angegliedert. Nicht aber dem Generalsekretariat des UVEK. Das ist nur beim Fachsekretariat der Fall.
Alles unklar?
Volle Absicht!

Wer repräsentiert die ElCom?
Nun der Reihe nach: Präsidiert wird die ElCom seit 2020 von Werner Luginbühl, vormals bernischer Ständerat. Seine Stellvertreterin heisst Laurianne Altwegg. Er war bekannt als Interessenvertreter der Wasserkraft, sie kommt vom Westschweizer KonsumentInnenforum.
Die Kommission ist für die Sicherheit der Stromversorgung des Landes zuständig. Das ist gemäß Risikoanalyse des Bundes eine der drei teuersten und einigermassen wahrscheinlichsten Herausforderungen des Landes. Die beiden anderen sind Erdbeben und Pandemien. Das kennen wir ja jetzt!
Die traditionellen ausserparlamentarische Kommission
Im Jargon der Schweizer Institutionen ist die ElCom eine ausserparlamentarische Kommission. Die gehören in den Vollzugsbereich. Man darf sich nicht verwechseln mit den Parlamentskommissionen und den
Expertenkommission der Verwaltung.
Mehr als 150 ausserparlamentarischer Kommissionen gibt es auf Bundesebene; im Schnitt rund 20 pro Departement. Total zählen sie über 1’600 Mitglieder, die auf jeweils vier Jahre gewählt sind.
Einige dieser Kommissionen sind ziemlich bekannt. So zum Beispiel die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus. Andere sind es weniger, wie die Eidgenössische Kommission der Schweizerischen Nationalbibliothek.
Die Präsidien solcher Kommissionen sind gut bezahlte Posten. Auffällig viele werden von zurückgetretenen PolitikerInnen wahrgenommen.
Namen? – Felix Gutzwiller, Christine Egerszegi, Marine Brunschwig-Graf, Peter Bieri, Corina Eichenberger und Verena Diener.
In einem Fall präsidiert gar ein aktives Parlamentsmitglied die ausserparlamentarische Kommission: Thomas Hurter, SVP-Nationalrat aus Schaffhausen, steht der Kommission für Weltraumfragen vor. Und bis vor kurzem war auch der verstorbene Flavio Cotti, alt Bundesrat, einer der Fachberater des Bundesrats

Der mehrfache Rollenwandel
Die Internetseite der Bundesverwaltung preist die ausserparlamentarischen Kommissionen heute als Teil der „partizipativen Demokratie“. In der Demokratietheorie wird diese gelobt, denn sie vereinfacht die Beteiligung möglichst vieler BürgerInnen in möglichst vielen Bereichen des Staates.
Man kann es auch kritischer sehen. Denn diese Kommissionsform war sinnvoll, als die Verwaltung eine reine Milizorganisation war. So sicherte man sich seit jeher Wissen aus der Gesellschaft, das Verwaltungen fehlte.
Seit den 1980er Jahren gibt es kontroverse Diskussionen über Sinn und Unsinn der ausserparlamentarischen Diskussionen. Politologen wie Raimund E. Germann verlangten schon mal deren vollständige Abschaffung. Es handle sich dabei um nichts anderes als die Günstlinge an den aristokratischen Höfe, die überlebt hätten. Mit seiner Forderung ist Germann allerdings gescheitert.
Effektiv ist die Verwaltungsberatung weitgehend verschwunden. Geblieben ist die zweite Aufgabe, die Interesseneinbindung. Das bringt die „Außerparlamentarischen“ in eine Lobby-artige Stellung. Doch engagiert man sich hier nicht für seine Organisation. Vielmehr muss man zu einer Einigung kommen.
Eine Reform der ausserparlamentarischen Kommissionen vor 15 Jahren veränderte nur wenig. Vereinheitlicht wurde nur die recht grosszügige Entlöhnung.
Neu sind einige der Kommissionen ein Scharnier der Verwaltung zur Zivilgesellschaft. So fördert beispielsweise die Eidgenössische Kommission für Frauenfragen die Geschichtsschreibung der Frauen und vermittelt anerkannte Lerneinheiten an Schulen.

Die moderne Task Force
Bei einer Kommission kam es 2020 zum Eklat. Das war die Eidgenössische Kommission für Pandemievorbereitung und -bewältigung. Sie wurde, als die erste Corona-Welle ausbrach, als überholt auf einem Abstellgleis fernab vom Geschehen versorgt.
An ihre Stelle trat die zwischenzeitlich bekannt «COVID-19 Task Force». Unterstellt ist diese nicht dem Gesamtbundesrat, sondern dem Eidgenössischen Departement des Innern resp. dem Bundesamt für Gesundheit. Zu deren Handen erstellt sie Policy Briefings, wissenschaftlich fundierte Analysen und Empfehlungen.
Man könnte sagen, dies sei ein Beispiel der modernen Form der Exekutivberatung.
Die Arbeitsgruppe besteht aus knapp 80 WissenschafterInnen aus verschiedenen Bereichen von Medizin bis Ökonomie. Viele sind an Universitäten und Hochschulen tätig, deren Erkenntnisse sie unentgeltlich und ehrenamtlich vermitteln. An der Spitze steht ein vierköpfiges Leitungsteam, begleitet von einem Advisory Board mit fünf Personen, welche die Fachrichtungen repräsentieren. Ihre Aushängeschilder kommunizieren auch in der Öffentlichkeit. Ihr Wort hat Gewicht.

Politik und Wissenschaft – ein vielfältiges Spannungsfeld
Die Arbeit des neuartigen Gremiums ist umstritten. Das hat vor allem mit der öffentlichkeitswirksamen Vermittlung zu tun. Beraten wird nicht nur die Regierung, auch die Öffentlichkeit.
Teile des Bundesrats haben dagegen opponiert. Einige Mitglieder der TAskForce sind zurückgetreten. Andere arbeiten, wenn auch etwas diskreter weiter.
Anlass der bundesrätlichen Kritik war, dass zahlreiche Mitglieder ihre Ansichten auch via Twitter kommunizierten und regelmässig als MedienexpertInnen zur Verfügung standen. Namentlich im Vorfeld der zweiten Welle setzten sie auch öffentlichen Druck auf. Der Bundesrat habe wider besseren Wissens die Lage falsch eingeschätzt.
Politikberatung ist kein direktes Geschäft des Lobbyings. Aber es ist verwandt. Die Wissenschaftstheorie hat vorgeschlagen, solche BeraterInnen sollten weder Gurus, noch VollzugsbeamtInnen sein.
Jürgen Habermas formulierte es vor einem halben Jahrhundert treffend: Es mache Sinn, dass beide Seiten ihre eigenen Diskurse führen würden, dabei aber in engem Austausch stehen sollten. Die Politik kann so von externem Wissen profitieren, doch die Wissenschaft muss akzeptieren, dass die Verantwortung für Entscheidungen bei der Politik bleibt.

Und weiter …
So, damit ist die Exekutive des Bundes komplett durchwandert. Wir verlassen den Kern des Regierungsviertels, um festzustellen, dass in den umliegenden Strassen noch sehr viele LobbyistInnen heimisch geworden sind.

6. Station: Lobbying gegenüber dem Bundesrat

Wir stehen vor dem Eidg. Finanzdepartement. Man könnte auch sagen, vor dem Herzstück der Bundesverwaltung – vielleicht sogar des Bundesrats. Wie lobbyiert man hier?


«Wir haben den besten Finanzminister der Welt», sagte einst die FDP über Bundesrat Hans-Rudolf Merz. Dasselbe meint nun auch die SVP, weil der Kassenwart Ueli Maurer heisst.

Auf und ab der Verschuldung
Seit 2004 schliessen die Jahresrechnungen der Schweiz nicht nur positiv ab. Sie sind auch positiver als vorgesehen. Eine Milliarde mehr als erwartet ist schon ganz normal!
Anders als in vielen Ländern konnte die Schweiz in jüngerer Zeit Schulden abbauen. Vom 124 Milliarden Franken 2003 sind sie 2018 auf unter 100 Milliarden gesunken.
Die stärkste Schweizer Waffe gegen Staatsverschuldung ist die Schuldenbremse. 2001 wurde sie eingeführt. Sie verpflichtet den Bund, Einnahmen und Ausgaben über einen Konjunkturzyklus hinweg im Gleichgewicht zu halten.
Doch das alles änderte sich 2020 angesichts der COVID-19 Problematik!
Der Gesundheitsminister sieht sich Ende Jahr 7’500 corona-verstorbenen Menschen gegenüber.
Der Finanzminister rechnet mit Defiziten von 30 Milliarden Franken.
Ueli Maurer klagt, wir stünden heute etwa da, wo wir uns vor einem Vierteljahrhundert befanden. Verschiedene ÖkonomInnen sehen es gelassener: Schulden machen koste angesichts der geltenden Zinsen fast nichts.
Und siehe da: Die Nationalbank verteilt 2021 neu 6 statt 4 Milliarden vom Gewinn an die leidenden Kantone. Und der Bundesrat verdoppelte die Beiträge für die Corona-Härtefälle jüngst auf 5 Milliarden CHF Franken.

Von viel Lob …
Während der ersten Corona-Welle wurde der Gesamtbunderat für seine Covid19 Politik gelobt. Er hat im März entschieden gehandelt, harte Massnahmen ergriffen und die Schweiz hinter sich versammelt. Nach knapp drei Monaten konnte die ausgerufene ausserordentliche Lage in eine besondere Lage zurückgeführt werden.
Selbst für den Finanzminister Maurer gab es Blumen, speziell für sein Vorgehen bei den Bürgschaften für Unternehmen ohne genügende Liquidität, die 20 Milliarden CHF umfassten. Wie die NZZ am Sonntag erfuhr, kam der Deal an einer Telefonkonferenz mit 330 TeilnehmerInnen zustande. 250 von ihnen kamen von den Banken, 80 aus dem Finanzdepartement. Staatssekretärin Daniela Stoffel vom EFD meinte im Interview, die Einigung sei deshalb so reibungslos verlaufen, weil ihr Gegenüber, Jörg Gasser, Direktor der Schweizerischen Bankiersvereinigung, ihr Amtsvorgänger im EFD gewesen sei. Enge Verbindungen zwischen Staat und Spitzenverbänden seien im Vollzug unter Zeitdruck von Vorteil.

… zu viel Tadel
Zwischenzeitlich hat die öffentliche Meinung gekehrt. Wir befinden uns mitten in der zweiten Welle. Die Todeszahlen sind erneut in die Höhe gegangen. Altersheime gelten als Sterbehospize. Das Long-COVID-Syndrom bei genesenen PatientInnen tritt auf. Ebenso werden psychische Erkrankungen zum Thema. Das mutierte Virus aus Grossbritannien hat die Lage nochmals verschärft.
Das Vertrauen in die Lösungskompetenz des Bundesrats ist drastisch gesunken. Seine Politik wird heftig kritisiert. Sogenannte Massnahmen-SkeptikerInnen sind aufgetaucht. Libertäre beschimpfen den Staat. Die SVP möchte die Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie ganz aufheben. Gesucht wird nach Sündenböcken – im Bundesrat und immer bei der anderen Seite.

Regieren ohne und mit Spitzenverbänden
Der emeritierte Politologe-Professor von der HSG, Silvano Moeckli, stellte auf Twitter die Frage, wie es komme, dass das gleiche politische System die erste Pandemie-Welle gut, die zweite jedoch schlecht bewältigt habe.
Seine Antwort aus dem Quasi-Experiment: Im Frühling seien alle überrascht worden. Die sonst so einflussreichen Verbände hätten nur zustimmend zur bundesrätlichen Politik reagieren können.
Das habe sich mit dem Ende der besonderen Lage geändert. Ohne öffentliche Debatte habe sich im Wechselspiel von Behörden und Anspruchsgruppen die Auffassung durchgesetzt, die Schweiz könne sich einen weiteren Lockdown nicht mehr leisten. Die Pandemie solle mit weichen und kostengünstigeren Massnahmen bekämpft werden.
Geboren wurde der «Schweizer Weg» durch die Pandemie!
Heute wissen wir: Er ist gescheitert. Vielleicht hat er die zweite Welle sogar begünstigt. Unvorbereitet ist die Schweiz jedenfalls in diese Phase gerutscht. Der Bundesrat hat sich inzwischen öffentlich dafür entschuldigt.

Neokorporatismus oder Neo-Neokorporatismus
Überblickt man das ganze Corona-Jahr, wird die Wirksamkeit des Neokorporatismus klar. Allen Unkenrufen zum Trotz, es nicht vorbei mit der Verbindung von Regierung und Verbänden.
Richtig ist, dass die Exekutive angesichts grosser Herausforderungen weiter gestärkt und die Legislative weiter geschwächt wurde.
Zudem verändert hat sich der Charakter der lobbyierten Interessen. Begründet wurde der Verbandseinfluss ursprünglich als Beitrag zum Allgemeinwohl. Heute erscheinen sie mehr als Beitrag zur Interessendurchsetzung. Die Verbände nehmen gezielt Einfluss auf einzelne Massnahmen.
So entsteht keine Strategie. Da sind Skigebiete offen, aber Schulen müssen geschlossen werden. Da sind Restaurants zu, aber Blumenläden offen.
Zielgerichtet gehandelt hat der Gesamt-Bundesrat mit seiner Tourismuspolitik. Zu den drei halböffentlich zelebrierten Tourismuskonferenzen lud stets er ein, angeführt von der damaligen Bundespräsidentin. Verhandelt wurden Stützmassnahmen für die Tourismusbranche. Unterstützt wurde sie auch mit einer umfassenden Werbekampagne des Bundes. Bundesrat Maurer lief im Parlament zur Höchstform auf, als er leidenschaftlich dafür warb, im Sommer in der Schweiz zu bleiben. Für einmal herrschte Einigkeit in der Corona-Politik!
Der Normalfall ist das nicht. Bisweilen wird man den Eindruck nicht los, man wurstle sich durch.
Regieren findet heute im Dreieck aus Exekutive, Lobbies und Öffentlichkeit statt. Letzteres passt nicht zur Regierungsweise im zweiten Weltkrieg.
Man müsste von Neo-Neokorporatismus sprechen. Government, big-business and public are the new power elite!

Und weiter …
Wir verlassen das Regierungsviertel nun. Jedenfalls fast! Denn noch fehlt uns eine Institution, die gerne vergessen geht.
Machen wir uns auf die Suche nach dem missing link!

5. Station: Generalsekretariate zwischen Departementschefs und LobbyistInnen

Wir stehen unter dem Balkon des Bundesratszimmers. Die Aussicht auf den Gurten, den Berner Hausberg, ist da ausgezeichnet. Weniger gut sind unsere Einsicht in die Funktionsweise des exekutiven Lobbyings.

Verbandsmitgliedschaft und Bundesratswahl
Der Berner Politikwissenschafter Adrian Vatter hat die Wahlen in den Bundesrat für die vergangenen 30 Jahre untersucht. Nicht überraschend schälen sich die politischen und parlamentarischen Verankerungen der Kandidierenden als entscheidende Faktoren heraus. Stimmen müssen Partei, Nomination, Sprachregion, bisweilen auch das Geschlecht. Praktisch unabdingbar ist die Erfahrung im Bundesparlament und damit meist auch das Alter.
Zu meiner Überraschung schreibt Vatter in seinem Buch «Der Bundesrat», die Verankerung in der Wirtschaft sei kein signifikantes Wahlkriterium. Das stimmt, wenn man einzig auf Verwaltungsratspräsidien in der Privatwirtschaft abstellt. Interessanter sind jedoch die Verbandsmitgliedschaften. Bei der Wahl von FDP-KandidatInnen war das nur in Ausnahmefällen nicht gegeben. Bei der SVP und SP haben starke Minderheiten mindestens ein solches Mandat bei der Wahl innegehabt. Lediglich bei der CVP war es lediglich eine Ausnahme.
Die Bundesratswahl 2015 zeigte exemplarisch, was das heisst. Es ging um die Nachfolge für die abtretende BDP-Bundesrätin Eveline Widmer Schlumpf. Favorisiert waren Mitglieder, welche die SVP-Fraktion nominiert hatte. Norman Gobbi, Thomas Aeschi und Guy Parmelin wurde vorgeschlagen. Letzterer machte das Rennen.
Lobbywatch zeigte schon im Voraus, wie gut sich Parmelin im Parlament vernetzt hatte. Er war Mitglied zweier wichtiger Kommissionen und wirkte in mindestens vier Parlamentsgruppen mit. Zudem war er im Vorstand verschiedener Arbeitgeberorganisationen sowie Organisationen der Landwirtschaft und Gentechnologie aktiv. Das alles beförderte seine breite Verankerung – ein Kriterium, das dem jungen Thomas Aeschi letztlich abging.

Departementschef und ihre Generalsekretariate
Einmal gewählt müssen Bundesratsmitglieder ihre Mitgliedschaften abgeben. Denn sie sind BerufspolitikerInnen. Doch bleiben die Netzwerke bestehen. Das ist auch nötig, denn als DepartementsvorsteherIn führt man einen Teil der Verwaltung. Eigentlich muss man von Beginn weg “liefern”.
Institutionalisiertes Kernstück des Lobbyings gegenüber Departementen ist das Vernehmlassungsverfahren. Die Anhörung hat zum Ziel, Gruppen, die im Gesetzgebungsprozess Opposition spielen könnten, miteinzubeziehen. Deshalb ist es seit 2006 gesetzlich geregelt.
Meine Beobachtung sagt, je weniger geregelt ist, desto wichtiger werden die Lobbies – und die Generalsekretariate der Departemente.
Das GS, wie das Generalsekretariat genannt wird, ist in der heutigen Form ein Spross der jüngsten Regierungsreform. Die GeneralsekretärInnen gelangten damit in eine Art Stellvertretung für ihre Bundesräte und Bundesrätinnen. Ein Klein-Kabinett umgibt sie. Dabei werden erfahrene Personen aus Kantonen, Parteisekretariaten, Verbandsspitzen und Medien berücksichtigt. Bisweilen sind sie davor oder nach LobbyistInnen.

Kriegsmaterialausfuhr als Fallbeispiel
Ein anschauliches Beispiel für das Zusammenspiel von Lobbying, Generalsekretariat und Bundesrat war 2018 der Vorschlag des Wirtschaftsdepartements, die Ausfuhr von Kriegsmaterial zu lockern. Er sah vor, dass die Ausfuhr neu auch in kriegsführende Länder erlaubt sein sollte.
Die NZZ kommentierte wie folgt: «Weniger als neun Monate ist es her, seit die vereinten Chefs der Schweizer Rüstungsindustrie ihr «Begehren» an die Sicherheitspolitische Kommission des Ständerats gerichtet haben: die Lockerung der Kriegsmaterialverordnung. […] Dem Vernehmen nach hatten die beiden SP-Bundesratsmitglieder Alain Berset und Simonetta Sommaruga sowie CVP-Bundesrätin Doris Leuthard in Mitberichten grundsätzliche Bedenken gegen die Lockerung angemeldet – unter anderem gestützt auf neutralitätspolitische Überlegungen, aber auch mit dem Verweis auf die Tatsache, dass die Schweiz immerhin Sitzstaat des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) ist […].» (Gmür 2018)
In der Öffentlichkeit kam der Vorstoss gar nicht gut an. Man warf dem Bundesrat vor, sein Versprechen bei der letzten Volksabstimmung zur Waffenausfuhr zu brechen. Im Nationalrat setzte die BDP ihre Forderung durch, dem Bundesrat die Kompetenz für die Bestimmung der Liste von ausfuhrfähigen Ländern zu entziehen. So weit wäre es gekommen, wenn auch der Ständerat zugestimmt hätte. Doch die Uebung wurde vorher vom Bundesrat abgebrochen.
Verschiedene Quellen vermuteten, dass das Generalsekretariat des WBF bei der Aktion federführend war. Unterstellt wird auch, dass man damit die Interessen der Metallindustrie bedient habe. Das wäre dann klassisches Lobbying gegenüber der Exekutive.
Doch dem stand aber ein neuartiges Lobbying der Zivilgesellschaft gegenüber, die ihre Fähigkeit zur Opposition mittels angedrohten Volksinitiativen dank den neuen Möglichkeiten der Digitalisierung demonstriert hatte. Letztlich hat sie sich in der Allianz mit der Öffentlichkeit und dem Druck aus dem Parlament durchgesetzt.
Uebrigens, der damalige Generalsekretär verliess seinen Posten bald danach, um Direktor von Swissmem zu werden.

Private/Public job Rotation
Anders als in den USA sind Rochaden zwischen Staat und Privaten bei uns nicht die Regel. Aber sie sind im Kommen.
Das Postenkarusell setzt mit dem Rücktritt eines Bundesrat oder eines Spitzenbeamten ein. Es entsteht ein eigentlicher Markt mit politischen Funktionären, die ihre Rollen innerhalb und ausserhalb der Verwaltung wechseln, dabei von einem Insiderwissen profitieren, es aber Interessengruppen zur Verfügung stellen.
Der letzte, geradezu spektakuläre Fall war Daniel Koch, unser Corona-Mann während der ersten Welle, der nach seiner Pensionierung für gutes Geld eine Kommunikationsfirma eröffnete. Heute wirkt er als Berater, vor allem für Grossanlässe aus dem Sportbereich.
Bekannt ist, dass Bundesräte und Bundesrätinnen nach ihrer Zeit als PolitikerInnen in die Wirtschaft gehen. Mit Ruth Metzler, die in jungen Jahren abgewählt wurde, ist hier Neuland beschritten worden. Denn auch sie ist heute im Lobbying zwischen Interessen des Staates und der Privaten tätig. Dabei ist sie bei Weitem nicht die Einzige. Kaspar Villiger wurde nach seiner Zeit als Bundesrat UBS-Verwaltungsratspräsident. Moritz Leuenberger trat in den Verwaltungsrat der Implenia ein. Und Doris Leuthard hat eine solche Funktion bei der Coop und der Stadler Rail inne.
Ausstandsregeln für Top-Leute aus der Exekutive, die später kommerziellen Interessen nachgehen, kennt die Schweiz bisher keine. Darüber wird man wohl noch sprechen müssen.

Und weiter …
So, das war beispielhaft die jüngere Praxis. Wie man gegenüber dem Bundesrat als Kollegium lobbyiert, lernen wir an der nächstem Station kennen.
Auf geht’s!