Meine Rede an die Republik

rede, gehalten am Netzwerkapéro des Clé de Berne, 20.2.2014. erwartet wurde eine launische kurzansprache.

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“Es war knapp. Aber es ist Ja. Den Ausschlag gaben weniger als 10‘000 Stimmende. Hätten sie statt Ja Nein gestimmt, wäre nun viel Aerger erspart geblieben. Die Probleme wären aber die gleichen gewesen.
Am meisten Ja hatte es übrigens dort, wo es viele “Heimetli” gibt. Dafür hat es da auch wenige Ausländer, um die es eigentlich ging. Wo es viele Ausländer gibt, hatte es wiederum weniger Ja-Stimmen. Doch das war gar nicht ent-scheidend. Denn das war schon immer so, wenn wir über solche Sachen abge-stimmt haben. Und das Ergebnis war immer umgekehrt.
Massgeblich waren diesmal die Agglomerationen. Denn bis 2009 waren sie immer für offene Grenzen. Doch nun haben sie genug, und sie stimmten in ihrer Mehrheit Ja, womit es insgesamt Ja war.
Es ist schon erstaunlich. Alle Wirtschaftsindikatoren haben Hochzeit. Wir sind top im Standortwettbewerb, wir haben Wirtschaftswachstum und wir haben eine prallvolle Staatskasse.
Aber wir leiden. Am Dichtestress. Vor allem in der Deutschschweiz. Und dies, obwohl im Arc Lémanique am meisten Menschen auf engem Raum leben. Die kennen nicht einmal das Wort. Lässt man es von Google übersetzen, wird einem „élasticité“ vorgeschlagen. Ich schliesse daraus, dass der Begriff dehnbar ist.
Unsere Lebensgefühle haben sich verändert. Ich vermute, die Hauptursache ist die volle virtuelle Timeline. Kein Platz zum Atmen, kein Ort zum Ruhen. Deshalb haben wir Stress und brauchen Schuldige. Die EU, die Einwanderer, die Land-schaftszerstörer, die Arbeitsplatzkonkurrenten, die Sozialfürsorgeempfänger.
Ich rate, all diese Themen ernst zu nehmen. Denn mit der Personenfreizügigkeit haben wir neue gesellschaftliche Probleme bekommen. Heute sind es nicht mehr nur die Unterschichten, die das beklagen, es ist der Mittelstand, polarisiert in Globalisierungsgewinner und –verlierer. Die einen können in der Wettbewerbsgesellschaft mithalten, die andern werden von Abstiegsängsten geplagt.
Vor zwei Jahren habe ich gemeinsam mit KollegInnen aus Deutschland und Österreich an einem Buch über “Politische Kulturen im Umbruch” geschrieben. Einer der Schlüsse lautete, dass wir eine für europäische Verhältnisse normale Regimeakzeptanz haben, in der Regel den politischen Autoritäten auch vertrauen, gelegentlich aber misstrauisch sind. Vor allem sprunghaft ansteigende Stimmbeteiligungen bringen periodisch den Unmut zum Ausdruck. Dazu gehört, dass wir uns wehren, Teil der europäischen Massengesellschaft zu werden.
Bei dieser Abstimmung ging es jedenfalls am Schluss um Identität. Genauer gesagt, um Identitäten. Denn davon haben wir mindestens drei: die nationalkonservative, die internationalistische und jene der Schweizer Modernismus. In Bedrängnis ist heute der Schweizer Modernismus, denn seine Basis wir immer konservativer.
Seit dem 9. Februar ist an meinem Kiosk die “Weltwoche” schon morgens um 8 bereits ausverkauft. Es sind die seltenen Tage von Roger Köppel und Co. Via deutsche Talkshow strahlen sie mächtig in die EU aus. Diese reagiert irritiert. Und EU-Kommissionspräsident ist in Rage. Ausgerechnet José Manuel Barroso, der als Student all 23 Kantone der Schweiz mit Mietauto bereist hatte und ein Schweiz-Versteher war.
Doch auch wir reagieren teilweie unüberlegt: Neuerdings gibt es sechs Katego-rien von BewohnerInnen: Einen A Ausweis bekommt, wer wahrer Eidgenosse ist und die SVP wählt; B gibt es für gute SchweizerInnen, die Ja gestimmt haben, C für Romands und D für Städter. Die Romands können keine guten SchweizerInnen sein, weil sie nicht wüssten, was Patriotismus sei. Und die Städter seien noch minderen Ranges, weil sie eh am liebsten nach Brüssel schauen würden. Von besonderem Interesse ist aber E, Inländer genannt. Denn eigentlich sind damit Ausländer gemeint, die bleiben dürfen. Wer weniger als ein Jahr da ist, ist Ausländer mit F Ausweis und fehl am Platz.
Nicht minder problematisch ist der Vorschlag meines Genfer Namensvetters, dem Wirtschaftsminister der Republik am Lac Léman. Coucousin François meint, am besten würde man die Kontingente nach dem Nein-Stimmenanteil verteilen. Oder umgekehrt proportional zum Betrag, den man aus dem NFA bekommt. Es droht uns der Finanzausgleichsgraben – mit klaren inneren Grenzen.
Da lob ich mit unsere Bundespräsident Didier Burkhalter. Er hat recht. Die Bilateralen haben Schlagseite. Der sozialliberale Kompromiss in der Europapolitik trägt nicht mehr wie gewohnt. Heute braucht es keine Polarisierer. Es braucht mehr Kohärenz.
Wir müssen uns auf die Grundwerte der Schweiz besinnen: Selbständig und offen, föderalistisch, direktdemokratisch und sozialpartnerschaftlich, um eine Balance zu finden, zwischen Globalisierung und Identität, zwischen internationaler Partizipation und Eigenständigkeit, zwischen Moderne und Tradition. Denn all das gehört zur Schweiz.
Die ersten Leidtragenden der inneren Uneinigkeit sind die Studierenden und die Filmschaffenden. Nicht ausgesprochene Ja-Sager, aber “Randgruppen” halt. Sollte es die Forschung an sich treffen, geht es um unseren Diamanten. Noch vor kurzem waren wir stolz, den wissenschaftlichen Denkplatz Europas zu sein, und dafür eine Milliarde Fördergelder aus der EU zu kommen. Solches steht nun auf dem Spiel.
Im Moment haben wir zwei Freunde: Angela Merkel und Ernst Bloch. Angi, weil sie cool reagiert hat, auf gemeinsame Interessen setzt und pragmatisch vorgehen will. Bloch, weil es das Prinzip Hoffnung formuliert hat, die konkrete Utopie, das Machbare am Morgigen.
Ohne das heisst der nächste grosse Dokumentarfilm aus der Schweiz nicht “More than Honey”, sondern “Less than Honey”. Und wir müssten ihn erst noch selber bezahlen.”

stadtwanderer