silvester in st. silvester

kirchen, die auf den namen des heiligen silvester lauten, gibt es viele. politische gemeinden, die auf diese weise dem papst aus dem 4. jahrhundert gedenken, sind dagegen eine grosse ausnahme. einzigartig sind auf alle fälle die feierlichkeiten am letzten tag des jahres im freiburgischen st. silvester.

Tagesschau vom 31.12.2010
geschichte und gegenwart vereint: silvester wegen dem heiligen silvester in st. silvester feiern.

der wecker ging um viertel vor vier. ein freundlicher chauffeur holte kurz darauf bärbi und mich ab und brachte uns nach st. silvester im freiburgischen sensebezirk. im hell erleuchteten gotteshaus auf dem kirchberg spielte die musikgesellschaft schon vor 5 uhr zum frühkonzert auf. dann feierte ein gut gelaunter pfarrer das hochamt zum jahresausklang vor vollem haus.

so richtig los ging es aber erst danach. alt und jung versammeln sich traditionellerweise im nahe gelegenen restaurant försterhaus. rösti, bratwurst und spiegeleier werden in rauhen mengen gereicht, für feine gemüter gbit’s dazu wasser, für harte rotwein. eine handörgeligruppe spielt auf, und im nu kommt das volksfest zu ehren des patrons der kirche und der gemeinde mit volk und honoratioren auf.

die zusammenhänge zu silvester werden einem dabei so klar wie sonst nirgends. der letzte tag im christlichen kalender hat seinen namen vom römischen papst silvester, der am 31. dezember 335 verstarb. heilig gesprochen wurde er, weil er, nach dem wegzug des kaisers aus rom nach konstantinopel, auf listige art und weise den kirchenstaat in italien gründet hatte.

gestorben sind vielerorts und an vielen tagen auch tiere, zu dessen schutzheiliger silvester bald wurde. als im 17. jahrhundert die maul- und klauenseuche auch unter den tieren wütete, die bei der kapelle von st. silvester im sensegebiet weideten, versprach das burgerspital im entfernten freiburg den hirten köstliche gaben, sollte die krankheit überwunden werden.

in st. silvester ist man überzeugt: dank silvester gelang die rettung der tiere vor ort. und deshalb feiert man den heiligen silvester nirgends so innig wie im hinteren sensebezirk. auch heute brachte der präsident des burgrspitals 30 kilo käse und einen riesigen schinken nach santifaschtus, wie st. silvester im idiom heisst. geweiht wurden sie während der morgenmesse. das ist der sakrale part des festes, der populäre findet beim essen und trinken danach statt.

nicolas bürgisser, der oberamtmann des sensebezirks, mag nicht mehr wie viele seiner vorfahren-untertanen arbeiten und schweigen. seine gabe ist es, zu arbeiten und darüber zu reden. so vermarktet er quasi im nebenamt seine gegend. nur zugerne hätte er gehabt, der grosse weihnachtsbaum vor dem bundeshaus, wäre aus st. silverster (eigentlich: heiliger waldmann) gekommen. der geht die grenze anders als gedacht, und so stammt er aus plasselb.

erfolgreicher war der geschickte bürgisser bei mir. vor zwei jahren lud er mich nach einer “arena”-sendung zur örtlichen silvester-feier ein. diesmal sollte es klappen. und so mailte er vorgestern frohlockend: ausser der papst heirate heute, sei man ganz “in”, denn über das fest in st. silverster werde auch im radio und fernsehen berichtet werden.

doch das war nicht der grund meines besuches bei den einheimischen hart an der diesseitigen sprachgrenze. denn ebenso hart an der jenseitigen lebten einst meine grosseltern, auch meine eltern in der nachbargemeinde von st. silvester. und auch ich verbrachte in der gegend schon mal kinderferien. so kam ich auch ein wenig in eine welt, aus der ich eigentlich stamme. ein tolles erlebnis!

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décroissance will in bern wachsen

es war eine unübliche beilage, die gestern mit den berner zeitungen kam: “Décroissance – Die Mutmacherin” hiess sie. aufgerufen wird damit, sich vom wachstumszwang zu befreien. 120’000 potenzielle leserInnen hat man so bedient, denn die neue politökonomisch inspirierte bewegung will rasch anhängerInnen gewinnen.

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immer mehr städter und städterinnen wollen wissen, woher ihr rüebli kommt

das visuelle am titelblatt des maganzins sprach mich nicht an. eine soziokulturelle beilage, wie man in bern jenseits des mainstream silvester feiern kann, dachte ich mir zuerst. dann blieb ich beim stichwort “mutmachen” hängen – und begann mich zu interessieren.

das wachstum in den ländern des nordens könne nicht die lösung sein, las ich im editorial von philipp zimmermann, student der geschichte und präsident der grünen in spiez. vielmehr sei der wachstumszwang das hauptproblem. unterlegt wurde das in der folge mit dem neuesten buch der bekannten publizisten urs p. gasche und hanspeter guggenbühl. “Schluss mit dem Wachstumswahn – Pladoyer für eine Umkehr” ist ihr titel und passt genau ins konzept der décroissance.

entstanden ist die bewegung in frankreich innerhalb der grünlinken aktivistInnen. bisher fand sie vor allem in der französischsprachigen schweiz unterstützung. im märz 2010 fanden sich einige berner sympathisantInnen in der brasserie lorraine zusammen und beschlossen den brückenschlag über die sprachgrenze. basisdemokratisch und offen versteht man sich. im käfigturm, dem alten gefängnis, das zum polit-forum der eidgenossenschaft umgebaut worden war, wagte man sich mit einer vortragsreihe erstmals an die öffentlichkeit. im magazin ist so ein “abc der décroissance” entstanden, das einem das weltbild der neuen bewegung handlich erschliesst.

scharf kritisiert wird etwa der green new deal, der basis des wirtschaftskonzepts der schweizer grünen werden könnte. widersprochen wird ihm, weil er, in anlehung an den new deal des amerikanischen präsidenten roosevelt, ein neuer wachstumspakt sei, um mit ökologisch ausgerichteten wachstum aus der wirtschaftskrise heraus zu finden. das wirkt für die décroissance-leute wie klimaretten mit easy-jet – und ist damit schon im ansatz diskrediert.

wer in rom nach mailand wolle und im zug nach neapel sitze, müsse umsteigen, nicht die verlangsamung der fahrt verlangen, lese ich einige seiten später. nullwachstum wird so begründet, das ohne arbeitslosigkeit möglich sei. wenn die notwendige umstrukturierung langfristig vorbereitet werde, verlaufe der übergang ohne soziale härten, verspricht der deutsche buchautor helmut knolle. und adriano mannino, philo-student und juso-aktivist in zürich, propagiert das grundeinkommen zur absicherung aller, sollte es nicht klappen.

wenn sich die männer in der broschüre mit der theorie befassen, sind die frauen für die praxis zuständig. ursula schmitter, familienfrau in interlaken, nimmt sich die landwirtschaft vor. empfohlen wird die ernährungssouveränität, die, wie die kleinbäuerliche via campesina, auf selbstversorgung, lokale und regionalen handelt setze. was das im wg-alltag heisst, führt politologin marina bolzli vor. soliTerre, die sich für direkte verträge zwischen produzenten und konsumenten stark macht, liefert den wöchentlichen gemüse- und salatkorb in die vegetarier-haushalte. anti-speziesismus müsse genauso selbestverständlich werden wie anti-rassismus und anti-sexismus, heisst es im weiteren.

es ist ein kunterbund an gelebter alternativer lebensweise, harscher globalisierungskritik und linker ideologiesause, die einem da geliefert wurde. einiges ist mir aus meiner studentenzeit bekannt, vieles ist der ist-zeit angepasst und weniges wirkt auch ein wenig wie eine säkulare religion. verantwortet wird das alles von antidot, einem verein, der meist die woz beliefert, dank grosszügigen spenden aus dem leserInnen-kreis (selbstdeklaration) nun auch via bund und bz 120’000 neue interessentInnen ansprechen konnte.

wow, dachte ich mir, und ertappt mich beim hauptwiderspruch der gross angelegten marketing-aktion: die bewegung décroissance will unbedingt wachsen. sie wird es auch, wie die junge schriftstellerin bolzli selbstbewusst prophezeit. denn immer mehr städtische konsumentInnen wollen wieder wissen, woher ihr rüebli kommt. und das treibt auch die alternative ökonomie an.

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die virtuelle auferstehung der kirche von cluny

cluny steht für so vieles, selbst wenn nur noch weniges davon steht. jetzt zeigt eine virtuelle 3d-rekonstruktion die einst grösste katholische kirche der welt.

Tagesschau vom 27.12.2010

bei der datierung der klostergründung ist man etwas unsicher. gefeiert wurde sie am 11. september 2010, erinnernd an das jahr 910. herzog wilhelm I. von acquitanien stiftete damals im hintersten teil seines reiches, nahe einem seitenfluss der saone, ein kloster. dem frieden sollte es dienen, der im frankenreich durch adelfehden und magyarenstürme arg in bedrängnis geraten war. deshalb unterstellte der edle spender das kloster nicht einem lokalen vasallen, sondern dem papst in rom. nur er sollte über das schicksal des abtes von cluny und seine möchne bestimmen können.

entstanden ist so, ausgehend vom 10. jahrhundert das zentrum eines zukünftigen gottesstaates ohne vergleich, das in seiner besten zeit aus mehr als 1400 klöstern und über 20’000 mönchen bestand. erneurt wurde so die regel des heiligen benedikts, aus dem 6. jahrhundert stammend, die in vielen klöstern der fränkischen christenheit aber in vergessenheit geraten war. gebetet und gearbeitet wurde nun für den papst, der danach trachtete, sich selber über den kaiser zu stellen, um eine unverselle schirmherrschaft über alle christen im und ausserhalb des reiches zu gewährleisten.

die adeligen bis in die heutige westschweiz animierte man tag für tag, schenkungen zu machen, gelobte dafür, die betuchten pensionäre aufzunehmen, um sie auf den weg zum ewigen leben in den himmel vorzubereiten. die nachfahren hielt man an, ihnen gutmütig zu gedenken, um sich so als teil einer väterlich bestimmten familie zu sehen. vorangetrieben wurde in der zeit, als das patriachale rückgrat der christlichen kirchen entstand, auch der kreuzzugsgedanke, vordergründig der befreiung jerusalems gewidmet, faktisch als krieg gegen den sich ausbreitenden islam. mit diesem kampf wollte man die unabdingbare vorherrschaft der christlichen kirche im europäischen festland, aber auch im mittelmeerraum sichern.

symbolisiert wurde das alles durch den bau des damals grössten christlichen gottenshauses in der verlassenen gegend am rande burgunds. im 12. jahrhundert war man damit fertig, und zeigte so sowohl treunen gläubigern in der gegend wie auch den staunenden pilgern aus allen herren ländern, wo man gott am nächsten kam. bis in die zeit der überschäumenden renaissance, als man in rom die st. peter-kirche baute, war cluny der grösste sakrale bau in christlichen abendland.

die französische revolution machte dem prunkbau ein ende. die wut auf die feudale kirche liess man freien lauf. die revolutionäre plünderten die kostbaren werke, brandschatzten das kircheninnere und rissen zwei drittel des monumentalen werken ab. wer selber nach cluny ging, konnte nur noch die überreste sehen und sich anhand von plänen eine vorstellung machen, wie es einst ausgesehen haben mochte.

rechtzeitig zum 1100. geburtstag wartet das weltkulturerbe in der französischen provinz mit einer neuerung auf. aufgrund von modellen und plänen aus dem 18. jahrhundert, erstellt unmittelbar vor der zerstörung des baus, wurde die kirche neu erstellt. nicht reel, aber virtuell. so kann man dank modernster filmtechnik, vermittelt durch 3d-flachbildschirme, einen eindruck bekommen, wie cluny aus romanischer zeit seinerzeit aussah, wie das gotteshaus ausgestaltet war und wie es auf die zeitgenossen gewirkt haben mag.

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das vergangene steuerparadies

es ist ein tolles weihnachtsgeschenk, das der bernische historische verein seinen mitgliedern gemacht hat. denn sie haben das neueste buch über berns geschichte erhalten, verfasst von stefan altorfer-ong, das er unter dem titel “staatsbildung ohne steuern” geschrieben hat.

178_9_AHVB_Bd86_grder werdegang des jungen historikers ist unüblich. nach dem studium an der uni bern ging er nach paris, schliesslich nach london, um sich vertieft seinen wirtschaftshistorischen studien zu widmen. seine 2007 auf englisch erschienene dissertation ist nun in modifizierter form auf deutsch auf den buchmarkt gekommen. einen surpluse-state nennt altorfer seinen jetzigen wohnsitz singapur, wo der staat keine schulden macht, sondern überschüsse erzielt. das war, so eine treffende beobachtung des autors, auch im staate bern des 18. jahrhunderts der fall.

die analytische kette, die altdorfer zur erklärung der unerwarteten sachverhalts entwickelt, ist elaboriert. am anfang aber steht ein für damalige verhältnisse grosser staat, der nach einer heftigen expansion im 15. und 16. jahrhundert abschied vom krieg als mittel der eroberung nahm. tiefe verteidigungsausgaben waren die folge, aus denen budgetüberschüsse resultierten, die staatsschulden zum verschwinden brachten, gewinnbringende investitionen begünstigten, was es erlaubte, weitgehend auf steuern zu verzichten. parallel zu diesem auch für die staaten des 18. jahrhunderts untypischen befund führt altorfer drei ergänzenden kreisläufe ein:

erstens, den milizkreislauf, mit dem die patrizier wie die untertanen ihren dienst an der gemeinschaft, den militärdienst, unentgeltlich erbrachten.
zweitens verweist altorfer aus dem investitionskreislauf, der zuerst den salzhandel beförderte und einträge brachten, dann zu reserven führten, die zuerst in london, dann in amsterdam und schliesslich über an königshöfen geldbringend angelegt wurden.
drittens kommt der analytiker auch auf den repräsentationskreislauf zu sprechen. der weitgehende verzicht auf steuern erlaubte eine spezifische form der herrschaft. die untertanen, blieben im lokal autonom, und bewaffnet. das erforderte von den landvögten rücksichtnahme, wenn sie mit gewinn nach bern zurückkehren wollten.

das material, das der junge historiker hierzu ausbreitet, ist nicht überall neu. es ist aber in vorbildlicher weise systematisch gesammelt und aufgearbeitet worden. im eben erschienen buch wird es, nach einer übersicht über die patrizische herrschaftsform in der res publica bernensis, in gut verständlicher form unter drei gesichtspunkten präsentiert: der langfristigen entwicklung der staatsfinanzen, ihrer umverteilung zur erfüllung der staatsaufgaben und ihrer anlage im ausland.

besonders wertvoll sind die gut 300 seiten zielgerichteter darstellung bernischer wirtschaftsgeschichte namentlich wegen des standpunktes des autors. wegen seiner guten quellenkenntnisse zur lokalgeschichte gelingt es ihm, vorhandene, sozialwissenschaftlich-vergleichenden vorgehensweisen zum leben zu erwecken. so spannt er den bogen zu grossen themen der geschichte der frühen neuzeit. dazu zählt, wie sich der steuerstaat herausgebildet hat. der üblichen these, dies sei via kriegsführung und bedarf zu anonymen kapitalmärkten mit aktiengesellschaften geschehen, kann er mit dem beispiel des bernischen staates gegenüberstellen: denn der staat entwickelt sich ohne steuern zu erheben und hierfür eine bürokratie zu entwickeln.

einen domänenstaat nennt altorfer bern im 18. jahrhundert ist, der im mittelalter ausgeformt wurde, sich mit der reformation aber verändert hatte. deshalb erhebt er ihn gar zum “unternehmerischen domänenstaat”, denn mit salz und finanzen ging der bernische staat im 18. jahrhundert geldbringend um – besser als dies noch bis ins 16. jahrhundert der fall war, aber weniger gut als das kolonialmächte ausserhalb der eidgenossenschaft vollbrachten. so erscheint das bern der damaligen zeit gleichzeitig als fossil wie auch als trittbrettfahrer, das seine vorteile unter veränderten geopolitischen bedingungen einzubringen wusste.

an die politische geschichtsschreibung gewohnt, liesst man die wertungen des autors an verschiedenen stellen überrascht und irritiert. denn sie könnte auch zur rechtfertig der feudalherrschaft angesehen werden. diese betriebsblindheit ist wohl jeder wirtschafts-, sicher aber jeder finanzgeschichte eigen, deren vorteil es dafür ist, die grundlage des funktionieren eines staates aufzuzeigen. und diese war patrimonial, aber weder eindeutig absolutistisch (wie spanien oder portugal) noch konstitutionell (wie ungarn oder polen), womit sie in der geschichtsschreibung als wenig beschriebener, eigener typ gelten kann.

die ironie der bernsichen geschichte im 18. jahrhundert ist allerdings, dass er erwirtschaftete überschuss als ultimo ratio für den kriegsfall galt, denn mit dem staatsschatz wollte man sich im kriegsfall wenigstens akut autark finanzieren. napoléon kriegsführung ohne staatsgeld führte dann dazu, dass gerade die staatsschätze reicher republiken wie venedig und bern zu eigentlichen kriegszielen avancierten, mit den die adeligen steuerparadiese jen- und diesseits der alpen ihr ende fanden.

stadtwanderer

bald millionär!

wahrscheinlich schaffe ich es nicht ganz: doch bin ich megamässig nahe an der ersten million besuche auf dem stadtwanderer innert jahresfrist.

gegenwärtig sind es rund 953’000, die in den letzten 12 monaten mindestens 1 mal auf diesem blog waren oder einen beitrag angeklickt haben. gegenüber dem vorjahr ist das eine wachstumsrate von fast 50 prozent. runter gebrochen auf den tag bedeutet das, 2500 besuche zu haben (mit rund 4000 aufgerufenen seiten).

445633674-slumdog-millionaer-boyle.9“slumdog millionaire”: der film über die hoffnung nach mehr steht auch am anfang dieser stastistik, wenn auch nicht in geld, sondern in besuchen auf dem stadtwanderer

bezogen auf den einzelnen beitrag sind das die 10, die 2010 am meisten interessierten. im schnitt wurden sie rund 30 sekunden konsultiert. bei meinen grenzerfahren heisst sind es am meisten: 12 stunden (oder 1 pro monat) wurde er insgesamt besucht. hier die anderen top-ten beiträge des stadtwanderers

5241 aufrufe grenzerfahrungen (2008)
4117 aufrufe wenn zeitalter sterben (2008)
3930 aufrufe kirchenmarketing zur zukunftsbewältigung (2009)
3481 aufrufe meine morgige rede an der burgunderausstellung (2008)
3084 aufrufe i have to say sorry! (2008)
2919 aufrufe herodot – der vater der geschichtsschreibung (2006)
2804 aufrufe steuern zahlen in der stadt bern (2010)
2716 aufrufe lob für meine kommentatorInnen (2009)
2615 aufrufe die denkwürdige kirchweih von köniz (2007)
2576 aufrufe besuch auf der glungge (2009)

stadtwanderer

einige davon kommen ja nicht zum ersten mal in dieser rubrik vor, sind eigentliche longseller. von denen, die ich 2010 geschrieben habe, hat sich der zum steuernzahlen in bern und anderswo gleich an die spitze gesetzt. wenn das kein omen ist, für einen der bald millionär wird …

stadtwanderer

der stadtwanderer im zeitraffer

was für ein jahr! – ein kurzer rückblick …

Schweizer-Bundeshaus-in-Bern
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2010 begann für mich verhalten. dann taute ich an einem konzert der “dubliners” in bern auf. die ersten wanderungen begannen mit dem frühling. ein ausflug nach venedig weckte freude. überraschungen im zug streute würze ins geschehen, und ein vortrag in düsseldorf brachte mit die ruhr-zentrale näher. dann gings ins bergell, sternstunden drehen, und nach schweden, jahresferien geniessen. der herbst war politisch: zuerst bundesratswahlen, dann die demontage der armee durch den bundesrat. das alles hat mich nachdenklicher werden lassen: zum jahresende gabs vorträge, zum beispiel über die zukunft der gemeindedemokratie mit politikerInnen des kantons und über die geschichte der stadt in der schweiz mit dem rotary club von bern.

die vielen beruflichen verpflichtungen einerseits, das bloggen in anderen notizbüchern andersetis haben die zahl meiner stadtwanderungen etwas zurückgehen lassen. 10 geführte touren waren es dieses jahr, alle haben spass gemacht, und deshalb werden ich diese leidenschaft auch 2011 fortsetzen. zum beispiel mit spiezerInnen bern besuchen, eine leckerbissen für kommende jahr!

voilà, die 12 beiträge des jahres 2010, die mir am meisten bedeuten:

januar: obwohl gerüchte faszinieren ist es besser sie zu ignorieren

februar: das konzert als lebensform

märz: der geburtstag des stadtwanderers

april: die grafen von habsburg und ananas

mai: lachen mit peter sloterdijk

juni: direkte demokratie, steuerlasten und weltmeisterträume

juli: tv-produktionen im palazzo castelmur

august: zum roten krug

september: gewählt ist … simonette-jacquelin schneider-sutter

oktober: bald nur noch schall und rauch …

november: über immer mehr immer weniger entscheiden können

dezember: die stadt neu denken

ps:
einen beitrag habe ich nicht richtig in den jahresablauf integrieren können, doch ist er wichtigste überhaupt: der nachruf auf rom.,der ersten journalistin, die 2006 über mein stadtwandern berichtete.

stadtwanderer

die schweizer medien – les médias suisses

ein thema – zwei bücher, eine recherche – zwei perspektive, eine buchvernissage – zwei preise!

0-3413478richard aschinger spricht leise. die worte kleben ein wenig an seinen lippen. seine augen sind fest auf das manuskript gerichtet, das er in seiner recht hand hält. mit der linken gibt er, wenn es ihm wichtig wird, den takt vor. verhaltener protest eben. dann erhebt sich sein blick ein wenig über den brillenrand hinaus, sucht das publikum, um es etwas verdeutlicht anzusprechen. wenn er dabei seinen kopf leicht bewegt, fallen die ungekämten haare etwas weniger auf.
viele jahre hat der gestandene und gealterte journalist über und für die schweiz berichtet. aus new york, aus zürich und aus bern. internationales, nationales und lokales hat ihn stets interessiert. für letzteres ist der redaktor des “tagi” und des “bund” sogar mit einem preis ausgezeichnet worden. seither wirkt er als freier autor – vor allem über die entwicklungen der medienlandschaft schweiz. das ist nicht nur selbstbeschäftigung, das ist auch eine grundfrage zur zeit.
das buch, das aschinger verfasst hat, heisst “Die News-Fabrikanten. Schweizer Medien zwischen Tamedia und Tettamanti”. vielleicht ist das dem verlag schon etwas peinlich, weil diese news nur wenige tage nach dem druck schon etwas antiquiert wirkt. deshalb listet der europa-verlag das buch unter “Schweizer Medienmachen. Schleckzeug statt Information”. so wird wohl die zweite auflage heissen, um etwas zeitloser gültig zu sein.

eclectica_infopop_couv250dieser titel ist auch deutlich näher an der französischen version. geschrieben hat sie christian campiche. benannt wird sie “Info-Popcorn. Enquêtes au coeur des médias suisse”. das trifft das projekt genauer, denn entstanden ist, nach vielen jahren der absenz, wieder einmal eine kritische gesamtschau zum stand der schweizer medien.
campiches auftritt bei der vernissage ist eleganter als der von aschinger. das beginnt schon beim grau melierten haar, das der riese fast zwei meter über dem boden trägt. seine worte ans berner publikum sind auch gewählter, aber nicht minder deutlich. dafür hat auch welsche journalist ein manuskript mitgebracht, und er hält es fest in beiden händen, genauso wie er seinen gegenstand zupackend vor augen hatte.

recherchiert haben die beiden medienkollegen gemeinsam. ihr thema: der zerfall der medien angesichts der konkurrenz auf dem werbe- und medienmarkt, die neuorganisation der presse in form von konzernen und die fragile rolle der öffentlichen meinung in der mehrsprachigen demokratie der schweiz. wahrlich, zwei bücher zur zeit, und vorteilhaft, dass wieder einmal ein thema nicht nur aus zürcher oder genfer optik behandelt wird und das verfasste das als schweizerisch gilt, sondern ein bilingues projekt realisiert wurde.

getextet haben die beiden aber unabhängig von einander, nur gegengelesen haben sie die manuskripte, die es seit dieser woche zu kaufen gibt. ich bitte nach der buchpremiere beide um ein autogramm. je eines, dass die medien auf der anderen seite des röschtigrabens beschreibt. richard aschinger ist ganz verlegen, braucht ein weile, bis er die situation rafft, um dann in berndeutschem französisch sich über die liebe zwischen den landesteilen auszulassen, die blüht, weil man sich nicht immer mit der nötigen deutlichkeit verstehe. christian campiche kommt ohne verzug zur sache. deutsch meidet er aber, dafür schreibt er in sauberem französisch, tamedia (und tettamanti) seien alleweil besser als hersant aus frankreich.

was in ihren büchern steht, weiss ich noch nicht. die buchankündigungen und die ersten buchbesprechungen versprechen viel. zum beispiel eine analyse zur lage der nation. denn ohne medien gäbe es keine gesellschaft mehr. und genau diese medien unterlägen einem rassanten wandel. das alles nehme ich mal zur kenntnis, mit vorsicht jedoch, denn schon im klappentext lese ich, wie die pr in den journalismus vordringt, wie die der markt alles verändert, was um wichtig ist. das ist wohl auch im buchmarkt so.

a propos buchmarkt: 38 francs bezahlt man für die version von campiche, 26 franken für die von aschinger. nur während der buchvernissage in der münstergasse-buchhandlung waren beide noch gratis …

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orte und nicht-orte, in bern und anderswo

gemeinhin bringt man geschichte mit zeit in verbindung. denn die geschichte ist sowohl das geschehene, wie auch die erzählung darüber. alles erzählte hat einen ort, an dem etwas geschah, an das man sich erinnert. orte, kann man sagen, haben geschichte, sind ausdruck von beziehungen und stiften identität. wer den stadtwanderer kennt, weiss um genau diese zusammenhänge.

9783406605680_largemarc augé, ein führender ethnologe in frankreich, entdeckte die nicht-orte. flughäfen, supermärkte, flüchtlingslager sind für ihn orte des ortlosen. ihnen gemeinsam ist der übergang. weder wird man an nicht-orten heimisch, indem man sich niederlässt, wohnt und privatheit entwickelt. noch sind sie orte des öffentlichen lebens im eigentlichen sinne, weil man nur auf durchreise ist, sich mit waren eindeckt, die man mitnimmt, oder mit eben diesen versorgt wird, ohne dass man bleiben will.

nicht-orte schaffen keine gemeinsamkeit, schrieb augé vor knapp 20 jahren in seinem buch über non-lieu. denn an den nicht-orten herrscht einsamkeit vor. sie entstehen mit der modernisierung der lebens, der globalisierung der welt. denn mit ihnen wächst die entwurzelung, nimmt die mobilität und urbanität, lösen sich geschichte und ort auf.

an nicht-orten wimmelt es an menschen, die sich kreuzen, ohne sich füreinander zu interessieren. sie haben es gelernt, sich auszuweichen, statt sich im andern zu spiegeln. sie stellen keine fragen, weil sie gar keine antworten erwarten. sie leben nicht wirklich; sie funktionieren nur.

so treffend die idee von marc augé war, um die veränderungen in den städten der gegenwart zu diagnostizieren, so fragwürdig bleibt seine pauschalisierung. denn heute wird kein einkaufszentrum mehr gebaut, das nicht auch als treffpunkt dient, mit erlebnisparks für kinder, kinos für jugendliche und restaurants für erwachsene. so flüchtig das leben da auch sein mag, immer wieder finden sich auch an orten des ortlosen orte des treffens. flughäfen wiederum sind orte des wiedersehens und der freude, der trennung und des schmerzes, der liebe, die neue beziehungen und identitäten schafft. das alles gilt gerade auch für das flüchlingslager, dem chaos der individuellen geschichten, aus dem sehr wohl ein ort neuer kollektiver identitäten entstehen.

eines stimmt schon, wenn man sich durch die neu aufgelegten gedanken von augé liesst: der dichteste ort in bern, ist die altstadt. nicht wegen ihrer architektonischen enge. sondern wegen dem, was in ihr alles geschah, wie es repräsentiert wird und damit ein raum der gegenwart und vergangenheit ist. da kann das westside nicht mit halten. nicht nur weil es neu ist. eher weil es nicht zum bleiben einlädt, höchstens zum verweilen. so dürfte es ein ort unendlicher vieler geschichten werden, nicht aber der geschichte. und erstaunt es nicht, dass ich auf 100 wanderungen, die ich mache, vielleicht eine in die neue kunstwelt am rande des geschehens mache.

stadtwanderer

nicht alles gold was glänzt

wenn es um wirtschaftsförderung geht, ist man in bern von zürich regelmässig beeindruckt. wer es sich etwas differenzierter ansieht, denkt, die standortförderungsorganisatio “greater zurich aerea” sei der hebel hierfür. und wer ganz genau hinsieht, merkt, dass bei weitem nicht alles gold ist, was glänzt.

gza1seit 12 jahren arbeitet die gza als agentur für standortmarketing für den raum grosszürich. diese woche kündigte die direktion der kantonalen volkswirtschaft an, dass es zu einer neuausrichtung kommen werde. nun veröffentlicht die nzz von heute eine evaluierung, welche die univ. st. gallen gemacht hatte – mit kritischer bilanz.

die gza agiert in form einer aktiengesellschaft und hat dafür ein jahresbudget von 4 millionen chf. hauptaufgabe ist es, firmen in den wirtschaftsraum zürich zu holen. die evaluierung zeigt, dass das nur die hälfte der effektiven tätigkeiten umfasst. die andere hat sich aus der sache heraus entwickelt, ohne strategisch geführt und mit den instanzen der kantone und städte koordiniert zu sein. typisch, sage ich da, und verweise ich auf meinen gestrigen artikel!

die ansiedlungspolitik halte sich in grenzen, schreib der bericht weiter. zwischen 2005 und 2008 seienh 133 firmen erfolgreich angeworben worden. total habe das 549 arbeitsplätze gebracht. die regel seien kleinstfirmen, grosse fische sind selten. pro geschaffenem arbeitsplatz bezahle die allgemeinheit 24000 chf.

das profil der organisation wird denn auch kritisiert. erwogen werden drei neuausrichtungen: der erste pfad sieht vor, die gza zu einem reinen gremium der beteiligten kantone und städte zu machen. der zweite schlägt ebenfalls vor, sich von den unternehmen zu trennen, und die aufgaben der gza ganz in die kantonale volkswirtschaftsdirektion zu integrieren.

im dritten modell würde die public-private-partnership bestehen bleiben, die aufgaben der gza aber auf den ursprungszweck zurückgeführt werden. die tätigkeitsfelder und organisationsstrukturen müssten dann ganz auf das marketing ausgerichtet werden, das neue firmen gewinnt.

unter dem strich bleibt: viel weiter ist zürich auch nicht als bern, wenn es um aktive standortwerbung geht. die eben geschaffene hauptstadtregion schweiz mit städten und kantonen kommt einer der propagierten neuausrichtungen letztlich sehr nahe.

stadtwanderer

die stadt neu denken

es war eine gediegene atmosphäre. im hotel bellevue tafelten, wie jeden dienstag, die berner rotarier. dazu erhalten sie einen vortrag. gestern nun war ich an der reihe. um über die stadt in geschichte, gegenwart und zukunft nachzudenken.

tschaeppaet_berngelingt bern der sprung aus der tiefe nach ganz oben, wie es die hauptstadtregion beabsichtigt?

peter ziegler, präsident der vereinigung, selber politikwissenschafter und ex-chefredaktor des “bund”, hatte mich als stadtwanderer eingeladen, beflügelt von den sensibilitäten für das urbane, etwas über die lage in bern zu berichten. die jüngste entscheidung, die haupstadtregion schweiz zu gründen, bildete einen unerhofft eindrücklichen rahmen.

meine these zum gestrigen vortrag lautete: in der schweiz dominiert das selbstverständnis als ländliche kultur. die gemeinde ist die kleinste zelle der politischen gemeinschaft. letztlich würde sie sich gerne autonom verwalten. doch sie hört zum ämtern, kantonen, zum bund, und sie teilt sich ihre aufgaben mit den verschiedenen staatlichen ebenen. ihre überragende bedeutung erhielt die gemeinde in den 1830er jahren. die herrschaftlichen verhältnisse des ancien régimes wurden durch das aufbegehrende volk gründlich zerschlagen. das zentralistische modell, das die franzosen während der helvetischen republik einführen wollten, wurde abgelehnt, denn das dezentrale galt sichere bremse gegen die ansprüche der partrizier, zünfte und städtbürger, die sich immer als etwas besseres sahen.

damit geriet auch die schweizer stadt, politik-, verwaltungs- und wirtschaftszentrum in einem gewesen war, in die krise. ihre zukunft lag nicht mehr in der politisch abgesicherten sozialen herrschaft, denn mit der trennung von stadt und kanton und der gleichsetzung von stadt und gemeinde verlor sie ihre herausragende stellung. für die wirtschaftliche entwicklung in die breite, auch für die demokratisierung der politik war das unerlässlich – und anfänglich auch verkraftbar, lebten doch in der agrargesellschaft nur 10 prozent der menschen in der schweiz in einer stadt.

doch heute ist das alles ganz anders. mehr als vier fünftel der ökonomischen wertschöpfung werden in den urbanen gebieten erbracht. mehr als zwei drittel der einwohnerInnen leben in einer stadt oder in einer agglomerationsgemeinde rund herum. die industrialisierung hat die städte vergrössert, verstärkt, aber auch verändert. um den mittelalterlichen kern vieler städte sind neue quartiere entstanden, bisweilen sozial gehoben, bisweilen sozial bescheiden. die verlagerung der ökonomischen aktivitäten vom zweiten in den dritten sektor hat die gerade in den städte die neuen dienstleistungen im gesundheitswesen, in bildungsstätten, im handel, in banken, in versicherungen rasch anschwellen lassen. das leben auf dem grünen wurde lebensinhalt der städterInnen und hat das urbane von den zentren hinaus in die peripherien getragen. aktuelle schlägt das pendel wiederum. nicht zuletzt mit der neuen migration ist die kernstadt wieder attraktiver, wirtschaftlich, sozial und kulturell, und sie boomt, mit allen vor- und nachteilen.

mit dieser rasanten entwicklung von der stadt des 18. zu jener des 21. jahrhunderts hat die politische entwicklung nicht mitgehalten. sie ist im wesentlichen im volksdenken des 19. jahrhunderts stehen geblieben, verbunden mit einigen, eher technokratisch ausgerichteten neuerungen, die in der nachkriegszeit schrittweise eingeführt worden sind. die probleme hat das nicht wirklich behoben: so fallen die steuern dort an, wo man wohnt, nicht aber wo man arbeitet oder die freizeit verbringt. mit querfinanzierungen versucht man das gröbste zu vermeinden. doch kann das nicht darüber hinweg täuschen, dass wir in vielem über quartierfragen entscheiden, nicht über kernfragen.

den versuch, das alles wieder ins lot zu bringen, erleben wir gegenwärtig, insbesondere in bern. der kanton hat sich dezentralisiert, aber auf mittlerer stufe, denn er will mit regionalkonferenzen übergeordente fragen wie verkehr, soziales und kultur besser koordinieren. idealistInnen halten das für ein viel zu schwerfällige staatsreform, fordern, bern neu zu gründen, das heisst durch fusionen starke kernstädte in den wichtigen agglomerationen entstehen zu lassen. noch findigere zeitgenossen haben ermittelt, dass es dem kanton bern besser gehen würde, wenn er sich nach basler vorbild in bernstadt und bernland teilen um noch mehr subventionen zu erhalten. das alles zeugt davon, dass man nach neuen politischen strukturen sucht, die der gewandelten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen realitäten rechnung tragen. weil die jetzigen nicht mehr greifen.

eines wurde mir bei den vorbereitungen zum gestrigen vortrag klar: die urbanität der schweiz hat sich in den letzten 15 jahren stark entwickelt. die ruralität ist in die defensive geraten. gerade deshalb erhebt sie sich in den hergebrachten strukturen so kraftvoll – vor allem aber als abwehr alle dessen, was man mit stadt und abstieg auf dem land in verbindung bringt, dem der abstieg effektiv droht. das blockiert uns gegenwärtig, was der bewältigung von stadt/land-konflikten wenig dienlich ist. es blockiert aber auch die perspektivische betrachtungsweise. man denkt nicht mehr an das, wass die städte in zukunft für den staat bedeuten werden, was sie brauchen, um international zu bestehen, und innerhalb der schweiz ihrer effektiven rolle gerecht zu werden.

man denke, hörte ich nach meinem vortrag einen kommentar, stadtführungen seien fürs gemüt, dabei seien sie eine herausforderung für den intellekt.

stadtwanderer

übrigens: die informativsten politische städteporträts der schweiz findet man auf dem web unter badac.

hauptstadtregion gerade noch rechtzeitig aus der taufe gehoben

nach vielen diskussionen, zahlreichen initiativen und einer planungsstudie ist die hauptstadtregion schweiz aus der taufe gehoben worden.

gruendungsvorstandder gründungsvorstand mit den co-präsidenten rickenbacher und flury an der spitze

fünf kantone, 17 städte und 3 regionale organisation haben am letzten donnerstag die hauptstadtregion schweiz gegründet. co-präsidenten des vereins sind vorläufig andreas rickenbacher, sp-regierungsrat und volkswirtschaftsdirektor des kantons bern, und kurt fluri, stadtpräsident von solothurn und fdp-nationalrat.

drei ziele verfolgt der verein:

• die gemeinsame identität stärken und die vernetzung verbessern, um das vorhandene potential der region optimal zu nutzen.
• die nähe zur politik vermehrt als wirtschaftliches kapital nutzen und die damit verbundene wertschöpfungskette stärken.
• die hauptstadtregion schweiz im schweizerischen raumkonzept schweiz gleichwertig positionieren wie die metropolitanregionen.

das ist lobenswert: denn die vorläuferorganisation, der espace mittelland, musste schliesslich ohne grosse ausstrahlung erlangt zu haben, beerdigt werden. nun hat die politik angebissen, realistische vorgaben gemacht, und ein erstes budget gesprochen. damit lässt sich ab 2011 ein netzwerk aufbauen, das einfluss nimmt, auf kommende raumanalysen, und auf institutionelle neuerungen.

symbolisch wurde der verein im inselspital gegründet, einem der zentralen wirtschaftsfaktoren der hauptstadtregion. denn das medizincluster der region kann sich sehen lassen. möglich wäre es auch gewesen, die gründung mitten im bahnhof bern vorzunehmen, weil dieser für die vernetzung des westlichen mittellandes absolut zentral ist.

im arbeitsprogramm 2011 figurieren zahlreiche konkrete projekte:

• hauptstadtfunkition: wissenschaftliche analyse der volkswirtschaftlichen bedeutung der hauptstadtfunktion und definition von massnahmen zur stärkung der entsprechenden wertschöfpungskette,
• s-bahn: aufbau eines integrierten öv-gesamtsystems mit einer leistungsfähigen s-bahn als rückgrat,
• öv-knoten bern: vertretung des projekts «Zukunft Bahnhof Bern» durch gemeinsame lobbyarbeit auf aundesebene,
• raumkonzept schweiz: zusammenarbeit bei stellungnahmen und gemeinsame lobbyarbeit bei der umsetzung des raumkonzepts,
• universitätsspital insel und weitere allianzpartner»: positionierung der hauptstadtregion als kompetenzregion für ein anwendungsbezogenes gesundheitswesen im in- und ausland,
• mehr- und fremdsprachige und internationale matura: schliessung einer lücke in der hauptstadtregion.

ich freue mich, dass das netzwerk noch knapp rechtzeitig fertig geworden ist, um die wichtigste aufgabe zu erfüllen, wie ich sie auf der website formuliert habe: “Berns Stärke als Politzentrum hat nationale Reichweite. Darauf muss man setzen und Berns Rolle national ausrichten – als zentrale Schaltstelle der drei schweizerischen Metropolitanräume Zürich, Basel und Genf/Lausanne.”

stadtwanderer

lob dem schwindenden gemeinwohl

“Selbstverständlich zurückzugreifen auf die Konensressourcen eines von einer breiten Mehrheit geteilten Gesellschaftsvertrages ist heute nicht mehr möglich.” georg kohler, der das sagt, forschte als professor für politische philosophie an der universität zürich unter anderem zum schweizerischen selbstverständnis. darüber schreibt er in der woche nach dem ja zur ausschaffungsinitiative in der nzz am sonntag ein essay zu lage der nation.

011106BEX500wenn politik zur pokerrunde jede(r) gegen jede(n) verkommt, stirbt das gemeinwohl – und damit auch die fähig, in einer welt des globalen verhandels sinnvoll bestehen zu können.

kohler zentrale frage lautet “Wie kann ein Land, dessen Lebensformen stets darin bestanden hat, in grösstmöglicher Weise neutral zu bleiben, mit der Tatsache einer mehr und mehr supranational regulierten Welt fertig werden?” seine antwort ist nicht einfach: kluge politik erfordere heute anpassung an normen, die man nicht selber gesetzt habe; sie verlange ein gefühl für die stimmungslagen von funktionseliten, welche die multipolare welt beherrschten.

kohler weiss es selber: das alles widerspricht dem kollektiven unbewussten der schweiz. dieses sei durch den krieg bestimmt worden, aus dem der wille zum zusammenhalt jenseits kultureller unterschiede entstanden sei. heute bestimme indessen nicht der krieg das geschehen, sondern die verhandlung. in verhandlungen zu bestehen, setze gemeinsame ziele voraus, die man kohörent verfolge. genau daran kranke die schweiz.

denn die inneren polarisierungen hätten tiefe gräben in den boden für eine gemeinsamen strategie jenseits der abkapselung geschlagen. anders als auch schon, seien nicht mehr verschiedene interessen die ursache. vielmehr gehe es um das eigene, den kampf um das selbstverständnis der schweiz.

die nationalkonservative seite habe mit ihrer abgrenzung von allem zunächst die besseren karten, sei es durch den rückgriff auf mythen in der geschichte oder durch die mobilisierung von unsicherheit angesichts realer veränderungen. doch all das sei trügerisch, hält kohler dezidiert dagegen, denn in der jetztzeit könne man sich gar nicht mehr abkoppeln. die bewältigung der grossen probleme der gegenwart liesse sich nur druch kooperationen lösen.

zu dem, schliesst kohler, ist die schweiz der gegenwart nicht mehr in der lage. innerlich zerrissen, beschäftige sie sich nicht mehr mit dem aussenpolitischen notwendigen, sondern nur noch mit dem eidgenössisch verträglichen. sie wähle nicht mehr den kompromiss, sondern setze auf extreme. das sei gefährlich. sinnvoller sei die suche nach dem gemeinwohl, was stets das “gut schweizerische” gewesen sei. wer das beschädige, falsch oder überflüssig finde, “der tue dem Land keinen Dienst”, meint philosoph georg kohler.

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mitten in der konservativen revolution?

es ist ein grosses wort, die konservative revolution. momentan ist es in vieler leute mund, um den umbruch zu kennzeichnen, den wir gegenwärtig erleben. und so frage ich meine kritische leserschaft: stimmt das alles?

2010-48-cover-smallumittelbar nach den sieg der svp bei den national- und ständeratswahlen 2007 proklamierte christoph mörgeli die konservative revolution. der trend verweise nach rechts, und die svp müssen in medien, in schulen und in der verwaltung gestärkt werden.

spätestens mit der abwahl von christoph blocher aus dem bundesrat galt das papier des zürcher historikers als überholt. auch bei mir. angesagt war eine sachorientiert politik unter partnern mit respekt füreinander. die svp schlingerte eine weile, ging vorübergehend in die opposition und musste zusehen, wie sich der konkordanz-orientierte flügel abspaltete und zur bdp wurde.

mit der finanzmarktkrise begann jedoch ein neues kapitel auch der schweizer politik. das vertrauen in banken wurde erschüttert, als der staat der praktisch insolventen ubs mit 68 milliarden franken aushelfen musste. hinzu kam der druck der usa, aber auch der eu mit den schwarzen listen, der zur aushöhlung des bankgeheimnisses und neuen doppelbestreuerungsabkommen mit zahlreichen staaten führt. die politische aufarbeitung des ganzen ist noch im gang; sie hat den missmut der bürgerschaft gestärkt. die abstimmungsniederlagen der behörden bei der minarettabstimmung, aber auch bei der bvg vorlage zeigten dies exemplarisch.

seither ist die stimmunglage mehr oder minder aufgewühlt. die debatte um die anti-abzocker-initiative des schaffhauser unternehmers thomas minder steht exemplarisch hierfür. versuche der beruhigung kommen vom politsichen zentrum her, das sich in der allianz der mitte neu formiert hat. die vorgezogenen bundesratswahlen diesen herbst hätten diese entwicklung verstärken sollen. bis zum tag der wahl glaubte man das auch; doch mit der departementsverteilung brachen die politischen gegensätze an persönlichen rivalitäten wieder auf.

im zurückliegenden abstimmungskampf war die maximale polarisierung angesagt: svp und sp kämpften bedingungslos für ihre initiativen und verbreiteten ein gefühl von wahlkampf 2011. die medien mischten sich teils mit kampagnenjournalismus heftig ein, und der spiegel der emotionen stieg im ganzen land fast täglich an. am ende obsiegte die svp dreimal, alle andere wurden marginalisiert. trutzig wie die volkspartei ist, versammelt sie sich morgen in der romandie, selbst wenn sie dabei im tiefen schnee tagen muss. auch wenn das alles nicht freiwillig geschieht: politische manifestationen unter freiem himmel haben etwas urtümliches an sich, sind zeichen des politkulturellen wandels.

in der tat, ist das wort der konservativen wende seit dem abstimmungswochenende wieder in vieler leute mund. vom programm von mörgeli spührt man die einflussnahme der svp auf die schule. verschiedenen harmos-volksabstimmungen, die mundart-debatte, und das svp-programm für die volksschule haben das gesellschaftspolitische klima aufgemischt. der direkte übergriff auf die medien scheiterte zwar, wie das krasse beispiel der baz zeigte. dennoch ist unübersehbar, dass der einfluss der svp auf diverse zeitungen gestiegen ist und das sich in den neuen e-medien eine eigene szene ausbreitet. einzig bei der verwaltung spürt man von der angekündigten konservativen revolution noch wenig. deren politisierung wäre wohl auch ein fanal.

dazu passt, dass dieser tage diverse einschätzungen des sich abzeichnende klima ins gleiche horn stossen: die weltwoche heute ahmt einen meiner artikel zur befindlichkeit der schweiz auf dem stadtwanderer nach, indem ich über das thema des rückzugs nach innen spekulierte. unverdächtige politologen wie andreas ladner sehen ähnliches am beispiel der entwicklungen bei volksabstimmung zu fragen des fremden. journalisten und experten tendieren also zur zustimmung, und kaum ein intellektueller dieses landes erhebt seine stimme, um uns vom gegenteil zu überzeugen.

heute morgen ertappte ich mich heute bei der lektüre eines meiner interviews für eine jugendzeitschrift, das nich noch vor der abstimmung gegeben hatte, wie ich den zeitgeist vor einem monat deutete: die schweiz gibt sich bei weitem nicht auf; ihr freiheitswille ist ungebrochen. ihre moderne identität ist angesichts von wirtschaftslage und gesellschaftsdiskurs in eine krise geraten. gefragt ist, was angesichts der aktuellen unsicherheit von dauerhaftem wert erscheint.

stecken wir mitten in der konservativen revolution?

stadtwanderer