Höhepunkt der Stadtwanderer-Saison 2020

Die (Corona-bedingt kurze) Stadtwanderer-Saison 2020 nähert sich ihrem Höhepunkt. Das steht im Herbst noch auf dem Programm:

1.10.2020 Thema “Lobbying”, Team-Anlass gfs.bern
3.10.2020 Thema “Ochsenbein”, Offene Führung
10.10.2020 Thema “Demokratie”, privater Anlass
11.10.2020 Thema “Demokratie”, privater Anlass
12.10.2020 Thema “Niederlande in Bern”, SP-Anlass (1. Runde)
13.10.2020 Thema “Jugendpolitik in Bern”, Alumni DSJ
19.10.2020 Thema “Niederlande in Bern, SP-Anlass (2. Runde)
21.10.2020 Thema “Murten”, Parlamentsdienste

Weitere Termine für Interessenten sind bis Mitte November 2020 denkbar. Danach ist das Wetter normalerweise zu garstig!

Stadtwanderer

Stadtwanderung Ochsenbein 9: Die bleibende Leistung Ochsenbeins

Es war mir eine Freude, eine so interessierte Gruppen Menschen mit verschiedenen Herkünften auf meine erste “Ochsentour” zu nehmen. Doch nun sind wir am Ende, oder fast. Noch fehlt das Finale!


Das Grab von Ulrich Ochsenbein in Nidau
(Foto anclicken, um es zu vergrössern)

Ich sage es deutlich: Ulrich Ochsenbein muss aus der Vergessenheit geholt und mindestens als Vater der ersten Bundesverfassung geehrt werden!

Die moderne Schweiz ist aus einem Bürgerkrieg hervorgegangen. Das macht es bis heute schwierig, ihre Entstehung zu feiern. 1848 ist die eine Jahreszahl an der Front des Bundeshauses, 1291 die andere. Bis heute ist die populärer, wenn auch bloss von mythologischem Wert.
1848 hat nie den gleichen Stellenwert erlangt, weill es Sieger und Besiegte gab. Das trennt, bisweilen bis heute!
Die Verlierer von damals, die katholisch-konservativen Kantone, sind heue jedoch weitgehend in den Bundesstaat integriert. Sie sind im Ständerat gut vertreten, insgesamt sogar übervertreten. Ihre Beteiligung im Bundesrat wurde 1891 erstmals eingelöst und ist letztlich unbestritten. Bei Abstimmungen flackert da und dort die verstärkte Opposition wieder auf. Doch es heute bei weitem nicht die einzige oder grösste Minderheit in unserem Land. Das ist eine Leistung der CVP und ihren Vorläuferparteien, 1912 entstanden. Die CVP sieht ihre Mission heute als erfüllt an. Sie glaubt nicht mehr daran, die konservativen Katholiken in der Politik repräsentieren zu müssen. Vielmehr will sie die Schweiz zusammenhalten, und die politische Mitte einen.
Den Sieger von damals, den Freisinn, gibt es so wie in den Gründerjahren nicht mehr. Verschiedene politische Parteien können sich auf ihn berufen: Allen voran die FDP, national 1894 gegründet, aber auch Teile der SP, 1888 als Partei entstanden, und es gilt auch für die SVP und ihrer Vorläuferparteien, seit 1937 selbständig. Die historische Meisterleistung des Freisinns ist es, den nötigen nation building Prozess vorangetrieben zu haben. Im Kern war der Freisinn eine bürgerlichen Sammelbewegung, die sich, auf Druck des Referendums, aber auch der Volksinitiative, gewandelt hat. Die Inklusion der der Katholiken gelang vollständig, die der Arbeiter resp. Bauern überwiegend. Hierfür akzeptierte die FDP auch die Beteiligung der politischen Parteien, welche die neuen gesellschaftlichen Schichten unterstützten. Erst bei der Frauenfrage in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte die FDP den Lead in der Inklusionspolitik nicht mehr inne.
Entstanden ist so die Konkordanzkultur der Schweiz. Sie hat die Macht politischer Parteien, die seit den 1890er Jahren stark zunahm, in eine staatliches Ganzes eingeordnet. Das hat Konflikte nicht verhindert, aber ihre kriegerische Note, die sie 1848 noch hatten relativiert. Heute ist der Systemwandel weitgehend mit friedlichen Mitten möglich.

Ulrich Ochsenbein war in jungen Jahren sicher ein radikaler Heisssporn. Aus heutiger Sicht ist sein Hang, den politischen Wandel mit militärischen Mittel vorantreiben zu wollen, sicherlich fragwürdig. Dabei darf man seine politische Leistung allerdings nicht übersehen. Sein Wille zum Staat war entscheidend, dass der heutige Bundesstaat überhaupt entstand. Mehr noch war auch sein Augenmass für das politisch Mögliche massgelich, dass es eine Erfolgsgeschichte wurde. Aus allen 1848er Revolutionen in Europa ist nämlich nur die Schweiz als dauerhafter Staat hervorgegangen!
So sicher, wie es im Nachhinein erscheinen mag, war der Weg vom Staatenbund, den der Wiener Kongress uns verordnet hatte, hin zum souveränen Bundesstaat nicht. Er hätte scheitern können, mit einer Intervention von Aussen, aber auch an der konservativen und radikalen Opposition von innen.
Ochsenbein zog hierfür den staatspolitischen Schluss, dass die Schweiz nicht zentralistisch, aber zentristisch regiert werden müsse! Deshalb warb er für eine Staatspartei aus der Mitte, zuerst im Kanton Bern, dann auch im Bund. Letztlich war es das, was ihn politisch in Ungnade fallen liess. Man könnte es auch so sehen. Er wagte einen wichtigen Schritt zur Konsenspolitik, als es für die politische Konkordanz noch keine tragfähige Basis gab.
Bei allem “Wenn und aber” bliebt: Ochsenbein ist der eigentliche Verfassungsvater von 1848, dem Grundgesetz, das die selbstdefinitierte Souveränität erlaubte und nach Aussen Anerkennung fand. In vielem ist er, wenn auch mit anderen, der Begründer unsere Institutionen, die nicht auf Anhieb, eine entwickelte Demokratie brachten, den Weg dazu aber zu liessen.

Sich der Persönlichkeit und ihrer historischen Bedeutung differenziert anzunähern, war die Absicht meiner Stadtführung. Ich bedanke mich bei meinem Publikum für die kritisch Aufmerksamkeit.

Stadtwanderung Ochsenbein 8: Der erste Bundesrat


Wir stehen erneut vor dem Erlacherhof. Es war von 1848 bis 1857 der Amtssitz des Bundesrats. Ueli Ochsenbein gehörte dem Gremium von 1848 bis 1854 zwei Legislaturperioden lang an, bevor er abgewählt wurde und ganz aus der Politik ausschied.

Die Verfassungskommission hatte es 1848 knapp abgelehnt, den Bundesrat durch das Volk wählen zu lassen. Beim Bi-Kameralismus folgte man dem damaligen Vorbild, nicht aber bei der Regierung. Vor allem wollte man keinen starken Präsidenten, vielmehr berief man sich auch das Prinzip der Kollegialregierung, wie es Napoleon Bonaparte 50 Jahre zuvor die Helvetische Republik eingeführt hatte.
Die Volkswahl des Bundesrats scheiterte in der Verfassungskommission knapp. Die Radikalen favorisierten die Parlamentswahl, die sich besser steuern konnte. Nach der ersten, dreijährigen Amtsperiode entwickelte man ohne Verfassungsgrundlage einen Kompromiss zwischen Volks- und Parlamentswahl, die man Komplimentswahl nannte. Erstes Opfer des eigenartigen Verfahrens war 1854 übrigens Ulrich Ochsenbein.
Mit der Komplimentswahl, die bis in die 1890er Jahre praktiziert wurde, mussten alle Bundesräte am Ende einer Legislaturperiode zurücktreten, sich in den Nationalrat wählen lassen und wurden erst dann von der Bundesversammlung im Amt bestätigt.
1851 gelang dies Ochsenbein noch, doch rutsche er vom Platz des Bestgewählten auf jenen des Letztgewählten. Es war selbst Stimmen der Konservativen nötig, damit er die Wiederwahl durch die Bundesversammlung überhaupt schaffte.
Drei Jahre später scheiterte er ganz. Denn bereits die Wahl in den Nationalrat misslang ihm. Er verstand die Lektion. Bei der Bundesratswahl war er nicht einmal mehr anwesend. An seine Stelle rückte sein ewiger Rivale Jakob Stämpfli als Berner Vertreter im Bundesrat auf.
Was war geschehen? – 1846, bei der ersten demokratischen Parlamentswahl im Kanton Bern, errangen die Radikalen eine überwältigende Mehrheit. Doch verloren sie diese im Verlaufe der Zeit. Um eine regierungsfähige Mehrheit zu bekommen, fusionierten im Vorfeld der kantonalen Wahlen von 1854 die Radikalen und Konservativen zu einer einzigen Staatspartei. Ochsenbein war einer der Förderer dieser Fusion gewesen. Zu gerne hätte er das 1850 auch auf Bundesebene so gemacht, und aus dem politische breit gefächterten «Freisinn» eine einheitliche Partei formiert.
Er kann erster Begründer einer Mitte-Partei in der Schweiz gelten. National misslang es, kantonal setzte er sich durch. Genau das trug ihm den definitiven Groll der Radikalen um Stämpfli ein, weshalb diese seine Wiederwahl vereitelten.
Wie wir heute wissen, ist das in der Schweiz sehr unüblich. Es kam erste viermal vor, letztmals bei der «Abwahl» von Christoph Blocher, der 2007 nach nur einer Amtszeit aus dem Bundesrat ausschied. Bei waren bei der Abwahl Vize-Präsidenten des Bundesrats und kurz davor, den absoluten Karriere-Höhepunkt zu erklimmen. Beiden blieb dies versagt.
Ochsenbein traf die Abwahl sehr hart. Sie warf ihn zunächst wirtschaftlich aus der Bahn, je länger, je mehr aber auch gesellschaftlich. Er war am 1. Januar 1855 der prominenteste Arbeitslose des Bundesstaates! Finanziell stand er vor dem Nichts, denn ein Ruhegehalt gab es nicht. Nicht einmal ein nachträgliches war damals möglich …
Ochsenbein versuchte, sich mit seinem wichtigsten Kapital das er hatte, durchbringen. Der abgewählte Vorsteher des Militärdepartements heuert bei der Armee des monarchistischen Frankreichs an. Für den Krimkrieg versuchte er eine Armee aufzustellen, die er als General befehligen wollte. Es war kein Erfolg, und er gab bald auf. 1871 trat er dann doch noch in den Dienst Frankreichs, nun als General für die republikanische Armee.
Dazwischen hatte er sich ins Seeland zurückgezogen. In Port hatte er das «Bellevue» erworben, wo er sich als Landwirt und Pferdehändler betätigte. Er wurde auch als Schriftstelle aktiv, so zu Juragewässerkorrektion, dem ersten grossen nationalen Bauprojekt des Bundesstaates.
Sein versuchter Wiedereinstieg in die kantonalen Politik für eine christliche Zentrumspartei misslang. Unglücklich kämpfte er vor Gericht auch gegen Anschuldigungen, die er als Verleumdungen klassiert. Zu guter Letzt löste sich ein Schuss aus seinem Jagdgewehr, als er sein Wohnhaus verlassen wollte und traf seine Frau tödlich.
1890 verstarb Ochsenbein vereinsamt in Port. Begraben liegt er auf dem Friedhof von Nidau, da wo ein halbes Jahrhundert davor sein Blickkarriere im werdenden Bundesstaat begonnen hatte.

Stadtwanderung Ochsenbein 7: Das erste Parlament

Diesmal stehen wir vor einem Rätsel. Auf dieser Seite des Hauses heisst es «Du Theatre», auf der anderen ist es das “Hôtel de Musique». Sicher ist nur: Hier tagte das erste Parlament des jungen Bundesstaates und wählte Ochsenbein mit Spitzenergebnis zum Bundesrat. Es war das Highlight seiner Karriere.

Das erste Parlament tagte nur provisorisch in Bern. Als Erstes wählte es Ulrich Ochsenbein zum Nationalratspräsidenten und damit höchsten Schweizer!
Eine Hauptaufgabe war die definitive Festlegung des Sitzes von Parlament und Regierung. Der Entscheid fiel auf Bern; Zürich und Luzern hatten das Nachsehen.
Die Lage zwischen den Sprachregionen, die guten Verkehrswege mit Kutschen und die radikale Kantonsregierung sprachen für Bern. Eine Rolle spielte auch das Angebot, die Räume für Bundesangelegenheiten gratis zur Verfügung zu stellen. Nur hatte man die Räume noch nicht. Das Bundesratshaus, heute Bundeshaus West, mit Parlamentssälen war erst 1858 bezugsbereit.
Provisorisch war auch der erste Tagungsort der Bundesversammlung. Das änderte sich erst 1849, als der Ständerat vorübergehend in den «Aeusseren Stand» und der Nationalrat in die Akademie (heute Casino) zogen.
Da es noch kein Geschäftsverkehrsgesetz gab, welches das Zusammenwirken der beiden Kammern geregelt hätte, tagten im November 1848 die 111 Volks- und 44 Kantonsvertreter gemeinsam im «Hôtel de Musique» statt, oder eben dem «Du Theatre».
Die erste Session machte dem Theater durchaus Ehre. So gerieten Regierungsrat Benz aus Zürich und Stadtpräsident Luvini aus Lugano, in der Debatte so heftig aneinander, dass nur das Duell mit Säbel sie beruhigen konnte. Sieger wurde der Tessiner; der Zürcher blieb mit Verletzungen zurück.
Turbulent geendet hatten auch die vorangegangenen Wahlen in den Nationalrat. Nicht alle konnte validiert werden. Einzelne musste noch ein zweites Mal wählen.
Mit 58 Prozent vereinigten die Radikalen bei den ersten Nationalratswahlen am meisten Stimmen auf sich. Sie stellten 79 der 111 Volksvertreter. Mit grossem Rückstand folgten die Liberalen mit 11 Mandaten, die Katholisch-Konservativen mit 9 und Reformiert-Konservativen resp. die Demokraten mit je 6. Auch im Ständerat gab es eine radikale Mehrheit.
Heute hat sich eingebürgert, den Bundesrat von 1848 bis 1891 als rein «freisinnig» zu bezeichnen. Das stimmt, wenn man die Hauptausrichtung vor Augen hat. Es verdeckt aber, dass es erhebliche Nuancen in der Ausrichtung gab. Links waren die Demokraten, gefolgt von den Radikalen, den Liberalen und den Konservativen.
Nicht eindeutig ist die Zugehörigkeit der gewählten Bundesräte. Der Einfachheit halber zählt man heute alle zur FDP. Doch der reformierte Berner Historiker Erich Gruner sah je zwei Radikale, gemässigt Radikale und Liberale sowie einen freisinnigen im ersten Bundesrat. Der Solothurner Katholik und Bundesratshistoriker Urs Altermatt meinte, es seien fünf der sieben Links-Radikale gewesen, einer Radikal und einer Liberal. Roger Blum, selber ein Freisinniger aus dem Baselbiet, bezeichnete einen als Links-Radikale, 4 als Radikale, zwei als Zentristen.
Ochsenbein war gemäss Gruner schwer zu bestimmen, letztlich aber gemässigt-radikal und bei Blum erscheint er als Zentrist. Ich denke, das stimmt auch. Mit der Einleitung als “Links&Radikal” wie bei Altermatt kann ich weniger anfangen.
Klarer waren die Regel derBundesratszusammensetzung. Je einer kam aus Bern, Zürich und der Waadt. 5 waren Deutschschweizer, je einer französisch- und italienischsprachig. Fünf waren auch reformierter Konfession, zwei katholisch.
Nur einer, der Tessiner, stammte aus einem Kanton, der die Bundesverfassung abgelehnt hatte. Stefano Fanscini war auch der einzige, der nicht schon der Verfassungskommission mitgearbeitet hatte.
Ochsenbein machte bei der ersten Bundesratswahl übrigens das beste Ergebnis. Mit 92 Stimmen wurde er bereits im ersten Wahlgang gewählt. Erster Bundespräsident wurde er aber nicht. Dieses Amt ging an den Winterthurer Jonas Furrer. Es war gleichbedeutend mit der Zuständigkeit für Aussen- und Sicherheitspolitik. Es rotierte aber jährlich. Ochsenbein wäre 1855 dran gewesen, aber eben …
Allen Turbulenzen zum Trotz: Am 19. November 1848 hatte die Schweizerische Eidgenossenschaft sowohl ein Parlament wie auch eine Regierung in Amt und Würden. Damit verstand sie sich erstmals als souveräner Staat.

Stadtwanderung Ochsenbein 6: Das doppelte Grundgesetz

Wir stehen vor dem «Restaurant zum Äusseren Stand». 1831 wurde hier die liberale Kantonsverfassung erarbeitet, und es war 1848 der formelle Tagungsort der Verfassungskommission. Am 12. September 1848 wurde hier die neue Bundesverfassung unterschrieben.

Die Entscheidung, das Volk über die neue Verfassung entscheiden zu lassen, war ein notwendiges Wagnis. Denn man stellte sie als Revision des Bundesvertrags von 1815 dar. Dieser sah jedoch gar keine Revisionen vor und postulierte die alleinige Souveränität der Kantone, vertreten von der Tagsatzung. Vom Volk war damals noch nirgends die Rede. Zudem war der Vertrag von Grossbritannien, Russland und Österreich verfügt worden, – ohne Schweizer Beteiligung. Jetzt wollte man die Verfassung eines souveränen Staates in Kraft setzen. Dafür braucht es die demokratische Legitimation.
Ganz so sicher, war sich die letzte Tagsatzung allerdings nicht. Die Vertretung der Kantone musste einstimmig entscheiden. Doch genau dies hatten die die Kantone nicht getan.
Wie entscheiden?
Hätte die Nation und der Bundesstaat schon bestanden, hätte die Mehrheit entschieden. Und die Minderheit hätte sich fügen müssen. Da würde sie das auch ohne die Voraussetzung machen?
Dreieinhalb unterlegene Kantone akzeptierten die mehrheitlich Entscheidung der Stände und der Völker. Drei blieben hart: Uri, Schwyz und Obwalden. Sie mussten zur Mitgliedschaft im Bundesstaat gezwungen werden.
Das war, staatsrechtlich ein Bruch, deshalb wird er auch als revolutionärer Einschnitt bezeichnet.
Am 12. September erklärte man die neue Verfassung für angenommen. Unterzeichnet wurde sie von den Spitzen der Tagsatzung. Das waren Alexander Funk, der letzte Präsident, und Johann Ulrich Schiess, der Eidgenössische Kanzler.
Allerdings beliess man den Bundesvertrag von 1815 vorerst in Kraft. Man hatte also ein doppeltes Grundgesetz. Aufheben wollte man den Vertrag erst nach der Schaffung der erforderlichen Institutionen. Das war am 6. November für das Parlament und am 16. November für die Regierung der Fall.
Die heutige Geschichtsschreibung geht denn auch eher von einem Prozess der Staatswerdung mit wichtigen Stufen aus. Es braucht zwei Anläufe, und es gab ebenso viele Rückschläge. Am Schluss wagte man den Schritt nach vorne. Heute weiss man: zurecht!
1848 flossen verschiedene Philosophien in unseren Staat ein:
. die doppelte Souveränität von Volk und Ständen mit Bund und Kantonen als eigene Leistung,
. der Bikameralismus aus der Vereinigten Staaten und
. die Bürger- und Menschenrechte aus der Französischen Revolution.
Letzteres wurde zumindest aus heutiger Sicht am wenigstens konsequent durchgesetzt. Das hatte mit dem freisinnigen Projekt zu tun: Über dem Binnenmarkt der sich etabliert hatte, sollte es ein staatliches Konstrukt geben. Individual- und Sozialrechte mussten erst noch vollständig ausgebildet werden.

Stadtwanderung Ochsenbein 5: Die Entscheidung der Kantone

Wir stehen vor dem Berner Rathaus. Es wurde 1418 eingeweiht, aber schon vorher benutzt. Es war Sitz des Bernischen Souveräns, des Grossen Rates. Dieser tagt heute noch hier, genauso wie der bernische Regierungsrat und die bernische Synode der reformierten Kirche. Hier fiel der Entscheid des Kantons Bern zugunsten der Bundesverfassungen nach einer Rede von Regierungspräsident Ochsenbein.

Den zeitgenössischen Berichterstattern war im Sommer 1848 nicht entgangen, dass es nicht nur in den katholisch-konservativen Kantonen Opposition gegen den Verfassungsentwurf gab. Auch in Bern regte sich Widerstand. Doch der kam von den Radikalen. Horror-Szenario der Verfassungsväter war eine unheilige Allianz aus den Innerschweizern, die weniger wollten, und Bern, dem bevölkerungsreichsten Kanton, der mehr wollte. Genauso, wie die Verfassungsrevision von 1832 gescheitert war.
Ochsenbein war sich im Klaren, dass die absolut entscheidende Stunde der Verfassungskämpfe nahte. Es sollte auch seine Stunde werden!
In der massgebenden Versammlung des bernischen Grossen Rates ergriff Ochsenbein als bernischer Regierungspräsident das Wort. Zuerst widerlegte er die radikalen Bedenken gegenüber dem Bundesstaat mit einem Zwei-Kammern-Parlament, dann pries er die Vorzüge des Kompromisses.
Der Coup gelang! Der bernische Grosse Rat folgte nicht dem radikalen Regierungsrat Jakob Stämpfli, der für Nein optierte, sondern Ulrich Ochsenbein. Letztlich hatte sich diese mit seiner Position von den radikalen Idealen verschiedet, und verteidigte er die obsiegende Zentrumsposition. Die gleich anschliessende Volksabstimmung war dann reine Formsache. Bern war für die neue Bundeverfassung.
Ochsenbein verteidigte so auch andere Prinzipien der Verfassungskommission mit Vehemenz:
Die Aussenpolitik war alleinige Sache des Bundes.
Eingeführt wurde ein Binnenmarkt ohne Zölle, mit einheitlichen Massen, Gewichten und nur einer Währung.
Alle Kantonsverfassungen auf der Basis einer demokratischen Republik mussten vom Bund gewährleistet werden.
Die Gewaltenteilung wurde in Ansätzen realisiert. Bundesrat und Bundesversammlung blieben aber verschränkt. Ein Bundesgericht gab es nur für strittige Fragen zwischen dem Bund und den Kantonen, die nicht staatsrechtlicher Natur waren.
Man könnte es auch so sagen: Die wichtigen Elemente, die einen schweizerischen Binnenmarkt ermöglichen sollten, gingen durch. Die Oberaufsicht des Bundes über die Kantone wurde ebenfalls eingeführt. Noch nicht wirklich ausgereift waren das Zusammenspiel der Behörden und die Grundrechte.
Entscheiden mussten alle Kantone, denn sie war der Souverän. Schliesslich votierten 15½ Kantone dafür, 6½ dagegen. Das waren die katholisch-konservativ geprägten Kantone in der Innerschweiz, im Wallis und im Tessin.
Luzern votierte nur mit Hilfe eines Tricks für die Bundesverfassung. Denn man zählte die Abwesenden zu den Zustimmenden. Das entsprach dem Vorgehen eines gescheiterten Vetos, nicht einer Volksabstimmung. Dreister noch ging der Kanton Freiburg vor. Die radikale Mehrheit im Parlament entschied souverän darüber, was das Volk denke.
Bis heute weiss man nicht, wie hoch die Stimmbeteiligung war. Das Bundesamt für Statistik schweigt sich konsequent aus. Beim Volksmehr stehen sich 145’584 Ja- und 54’320 Nein-Stimmen gegenüber. Das ergab eine Mehrheit von 73 Prozent dafür.
Ein Ruhmesblatt der Demokratie war das, wenigstens aus heutiger Sicht nicht! Das sollte bald allen klar werden!

Stadtwanderung Ochsenbein 4: Die Verfassungskommission am Tag und in der Nacht

Wir stehen vor dem Berner “Zunfthaus zu Schmieden”. Die Schmiede waren im Alten Bern eine der vier gewerblichen Gesellschaften, die sich die Quartierverwaltung teilten. 1913 wurde das Zunfthaus zum Warenhaus umgebaut, das heute eine Filiale der Manor-Kette beherbergt. 1848 schrieb es die Geschichte der modernen Schweiz.

Wir stehen vor dem Berner “Zunfthaus zu Schmieden”. Die Schmiede waren im Alten Bern eine der vier gewerblichen Gesellschaften, die sich die Quartierverwaltung teilten. 1913 wurde das Zunfthaus zum Warenhaus umgebaut, das heute eine Filiale der Manor-Kette beherbergt. 1848 schrieb es die Geschichte der Schweiz.
Formell tagte die Verfassungskommission im Äusseren Stand, eine Stresse weiter. Jeder Kanton hatte einen Vertreter. Ulrich Ochsenbein war der Präsident. Das Gremium sollte mit der ersten eigenen Verfassung die Zukunft der Schweiz gestalten.
Informell bildeten sich die Meinung allerdings anderswo. Denn die katholischen Freisinnigen, die Minderheit!, versammelten sich des des Nachts in den Räumen des Zunfthauses zu Schmieden. Deshalb wurden sie der “Clubb zu Schmieden” genannt. An ihrer Spitze stand der Oltner Kaufmann Martin Munzinger.
Anfänglich dachten die Freisinnigen daran, die Tagsatzung als Parlament beizubehalten. Aus Überzeugung geschah dies nicht. Aber es war ein Entgegenkommen an die Kriegsverlierer, und es sollte die europäischen Garantiemächte beschwichtigen.
Doch dann brachen in Europa die 1848er-Revolutionen aus!
Zuerst in Frankreich, dann in Bayern, Österreich und Preussen. Der Ruf nach Republiken machte die Runde. Die Bürger verlangten politische Rechte. Paris, Baden, München, Wien, Budapest, Berlin, Mailand und Venedig standen in Flammen.
Fürst Metternicht, der mächtige Kanzler auf dem Wiener Kongress 1815 musste abdanken!
Die Umwälzungen liessen auch die Verfassungskommission kippen. Die Radikalen verlangten den Einheitsstaat, wie ihn seinerzeit Napoleon konzipiert hatte. Vorgesehen war, wie damals, ein Zwei-Kammern-Parlament; doch sollte nur separat beraten, dann gemeinsam abgestimmt werden.
Das hätte die Souveränität des Volkes gegenüber der der Kantone erhöht!
Unter den katholischen Freisinnigen regte sich Widerstand. Sie wussten um die konservative Opposition in ihren Kantonen, die auf ihre traditionelle Souveränität als Staaten pochten. In der Not rief der gemässigte Munzinger Paul I.V. Troxler, einen liberalen Katholiken, zur Hilfe. Der dozierte als Professor für Staatsrecht an der Berner Universität. Und er war Spezialist für die amerikanische Bundesverfassung.
In der Nacht vom 22. auf den 23. März sollte Troxler im Zunfthaus zu Schieden einen Bundesstaat mit zwei gleichberechtigten Kammern nach amerikanischem Vorbild entwerfen.
Der “Clubb” war sofort begeistert. Anderntags setzte sich ihr Antrag im Plenum durch; die Idee von National- und Ständerat überzeugte. Die Volkskammer sollte in Volkswahlen geschehen, die Kantonskammer durch die Kantonsparlamente bestimmt werden. Der Bundesstaat war in Griffnähe.
Eine zweite Kontroverse betraf die Wahl der Regierung, des Bundesrats. Der Parlamentswahl stand auch hier die Volkswahl gegenüber. Mit knappem Mehr setzte sich ersteres durch. Wahlgremium sollte die Vereinigte Bundesversammlung sein. Da hatte der Nationalrat ein leichtes Uebergewicht.
Während sich in Europa die Revolutionen breitmachten, legte man in Bern bereits im April 1848 einen Bericht vor, der die kommende Bundesverfassung mit allen vorgesehenen Artikel beinhaltete. Der Entwurf ging an die Kantone. Entscheiden sollten sowohl die kantonalen Parlamente wie auch die kantonalen Stimmbürger.
Eine ausgemachte Sache war das nicht. Aus verschiedenen Gründen, wie wir sehen werden.

Stadtwanderung Ochsenbein 3: Die Erneuerung

Wir stehen vor dem Restaurant Zimmermania. Eröffnet wurde es 1841. Schnell wurde es zum Treffpunkt für die politisierenden Studenten. Hier soll die Verfassung des Kantons Bern von 1846 entstanden sein, mit der Ulrich Ochsenbein Teil der ersten radikalen Regierungsrat wurde. Heute gehört es zu den nobleren Restaurants der Berner Altstadt mit gutbürgerlicher Küche.

Der Weg vom Wiener Kongress zum Bundesstaat war von Auseinandersetzungen zwischen Traditionalisten und Modernisten geprägt. Bis 1830 hatten die Traditionalisten das Sagen. Danach herrschte ein Patt mit schwankender Übermacht. 1848 setzten sich mit dem Bundesstaat die Modernisten durch.
Frühe Spuren der modernistischen Politik finden sich beispielsweise in den Studentenverbindungen, die nach deutschem Vorbild an den Schweizer Hochschulen entstanden. 1819 wurde die „Zofingia“ schweizerweit, aber auch in Bern, gegründet. Man gedachte gerne grosser Momente in der Geschichte wie der Schlacht von Laupen. Doch wollte man in der Gegenwart einen neuen Staat schaffen.
1830 gingen die Tessiner voran. Geschaffen wurde der Kanton von Napoleon. Doch der Wiener Kongress hatte ein konservatives Regime installiert. Nach einem Bauskandal wurde es von erbosten Bürgern gestürzt. Eine Kantonsverfassung mit Grundrechten, einem Parlament und einer Regierung wurde eingeführt. Die bürgerliche Presse entstand.
Volkstage, die in Weinfelden ihren Anfang und in Münsingen ihr Ende fanden, verlangten an der Jahreswende 1830/31 das Gleiche für ihren Kanton. Bald war die Mehrheit der Kantone regeneriert. Die Studenten mit ihren Zukunftsideen war zwar voraus gegangen, doch nun gab es auch eine populäre Basis für die politische Erneuerung.
Der ersehnte Durchbruch auf die nationale Ebene scheiterte. Ein Genfer hatte eine Verfassung für die moderne Schweiz geschrieben, ohne dass der Funke zündete. Schliesslich scheiterte das Projekt an eine Mehrheit aus Traditionalisten und Modernisten, die weiter gehen wollten. Das führte auch zur Spaltung der Modernisten in eine liberale und eine radikale Richtung.
Die Spaltung der Modernisten erreichte auch die Zofingia, damals noch eine lose Verbindung ohne Stamm. Die Radikalen gründeten die Helvetia. Ihr Treffpunkt war das neu eröffnete Restaurant Zimmermania. Wer beim Berner Staatsrechtler Ludwig Snell studiert hatte, traf sich hier, um beim Bier zu politisieren. Herausragender Kopf unter den jungen Studentengeneration war Jakob Stämpfli.
Ochsenbein war fast eine Generation älter und stand damals bereits im Erwerbsleben als Anwalt. Der Helvetia trat er nicht bei, er blieb, ohne Aktivitäten in der Zofingia. Dafür wurde er im Seeland Mitglied im Schweizerischen Nationalverein. Auch dieser wollte eine Nation schaffen. Doch trank er dafür kein Bier, vielmehr besuchte er die Schule für Generalstabsoffiziere.
Seine erste militärische Aktion im Rahmen der Freischarenzüge war allerdings ein Desaster. Ochsenbein wurde vorübergehend aus dem Generalstab entfernt, blieb aber dank seinem Mentor Friedrich Frey-Herosé aus Aarau politisch aktiv.
1845 stieg Ochsenbein in die etablierte Politik ein. Er wurde Grossrat im Kanton Bern. Nur ein Jahr später war er bereits Regierungsrat, nun gemeinsam mit dem erst 26-jährigen Jungspund Jakob Stämpfli. 1847 wurde Ochsenbein Regierungspräsident. Er war ganz oben im Staate Bern angekommen. Und er vertrat den Kanton im der Tagsatzung.
Während der Entscheidung zur Auflösung des Sonderbundskrieg war er Tagsatzungspräsident. Zwar wurde er nicht General, als Oberst der Reserve und Bindeglied zur Politik konnte er die Militäraktion aber gut überwachen.
Nach dem militärischen Sieg über die Kantone Freiburg und Luzern im November 1847 übernahmen die Freisinnigen in allen Kantonen die Macht. Gewählt wurde dafür nirgends, aber die wichtigste Voraussetzung für die Schaffung eines neuen Staates war nun gegeben: Aus dem Bürgerkrieg war eine politisch einheitliche Elite, konfessionsübergreifend entstanden, die einen Staat gründen wollte.
Eine ausformuliertes politisches Programm hatte man allerdings nicht. Welche Form der neue Staat bekommen sollte, blieb dementsprechend höchst umstritten.

Stadtwanderung Ochsenbein 2: Was für eine Nation

Wir stehen vor dem Erlacherhof. Erbaut wurde er im 17. Jahrhundert. Es ist das repräsentativste Gebäude der Altstadt. Es diente der Reihe nach als Hauptquartier des französischen Generals Guillaume-Marie-Anne Brune, als Sitz des französischen Botschafter und als Sitz des Bundesrats. Heute ist es der Sitz des Berner Stadtpräsidenten und Tagungsort des Berner Gemeinderats. Es ist ein geeigneter Ort, um über Nationen etwas nachzudenken.


Der französische Schriftsteller Ernest Renan, ein Zeitgenosse Ochsenbeins, prägte den Satz: „Eine Nation muss täglich wollen.“ Sie ist eine vorgestellte Gemeinschaft, die das immer wieder zum Ausdruck bringen muss.
Renan unterschied Kulturnationen, Staatsnationen und Willensnationen. Kulturnationen sind Nationen mit meist gemeinsamer Sprache. In Staatsnationen sorgt ein zentraler Staat für den nationalen Zusammenhalt. Willensnationen liegen dann vor, wenn eine nationale Elite verschiedene Ethnien bewusst vereinigt.
Der Bundesstaat von 1848 entspricht einer Willensnation: Drei Sprachgruppen unterschied man damals und zwei verfeindete Konfessionen gab es. Zusammengehalten wurde alles vom «Freisinn», einer Bewegung aus liberalen, radikalen und demokratischen Strömungen, die sich als gesellschaftliche Elite verstand und einen für damalige Verhältnisse modernen Staat schuf.
Ihre erste Form neuzeitlicher Staatlichkeit erhielt die Schweiz mit dem Westfälischen Frieden von 1648. Die europäischen Grossmächte nannten uns „Corpus Helvetiorum“. Man könnte auch sagen «Staatenbund der Helvetier». Ihre wichtigste Gemeinsamkeit: die Sprache, die sich der Standardisierung seit der Reformation entzogen hatte. Die Eidgenossenschaft wurde auch vom kaiserlichen Recht ausgenommen. Traditionellerweise nennt man das Souveränität. Allerdings wurde längst nicht von allen respektiert.
Keine 20 Jahre nach dem Friedensvertrag von 1648 verstand Frankreich unseren Staatenbund als eigene Dépendence, die sie militärisch und wirtschaftlich abhängig machte. Der Bund lieferte Söldner, Frankreich Waren wie Korn und Salz resp. gewährte Zugang zu Märkten.
In den Worten Renans waren wir keine reine Kulturnation: Zwar wurden wir durch Nachbarschaft, gemeinsame Interessen und geteilte Werte zusammengehalten. Mit der Reformation waren jedoch Konfessionsräume entstanden, in denen sogar verschiedene Kalender galten und sich unterschiedliche Volkscharaktere entwickelten.
Gemeinsam war den Teilgebieten die Dominanz einer Aristokratie des Geldes: in Zürich herrschten gewerbliche Zünfte, in Bern die Patrizier mit Grundbesitz und in Schwyz die Landsgemeinde mit säbeltragenden Bauern.
Die Französische Revolution von 1789 begründete auch bei uns eine neue Nation mit einem anderen Staatsverständnis: Es entscheid der von oben geführte Staat mit zentralisierter Macht und Administration. Er war laizistisch, sprich überkonfessionell und überregional. Unsere Helvetische Republik, wie wir ab 1798 hiessen, führte Institutionen aufgrund der Gewaltenteilung ein. Erstmals gab es ein nationales Parlament aus zwei Kammern; die eine vertrat das Volk und machte Gesetze, die andere repräsentierte den Geldadel und entschied, was galt. Machtwechsel durch Wahlen waren weitgehend unbekannt; eine neue Regierung konnte nur durch einen Putsch zustande kommen. Viermal war dies der Fall, wobei der junge Staat letztlich in einem Bürgerkrieg versank. Zwar klärte Napoleon die Lage nochmals durch die Vermittlung zwischen Traditionalisten und Modernisten. Doch auch das hielt nicht an, denn mit der Niederlage Frankreichs auf den Schlachtfeldern verschwand die vermittelnde Macht. Der Staatsnation, die den Franzosen vorschwebte, fehlten die Grundlagen.
Der Wiener Kongress ordnete Europa im Sinne der Restauration neu. So wurde aus der heutigen Schweiz wieder ein Staatenbund, der durch innere Grenzen und aussenpolitische Neutralität bestach. Die aufgeklärten Institutionen der Helvetik überstanden die Restauration nicht. Die Zeit von 1815 bis 1848 kann als Suche nach einem Ausgleich zwischen der Kultur- und der Staatsnation auf der Basis der Willensnation gesehen werden.
Ein erster Versuch der Neubegründung scheiterte 1832 am beidseitigen Widerstand der konservativen und radikalen Kantone. Erst 1848 war der Schritt erfolgreich, als die Freisinnigen den ersehnten Bundesstaat durchsetzten.
Das war auch die Zeit, während der Ulrich Ochsenbeins Wille zu zählen begann.

Neue Stadtwanderung Ochsenbein 1: Sein Leben

Vorspann:
Am 12. September 2020 wird der Bundesstaat 172 Jahre alt. Anlass auf eine vergessen gegangene, aber zentrale Figur der Gründung Rückschau zu halten.

Wir stehen mitten in der Bundesstadt. Dass wir einen Bundesstaat haben und dass Bern dessen Bundesstadt wurde, verdanken wir mitunter Ulrich Ochsenbein. Er ist auch der massgebliche Staatsgründer. Er ist das Thema meiner neuen Stadtwanderung.
Einen symbolischen Ort für Ochsenbein gibt es in Bern nicht. Denn die einzige Büste, die ihn zeigt, steht in Nidau. Nicht einmal der Tag ist bekannt, an dem Ochsenbein geboren wurde. Immerhin weiss man, dass er in Schwarzenegg bei Thun das Licht der Welt erblickte. Man könnte ihn auch unseren Schwarzenegger nennen!
Die Historiker sind sehr unterschiedlich mit Ochsenbein verfahren. Die erste Biografie fiel kritisch aus; sie zeichnete das Bild eines prinzipienlosen Opportunisten. Die zweite ist wohlwollend und würdigt seine Rolle als vermittelnder Staatsmann bei der Gründung des Bundesstaats 1848.
Meine These lautet: Ochsenbein ist der erste Politiker der Schweiz, der vom Parteikämpfer zum Pragmatiker wurde, um in verschiedene politische Richtungen auszustrahlen. Er war ein früher Vertreter der Konkordanzpolitik, – allerdings zu einer Zeit, als es dieses Politikverständnis noch gar nicht gab. Deshalb fiel Ochsenbein schliesslich zwischen Stuhl und Bank.
Ochsenbein war noch ein Junge, als die Familie nach Moudon übersiedelte. 1825 ging es dann Nidau. Da und im benachbarten Port verbrachte Ulrich fast sein ganzes Leben. Nur während seiner Zeit als Bundesrat wohnte er in Bern.
1835 heiratete Ochsenbein die Arzttochter Emilie Sury aus Kirchberg, mit welcher er eine Wohnung an der Nidauer Hauptstrasse bezog.
In Nidau stieg Ochsenbein in die Politik ein. Er wurde Gemeindepräsident und kurz darauf auch Präsident der Burgergemeinde. Später wurde er bernischer Grossrat, Regierungsrat und Regierungspräsident. Er vertrat den Kanton Bern in der Tagsatzung, präsidierte diese im entscheidenden Moment und war auch Präsident der Verfassungskommission. Er überzeugte sein Kantonsparlament, den Entwurf zur ersten Bundesverfassung gutzuheissen. Den neu gegründeten Nationalrat präsidierte er als allererster. Schliesslich wurde er der erste Berner Bundesrat.
Eine Musterkarriere im jungen Bundesstaat!
Doch es gab auch Brüche in Ochsenbeins Leben. 1845 war er militärischer Anführer im zweiten Freischarenzug der radikalen Jugend gegen das konservative Luzern. Der Angriff endete mit einem Desaster für die Angreifer. Nur Dank seinen politischen Verbindungen konnte sich Ochsenbein halten. Im Sonderbundskrieg musste er sich mit dem Posten eines Obersten der Reserve begnügen. Schweizer General wurde er nie.
1854 verpasste er die Wiederwahl in den Nationalrat, die damals nötig war, um als Bundesrat bestätigt werden zu können Folgerichtig wurde er im Amt nicht bestätigt. Diese Demütigung markiert denn auch das Ende seiner politischen Karriere.
Nach dem überraschenden Ausscheiden aus der Schweizer Politik betätigte er sich als General in französischen Diensten, berichtete als Schriftsteller unter anderem über die Juragewässerkorrektion im Seeland und arbeitete als Landwirt und Pferdehändler. Am Ende seines Lebens klagte er zweimal erfolglos gegen Verleumdungen gegen seine Person. Er versuchte auch als Konservativer den Wiedereinstieg in die Politik – genauso erfolglos!
Zuletzt löste sich ein Schuss aus seinem Jagdgewehr und traf seine Frau tödlich.
Ulrich Ochsenbein starb 1890 vereinsamt auf seinem Landgut „Bellevue“ im seeländischen Port. In Nidau ehrt man den prominenten Bürger mit einer Büste im Schloss (Bild oben). Ein nationales Denkmal zugunsten des Staatsgründers gibt es nicht.
Machen wir uns also auf die Wanderung durch die Berner Altstadt, um zu ergründen, warum das so ist.