wie viele kriminelle ausländerInnen vor ort brauchte es für ein ja zur ausschaffungsinitiative?

es kommt nicht auf den ausländerInnen-anteil an, ob eine gesellschaft bereit ist, mit den Menschen, die sich dahinter verbergen, korrekt umzugehen. es kommt vielmehr auf die bereitschaft einer gesellschaft an, sich dieser herausforderung zu stellen. dabei geht es nicht einmal um die problematik vor ort, sondern um die problematik mit unseren bildern der orte.

Tagesschau vom 29.11.2010
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um gleich mögliche einwände auszuräumen: es geht mir nicht darum, den volksentscheid vom sonntag zu kritisieren. er steht, und er ist unwiderruflich. es geht mir um grundsätzlicheres: nämlich um die frage, was zum volksentscheid geführt hat.

die übliche argumentation lautet: je mehr ausländerInnen es an einem ort hat, desto mehr kriminalität durch ausländerInnen gibt es- und umso wahrscheinlicher ist ein ja zur ausschaffungsinitiative gewesen.

“mitnichten!”, muss ich entgegnen.

am vergangenen sonntag sagten kantone wie appenzell innerrhoden oder uri weit über dem mittel ja zur ausschaffungs-initiative, derweils vor allem baselstadt sie mehrheitlich verwarf. da wiederum ist der ausländerInnen-Anteil hoch, und das trifft auch auf den prozentsatz der ausländerInnen unter den straffälligen zu. in appenzell innerrhoden oder uri wiederum gilt das nicht.

das sind nicht einfach zwei herausgegriffene beobachtungen. es ist ein verallgemeinerungsfähiger zusammenhang – und das sowohl in der deutsch- wie auch in der französischsprachigen schweiz.

falsch wäre der schluss, je mehr ausländerInnen wir in der schweiz hätten, desto geringer wäre die annahmechanche von initiativen wie derjenigen zur ausschaffung krimineller ausländerInnen. denn das ist die zeitliche analyse.

richtig ist aber die folgerung, dass es regionen gibt, die zu jeder zeit mit problemen mit ausländerInnen besser zu rank kommen, als solche, die schon an geringen schwierigkeiten scheitern.

warum? zunächst hat es etwas mit lokalen mentalitäten zu tun. herrschen in einer region nationalkonservative werte vor, ist die abgrenzungsbereitschaft hoch. denn das geht häufig einher mit der forderungen einher, schweizerInnen gegenüber ausländerInnen generell zu bevorzugen. und es korrespondiert mit dem wunsch, sich gegenüber dem ausland abzugrenzen. das ist in gegenden mit vorherrschenden linksliberalen werten beileibe nicht der fall. denn da ist gleichberechtigung jenseits von nationalitäten im schwang, und eine offene schweiz wird unverändert befürwortet.

damit bin ich bei meiner zentralen feststellung: es kommt nicht nur auf die zahl, zusammensetzung und rechtsverstösse von ausländerInnen in der einheimischen bevölkerung darauf an, um zu bestimmen, wie wahrscheinlich es ist, dass man initiativen wie die zur ausschaffung krimineller ausländerInnen befürwortet. es kommt auch auf die aufnahmebereitschaft der lokalen kulturen an.

dies korresponiert mit der generellen konfliktlinie zwischen konservativer und liberale politkultur. es ist aber auch abhängig vom mediale diskurs, von der politischen werbung und von der politisierung durch parteien. denn diese politischen akteure verfestigen latent vorhandene bilder von ausländerInnen, von kriminalität und von den zusammenhängen zwischen beidem.

wo es zu solch zementierten images über ausländerInnen gekommen ist, wird über diese abgestimmt, egal, ob es lokale probleme mit ausländerInnen gibt oder nicht. die Angst davor, zustände zu bekommen, wie man sie vom hören-Sagen aus anderen orten zu kennen glaubt, lässt einen präventiv ja sagen.

und nun die pointe: in der mediengesellschaft multiplizieren sich die darstellungen gerade auch von menschen. die medialität beenflusst unserer wahrnehmungen der realität – und unsere modi der entscheidungen von sachlich bis aufgebracht.

deshalb kann es auch sein, dass es gar keine kriminelle ausländerInnen vor ort brauchte, damit man ja zur ausschaffungsinitiative sagte!

stadtwanderer

die macht verlagert sich zu den medien, und der journalismus wird durch pr ersetzt.

die kette der krisenbefunde zum zustand der mediendemokratie schweiz reisst nicht ab. jetzt hat sich auch andreas blum, historiker, politiker und journalist im ruhestand, pointiert zu wort gemeldet. zustimmung und widerspruch sind absehbar.

__1_588209_1195726654andreas blum, historiker, früherer schauspieler, ehemaliger sp-nationalrat und vormaliger direktor von radio drs.

wer andreas blum kennt, weiss dass er ein brillianter rhetoriker ist, dass er etwas zu sagen hat, und dass er das unmissverständlich vermitteln kann. nun hat er sich in luzern an einer medientagung in die laufende debatte über den zustand der medien, und daraus abgeleitet, der politik, geäussert. und das tönte so, und liesst sich so:

die verantwortungsgemeinschaft von medien und demokratie ist ernsthaft gefährdet. die medien diktieren die politische agenda. die information steigt, gleichzeitig schwindet der diskurs, denn die gesteigerten nutzungsmöglichkeiten lösen die öffentlichkeit in ihrem komponenten auf.

den faszinierenden innovationen durch die digitalisierung von wort und bild stellt blum das bedrohungspotenzial der demokratie durch medien gegenüber. die diversifizierung des angebots gehe mit einer nivellierung des angebots einher. und der wirtschaftliche überlebenskampf gefährde die medienvielfalt.

alles in allem hält blum einen substanzverlust der politik fest. die macht verlagere sich zu den medien, und der journalismus werde seinerseits durch pr ersetzt. das alles störe die balance vom macht und verantwortung erheblich. “Politische Entscheidungen werden käuflich”, rief der referent aus.

wenn blum bei der analyse durch vielen zeitgenossen zustimmung finden dürfte, ist mit widerspruch bei den schlussfolgerungen zu rechnen. denn blum fordert eine neue staatliche medienordnung, unter einbezug des internet. und er schlägt vor, die gebührengelder der srg so umzuverteilen, dass qualitativ anspruchsvolle tageszeitungen gestützt werden. der srg rät er, die grundversorgung in allen sprachregionen sicherstellen, darüber hinaus einen publizistischen wettbewerb ermöglichen.

wird das zur wahrheit in den medien etwas beitragen, frage ich als kleines medium meine leserschaft?

stadtwanderer

was ist das für eine zeit, in der wir leben?

in was für zeiten wir leben, wollte ich dieser tag von verschiedenen personen wissen? hier drei antworten, die ich diese woche bekommen habe!

fragezeichen_56ja10j039gkoccs4og4s0s8c_c7ydh3wqmzkggw0sgk444w0o4_thzunächst: die lage sei misslich. das haushaltsbudget sei angespannt. krankenkassenprämien drückten, die steuern auch. was auch immer man mache, es gäbe eine busse! zu schnell gefahren, falsch parkiert, oder mal in eine einbahngasse abgebogen. immer bekomme man eins auf dach. die politik sei längst aus dem ruder gelaufen. jeder schaue nur noch für sich. es profitierten die reichen – politisch rechts wie links stehend. die einen seien für mehr freiheit – ihre freiheit beim gnadenlosen geldverdienen. die anderen stünden für mehr staat, der unentwegt abgaben kassiere. vielleicht sei das nicht sehr menschlich, aber unumgänglich: man brauche andere, bei denen man dampf ablassen könne. denn je mehr der kopftopf pfeiffe, umso mehr brauche es ein ventil. mit den ausländern sei alles krasser geworden. selbstverteidigung sei nötig. so schnell wie möglich, und so klar wie möglich. wuff!

sodann, die schweiz sei wie das paradies. man sei fleissig, habe erfolg, verdiene gut. wer nur wolle, der könne aufsteigen. jeden tag im büro, jeden abend an der börse. am ende läppere sich was zusammen. wer eisern an sich glaubt, komme voran. leistung lohne sich noch, investition in sich selber auch. göttis seien vorteil, aber keine sicherheit, denn letztlich zähle der eigene wille. manchmal schaffe das probleme, im alltag, zu hause, mit der beziehung. dann müsse man sich neu arrangieren, um wieder angreifen zu können. das leben sei ein kampf. würden alle so denke, wäre die schweiz wie eine oase des fortschritts in einem mehr des rückschritts. man müsse auf der hut sein, denn es gäbe viele neider, die am liebsten aufspringen und von anderen profitieren würden. das gehe nicht, denn das lähme. wenn es dem einzelnen gut gehe, dann gehe es letztlich allen gut. und wer könne das nicht wollen?

schliesslich, endlich gäbe es einen aufstand gegen die egoismus, gegen die grenzenlose selbstverwirklichung, gegen die ungleichheit der menschen. solidarität sei wieder angesagt, im alltag, in der gemeinde, am arbeitsplatz. mit der lebensgemeinschaft, mit den gemeinnützigen, mit der umwelt. noch seien viele zu wenige bereit, dem profitdenken abzuschwören, ethik und moral wieder platz zu verschaffen. doch täglich würden es mehr, weil man begreife, dass sonst alles kaputt gehe: die erde, die natur, die tierwelt – und schliesslich auch die menschheit. harmonie mit sich und anderen, mit lebenwesen und dem erdball seien angesagt. denn sonst gäbe es gar keine zukunft mehr, nur den untergang. gute lebensverhältnisse seien nicht zu verachten, doch dürften sie nicht zur ausbeutung anderer werden. denn letztlich sei es das ziel, dass es allen besser gehe, wenn immer möglich.

es mag sein, dass die antworten hier etwas knapp zuammengefasst sind. es mag auch sein, dass sie deshalb etwas typisiert vorkommen. doch sind sie authentisch. bei meinen wanderungen über mittag erfahren, von menschen erzählt, mitten in der stadtbeiz, in kleinstädten an guter lage, und in vororten, wo es leben lässt.

und, so frage ich hier weiter: was ist deine zusammenfassung der zeit, in der wir leben?

stadtwanderer

matthäus schiner, der erste schweizer kardinal

wer weiss nichts von der niederlage der eidgenossen in marignano? wohl kaum jemand, der nur das mindeste aus der schweizer geschichte kennt. doch wer weiss, wer die eidgenossen in die folgenreiche schlacht führte? kaum einer, der nicht spezialist ist für die umbruchszeit vom mittelalter zur neuzeit. die nachhilfe.

POSU5_13kardinal matthäus schiner, aus dem goms, führte die eidgenossen in die niederlage von marignano, bevor er an der seite von kaiser karl v. europäische grossmachtpolitik betrieb.

alles begann im goms und endete in rom. matthäus schiner wurde 1465 im oberwallis geboren, den tag hatte man nicht notiert. in como wurde der bub aus mühletal zum priester ausgebildet, 1499 mächtiger bischof in sitten. von da aus herrschte er über die seelen seiner walliser schäfchen, aber auch über wichtige alpenpässe zwischen nord und süd.

das machte schiner unumgänglich. denn 1493 schlossen der könig von frankreich und der kaiser frieden. sie teilten sich das burgundische erbe, und sie hofften danach, ihre macht in oberitalien zu vermehren. schiner war zeit seines lebens ein haudegen, die sich voll und ganz auf die seite des kaisers stellte. das brachte ihm die kardinalsweihe in rom; im gegenzug musste er die begehrten eidgenossen gegen den könig aus paris mobilisieren.

1512 gewannt man in pavia, 1513 in novara je eine schlacht. die söldner in den schlachten führten die gefürchteten eidgenössischen heerführer. diese wiederum lenkt der kardinal aus dem wallis. er warihr grosser stratege. rom ehrte ihn mit dem titel “Befreier Italiens und Beschützer der Kirche”. doch dann kam alles anders, als man dachte: 1515 wurde die schlacht zu marignano geschlagen. es siegten die franzosen unter françois i. 12000 eidgenossen liessen ihr leben für die grossmachtfantasie des walliser kardinals.

danach ging schiner nach zürich, denn im wallis war er nicht mehr willkommen. schiners fenster zu europa öffnete sich mit dem tod von kaisers maximilian 1519. drei könige wollten kaiser werden. der aus frankreich, der aus england und der aus spanien. schiner schlug sich voll und ganz auf die seite von carlos i., der bald darauf als karl v. kaiser wurde. der kardinal zog mit ihm im kaiserdom in aachen ein. gemeinsam mit den truppen des papstes eroberte schiner 1521 mailand zurück – seine persönlich rache für die schmerzende niederlage sechs jahre zuvor.

schiner stand auf dem höhepunkt seiner macht als der lebensfroh renaissance papst leo x.starb. nun war er einer der herausragenden papabili. erasmus von rotterdam, der humanist, empfahl den geistesverwandten als neuen kirchenführer. doch verweigerten ihm die franzosen hartnäckig ihre stimmen, bis schliesslich ein niederländer als kompromiskandidat unter dem namen hadrian vi. papst wurde. schiner folgte ihm ergeben, ohne noch lange zu leben. denn 1522 starb er in rom an der pest. fast schon symbolisch: sein grab wurde zerstört, als die kaiserlichen söldner kurze zeit später die papststadt in der sacco di roma plündern und der weltlichen machtpolitik der kirche mit ihren schweizer helfershelfern ein ende setzten.

matthäus schiner, erinnere ich mich, ist in meinem geschichtsunterricht in der schule nicht vorgekommen. erst als nach dem studium in einem zürcher antiquariat das buch über die 100 wichtigsten schweizer kaufte, erfuhr ich vom berühmten walliser. heute gilt es als global player der europäischen politik, wie ihn der freiburger historiker volker reinhard nennt. in der tat: er ersann und er realisierte auch europäische politik, wie es der konservative philosoph gonzague de reynold einst nannte.

wer weiss, vielleicht ist er genau deshalb bei vielen unbeliebt.
vielleicht ist das so, weil er mit seinern walliser gebrochen hatte.
vielleicht auch, weil er eine religös motiverter hetzer des einfachen fussvolkes war, das in marignano sein leben liess.

stadtwanderer

über immer mehr immer weniger entscheiden zu können.

im kurs der gemeindepolitikerInnen zur politischen theorie blieben wir eigentlich bei der ersten frage stehen: was ist eine demokratie? dabein entwickelten wir einen gedanken, der aus der eigenen erfahrung stammt, und sehr wohl mit den vorstellungen führender politikforscher der welt standhalten konnten.

Global Networkdie erste antwort an diesem abend war noch etwas verhalten, aber typisch: wenn das volk entscheiden kann, und die politiker doch machen können, was sie wollen! danach sprudelte es antworten: wenn man wählen, ja wenn man auswählen kann. wenn man abstimmt, in der sache entscheidet. wenn alle gleichberechtigt sind. wenn ethik und moral gewährleistet sind.

ich habe versucht, die antworten auf eine grosse schiefertafel zu schreiben – vorsortiert, ohne das unterschiedungskriterium direkt zu nennen. doch waren rechts alles verfahren, die auf institutionen basieren, und links waren alle werte und soziale grundlagen, welche diese institutionen gewährleisten.

in der diskussion dieser beiden richtungen der demokratietheorie merkten wir bald. die schweiz hat ausgebautete institutionen der demokratie, ja der direkten demokratie. wenn die so festgelegten verfahren der entscheidung funktionieren, halten wir die ergebnisse für demokratisch hergestellt und damit korrekt, egal, was dabei herauskommt. das entspricht letztlich dem denken des österreichisch-amerikanischen ökonomen joseph schumpeter, der die demokratie in radikalster art und weise als rine methode definiert hat.

das gegenstück dazu ist die materielle demokratietheorie. sie ist bei uns unterentwickelt. beispielsweise wurden die grundrechte in unseren verfassungen des 19. jahrhunderts nur beschränkt aufgenommen, und sie galten anfänglich beispielsweise für die juden nicht. vor einem jahr, bei der abstimmung über die minarett-initiative, kümmerte sich die mehrheit nicht um so solche grenzziehungen demokratischer entscheidungen. auch das ist typisch schweizerisch.

die entwickler des grundrechtskataloges in der schweiz waren die gerichte, es war nicht das volk. unter ihrem einfluss sind sie in die geltenden verfassung vom 1. januar 2000 aufgenommen wurden. und exponenten unter unseren (ehemaligen) richtern gehören heute zu den wichtigsten verteidigern der grundrechte, im namen des universalismus und der demokratie.

john keane, ein australischer politikwissenschafter, äussert sich – zufällig oder nicht – zu unserer thematik vom donnerstag abend im heutigen “magazin“. auch er unterscheidet zwischen demokratie als institution, und demokratie als geist. ersteres hätten die griechen erfunden, wie ich es auch gesagt habe. letzteres, nimmt keane an, sei mit der ausbreitung des denkenden menschen entstanden.

demokratie, so ist keanes definition, ist nicht, wenn man wählen oder (wie in der schweiz) abstimmen kann, sondern wenn die macht möglichst aufgeteilt in einer gesellschaft vorkommt. die krise der repräsentativen demokratie, die er diagnostiziert, sei eine krise gegen die konzentration der macht im parlament der nationen, weil diese angesichts der rasanten entwicklungen der globalisierten wirtschaft über immer weniger immer mehr zu entscheiden versuchten, während die bürgerInnen spürten, dass die politik zu immer mehr immer weniger zu sagen hätten.

keane glaubt, dass eine neue form der demokratie aufkommt, die monitory democracy, wie er es nennt, die beobachtete und kontrollierte demokratie, in der nicht neue institutionen des staates entstehen, aber neue formen der zivilgesellschaft. deren träger sind akteure, die parlamente und die regierung kontrollieren und kritisieren, grenzüberschreitend vernetzt sind, global kommunizieren, und lokal agieren.

soweit kamen wir in unserer theoriediskussion nicht ganz. die symptome waren aber aufgezeichnet. die bürgerInnen bringen sich ein, wenn die behörden machen was ihnen passt. aber sie wollen nicht mehr in die institutionen. sie wollen, dass ihre interessen einfliessen, wo und wie auch immer.

beachtlich, würde ich sagen, für einen kurs unter bernischen gemeindepolitikerInnen, die bereit sind, sich nach einem arbeitstag politisch weiter zu bilden, und durchaus ebenso spüren, wie die essenz der politik, ja der demokratie, die an den nationalstaat geknüpft ist, ins wanken geraten ist, ohne dass sich eine eindeutige alternative hierzu abzeichnet.

stadtwanderer

politische theorie für den abend

heute abend haben ich meinen kurs für gemeindepolitikerInnen aus dem kanton bern. ich bin gespannt. die aktualität hat mich momentan stark gepackt, und deshalb versuche ich heute abend etwas ganz anderes.

415867361_ff016246eddas bwd – vis-à-vis des stade de suisse, wo ich politische theorie für praktikerInnen unterrichte
politische theorie soll ich den kommunalpolitikerInnen beibringen. drei stunden habe ich dafür. das geht sicher nicht. nur schon weil die abgrenzung zwischen politischer philosophie und politischer theorie schwierig ist, aber auch zwischen politologischer theorie und politischer theorie gibt es keine scharfe trennlinie.

so habe ich mich entschieden, meine leute abend zu fragen: was ist eine gute politik? darüber sollen sie mal nachdenken, sich ausdrücken, und sie sollen versuchen, ihre vision zu formulieren. dann, im zweiten teil will ich fünf fragen behandeln, die aus der griechischen politphilosophie, aus der aufklärung und aus den gegenwartstheorie stammen.

das sind sie:

erstens, was ist besser: die weisheit des königs oder die weisheit aller?
zweitens, was sind die vor- und nachteile des kleinen und des grossen raumes in der politik?
drittens, soll sich der staat konfessionelle neutral verhalten, oder in konfessionalen fragen stellung beziehen?
viertens, haben wir heute noch gewaltenteilung oder nicht mehr wirklich?
fünftens, kann man gerechtigkeit überhaupt definieren?
sechstens, leben wir heute in der ersten oder in der zweiten welt, der realität oder fiktionalität?

mal sehen, wie die politiker und politikerinnen darauf reagieren? – diskussionsbeiträge auf dem stadtwanderer sind durchaus erwünscht!

stadtwanderer

polit-talk an der poschi-station

ich wartete auf mein poschi. da spricht mich eine ältere frau im wartehäuschen in der berner länggasse an. doch sie verwechselte mich, mit einem beamten bei der gewerbepolizei. als ich mich vorstellte, sagt sie, sie würde mich trotzdem kennen. vom fernsehen. und den abstimmungen. und so ergibt das eine wort das andere.

los ging es mit der ausschaffungsinitiative. sie sei taxifahrerin gewesen, sagte sie mir meine gesprächpartnerin. “wenn du einmal das messer am hals hattest”, fuhr sie fort, “und du nicht mehr weisst, ob du deine familie noch einmal siehst, machst du dir nicht lange gedanken, wie du da stimmen sollst.” sie sei für die initiative, bekannte sie, während sie ein wenig an ihrem wägelchen zog, das aussah, wie eines der post, mit dem man die grossen postfächer lehren kann.

als ich auf den gegenvorschlag zur ausschaffungsinitiative zu sprechen kam, waren wir sofort bei karin keller-sutter. der name sei ihr zu kompliziert, gab die ex-taxichauffeuse offen zu. was sie wolle, sei aber gut. da wisse man, was man habe. sie hätte es gerne gehabt, wenn die st. gallerin bundesrätin geworden wäre. mit simonetta sommaruga sei sie aber auch zufrieden. dass sie keine juristin sei, sei sowieso ein vorteil. die meisten seien keine juristen, fügt sie mit einem augenzwingern bei. gerne möchte ich antworten, ich auch nicht.

doch da wird mir das wort gleich abgeschnitten: der bundesrat sei nicht mehr viel wert. er verpasse jede gelegenheiten, sich beim volk zu empfehlen. er lebe wie die sieben zwerge. dann entschuldigt sie sich umgehend. so habe sie das nicht gemeint, aber viel vertrauen können man da einfach nicht mehr haben. selbst wenn der wirkliche zwerg nicht mehr dabei sei.

damit sind wir nahtlos bei der steuergerechtigkeit. da dampft es gleich von neuem aus dem gesicht meines gegenübers. es sei ja schlimm, dass der villiger nochmals arbeit angenommen habe. nötig habe er es ja nicht mehr gehabt. darum sei es besonders schade, dass er seine unabhängigkeit gegenüber der ubs nicht mehr genutzt habe. es sei beschämend, dass er die ganster habe laufen lassen. doch das sei wohl typisch für die fdp. die nehme es von den kleinen und gebe es den grossen. pelli gehöre auch dazu: sein generalabonnement als parlamentarier habe er gratis. von den anderen wolle er nun mehr geld. nach einer kurzen gedankenpause führt sie aber bei. “ich bin in keiner partei. ich wüsste auch nicht wo. denn darin sind sich alle politiker von links bis rechts einig: dass das volk für ihre dummheiten bezahlen müsse!”

wir verabschieden uns, denn unsere busse fahren in verschiedene richtungen. mir entgeht der nebensatz in der abendkonversation nicht: “machen sie es gut, wenn sie das nächste mal sagen müssen, wie es rauskommt!”

ich werde mich ihrer erinnern …

stadtwanderer

nochmals volltanken

schon der frühe morgen war vielversprechend. der nebel über der aare lichtete sich, und der himmel über hinterkappeln färbte sich in ein helles blau. die temparatur stieg rasch an, als wollte sie einen herbsttag im september ankündigen.

doch es war sonntag, den 14. november 2010.

uns hielt der prachtstag nicht lange zuhause. biel/bienne war das ziel, genauer gesagt magglingen/macolin. da multiplizierte sich die angesagte pracht ins x-fache. zu füssen lag die stadt, dahinter lyss-aarberg, und selbst bern konnte man knapp erkennen. rechter hand glizzerte das seeland mit wiesen, wäldern und seen. allen voran der bielersee, sogar mit segelbooten, die vielleicht ein letztes mal noch ausliefen. hinter der ganzen kulisse reihten sich die alpen auf, schneebedeckt, daran erinnernd, dass es bald überall winter sein wird. heute glänzten alles von den freiburger bis luzerner alpen im klarsten sonnenlicht, sodass man die berge für ein herrliches zuckergebäck hielt, in das man am liebsten gebissen hätte.

der spaziergang hinunter nach biel/bienne wärmte uns so richtig, womit der mitgebrachte schal bald überflüssig war. das galt bisweilen auch für die lederjacke, die man lieber über der schulter hängend durch denn leichten wald nach unten trug. die frage, ob wir an der mittelstation die bahn nach ganz unten nehmen sollten oder nicht, war rasch beantwortet: keine sekunde würde man an einem solchen tag freiwillig die würzige luft, den wärmen wind, das tolle gefühl der natur missen wollen. so führte uns die wanderung um verschiedene wegkurven hinunter zum pavillon über biel/bienne, von wo aus wir die übersicht über hafen, stadt und umland ein letztes mal genossen.

wieder zu hause kam gar zur premiere: gegessen wurde auf der dachterrasse, zum ersten mal 2010, fröhlich lachend, den tag, die woche, das jahr revue passierend lassen. denn so fantastisch wie heute fallen die bilanzen wohl nie mehr aus. es war, als sei man nach einer langen wanderung, in einer oase angekommen, um sich zu laben, ob sie wirklich war, oder nur eine fatamorgana interessierte dabei kaum mehr. hauptsache man konnte nochmals voll auftanken!

stadtwanderer

mein erstes date in bern

es war der 1. august 1980, als ich nach bern zog. die stadt war mir damals alles andere als vertraut. der grüngraugelbe sandstein der häuser prägte den ersten eindruck – und die langen, langen gassen der altstadt, die alle gleichgerichtet von osten nach westen zeigten.

stadtplanbern1_4endlich hatte ich nach einigen wochen auch mein erstes date. eine nette kollegin, die ich seit dem gymnasium nicht mehr gesehen hatte, erwartete mich in der aarbergergasse. ich freute mich, putzte mich ein wenig heraus und ging erwartungsfroh in die stadt.

doch um himmels willen, welches war denn nun die aarbergergasse? – die in der mitte? die im süden? oder die im norden? schlimmer noch, ich wusste nicht einmal wo norden und süden war. denn alle sahen sie gleich aus, eng, verwinkelt, fast so wie in einer orientalischen stadt!

so wartete ich – an der falschen kreuzung. eine viertelstunde. eine halbe stunde. eine ganze stunde! bis ich merkte, dass ich gar nicht am abgemachten treffpunkt stand, die falsche strasse erwischt hatte, und mein date schon längst verspielt war.

damals gab es noch keine handies, über die man sich hätte verständigen können. es gab nur ein leicht vorwurfsvolles telefonat, spät abends, wo ich denn geblieben sei, die enttäuschung sei gross gewesen, und ich müsste mir nun schon was spezielles einfallen lassen, dass es zu einer weiteren verabredung komme.

der banause, der ich damals war, entschied sich: entweder die stadt umgehend zu verlassen, oder aber sie kennen zu lernen. ich entschied mich zu letzteren. nach vielen jahren des unbewussten bewohnens von bern begann ich mich auch aufzumachen, die stadt bern bewusst zu entdecken, unter anderem deshalb, dass ich nie mehr ein date verpassen würde.

mehr über diese und andere geschichten in bern gibt es auf der neuen website “bern – der film” zu sehen, die der berner filmemacher daniel bodenmann mit seinem team gemacht hat, um auf die spezialitäten der bärenstadt und ihres bärenparkes aufmerksam zu machen.

es berichten der stadtpräsident alexander tschäppät, barbara hayoz, reto nause, bernd schildger, urs berger, heinz stämpfli, walter bosshard über ihr gänz besonderes bern, genauso wie der

stadtwanderer

der wanderweg der schweiz

die schweiz ist müde geworden, sagen die kulturpsychologen von demoscope, welche einmal im jahr das klima der schweiz vermessen. sie bleibt in ihrer grundbefindlichkeit zentriert, auch wenn sie sich in den letzten jahren wieder etwas nach innen gewandt hat.

seit einen vierteljahrhundert verfolgt das institut demoscope das psychologische klima der schweiz. dafür befragt es jährlich einmal einen querschnitt der schweizer wohnbevölkerung. herzstück der untersuchung sind knapp 30 werte, die einem wichtig oder unwichtig sein können. sie sind, nach dem vorbild des amerikanischen sozialforschers daniel yankehlovich, so ausgesucht, dass die kombination eine karte gibt von konservativ bis progressiv, von binnen- bis aussenorientiert.

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die schweiz heute: für demoscope ist das eine gesellschaft die beschränkt progressiv und noch etwas beschränkter binnenorientiert ist. in den 00er jahren des 21. jahrhundert hat sie sich von ihrer aussenorientierung um einiges abgewandet. und sie ist etwas weniger progressiv.

in den 26 jahren, in denen man diese art von erhebung macht, hat sich die helvetische gesellschaft von ihrer ausgeprägt konservativen binnenausrichtung gewandet. am klarsten aussengerichtet war man 1986, am progressivsten 2001. seit entwickelt man sich zurück, ohne wieder dort zu sein, wo man startete.

interessant ist, dass verwurzelung, die in den 70er jahren noch der typische wert war, dem materialismus der 80er jahre gewichen ist, die jahrtausendwende durch den hedonismus geprägt war, und heute die müdigkeit ein typischer wert ist.

wenn wir auf dem jetzigen pfad weiter wandern, werden wir bald einmal bei ruhe und ordnung ankommen, vielleicht gar bei einem neuen autoritarismus, oder dann bei der reserviertheit, legt uns jedenfalls das psychologische klima, wie es in adligenswil gemessen wird, nahe.

stadtwanderer

warum wir gründungstage brauchen

aegidius tschudi lebte im 16. jahrhundert. der glaner war politiker, wirkte in sargans, rorschach, baden und schliesslich in rapperswil. wo auch immer er ämter inne hatte, suchte er nach alten verträgen und schriftlichen erzählungen. daras entstanden die ersten geschichtswerke zur schweiz, in denen der heutige 8. november im jahre 1307 von grosser bedeutung war.

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schweizer karte von aegidius tschudi aus dem jahre 1538, welche die alte eidgenossenschaft der 13orte zeigt, im moment als die junge gemeinschaft wegen der reformation in zwei bünde zerfiel.

nach ausbruch der reformation verfasste tschudi seine schweizer chronik. dabei behandelte er die geschichten des raumes, der durch die auseinandersetzung mit den haus habsburg zwischen 1393 und 1499 zusammengewachsen war, angesichts der reformation aber in zwei lager zu zerfallen drohte. wilhelm tell kam dabei zu ehren. der bauer aus dem schächtental avancierte so erstmals zu symbolfigur für urtümliche schweiz, auf die man sich auch bei unterschiedlicher konfession und weltanschauung beziehen konnte. und mit wilhelm tell entstand erstmals auch die gründungssage der eidgenossenschaft.

die allem zu grunde liegende verschwörung datierte aegidius tschudi auf mittwoch vor martini. die nachträgliche umrechnung datierte das auf den 8. november 1307. damals sollen sich die innerschweizer zusammengerottet haben, um ihren aufstand gegen das königshaus habsburg zu vereinbaren, das die verbrieften rechte der innerschweizer nicht anerkannen wollte. nur 10 tage lässt tschudi den habsburgische vogt hermann gessler wilhelm tell in der hohlen gasse zum legender apfelschuss auf seinen sohn befehlen. danach soll es in gebrodelt haben rund um den vierwaldstättersee. am neujahrstag sei es dann mit dem grossen burgenbruch in der schweiz losgegangen, bis am 1. mai 1308 könig albrecht i. von habsburg vom verwandten johannes von schwaben und helfershelfern unter den eidgenössischen kleinadeligen umgebracht wurde. erst sein nachfolger, der luxemburger heinrich vii., bestätigte 1308 die freiheitsbriefe der urner, schwyzer und erstmals auch die nachgereichten der unterwaldner.

aegidius tschudi befasst sich nicht nur mit der gründungssage der schweiz, die bis ins 18. jahrhundert nach ihm erzählt wurde, erst dann, angesichts neuer quellen stück für stück umgestaltet wurde, bis sie 1891 die von wilhelm öchsli neu verfasste form erhalten hatten, welche die jahrhundertfeierlichkeiten des damaligen jahres mit dem 1. august als höhepunkte prägte, weil die geschichte von 1307 auf 1291 und von albrecht von habsburg auf seinen vater rudolf von habsburg umprojiziert worden war.

tschudi schrieb bis 1572, seinem todesjahr auch an einer umfassenden geschichte unseres raums, von den anfängen bis in die damalige gegenwart. denn der humanist war dem mittelalterlichen denken, wonach die welt ein ei mit papst und kaiser an der spitze war, entrückt. seit der renaissance war man sich gewahr geworden, dass diese ei nicht anfang und ende der welt, sondern nur eine phase in der entwicklung gewesen war. in der gallia comata, dem gewöhnlichen gallien begründete liess er die burgunder, die alemannen und die langobarden im 5. bis 7. jahrhundert der reihe nach ins gebiet der späteren eidgenossenschaft einwandern und dabei die noch älteren siedler der rätier und gallier überlagern, die vormals unter römische herrschaft geraten waren, bis die von den germanen zerstört worden war.

für die zeitgenossen tschudis war dieses neue, posthum bekannt gemachte bild der schweiz ein hammerschlag. denn der raum, indem wir und indem sie lebten, ist durch verschiedene, zurückliegende einwanderungsweillen demografisch und kulturell geformt worden. die kelten (oder gallier und raetier) bildeten die älteste, identifizierbare grundlagen, aus den nach der römischen herrschaft gallo- und rätoromanen geworden waren, dann von mehr oder minder assimilierbren germanenstämme überrannt wurde, die ihrerseits unter merowingische, karolingische, sächsische, fränkische und schwäbische herrschaft gerieten, dabei teile des (heiligen) römischen reiches im hohen mittelalter bildeten, bis dessen macht im 13. jahrhundert stückweise zerfiel, und die trutzgemeinschaften der eidgenossen an verschiedenen stellen entstanden, auf die wir uns direkt beziehen.

die lehre daraus ist bis heute hart: erstens, jede geschichte eines volkes ist soweit richtig, als sie die geschichte anderer völker, die durch wanderungen und eroberungen vertrieben, unterdrückt oder ausgerottet wurden, mitdenkt. zweitens, unser bedürfnis nach grundungssagen entstand mit der renaissancegeschichtsschreibung à la tschudi, als sich die historiker gewahr wurden, dass die vorfahren, auf dies sich die volksgeschichte bezog, nicht die ersten waren, die da siedelten, sondern nur in einer kette von siedlern rechte beanspruchen konnten. diese zurückversetzung in den zustand der normalität wurde durch die erzählung der spezialität, die aus einer gründung hervorgegangen sei, überhöht.¨

erzählt am 703. jahrestag der ersten vermeintlichen gründung der eidgenossenschaft.

stadtwanderer

wissenschaft, medien und politik

diese woche wird der historiker walther hofer 90. seiner art, sich als wissenschafter auch in medien zu äussern und in die politik einzumischen, verdanke ich viel. ein rückblick auf die zeit, als ich beim berner professor studierte.

hoferhistoriker mit herz und verstand
inhaltlich hatten wir nicht selten differenzen. so war walther hofer überzeugt, der nationalsozialismus sei das werk weniger gewesen, die man dafür zur rechenschaft ziehen müsse. ich war damals fasziniert von den analysen des deutschen politikwissenschafters reinhard kühnl, der die verschiedenen formen bürgerlicher herrschaft von der demokratie bis zum faschismus untersucht hatte. hofer verwarf die idee struktureller wie auch psychologischer erklärungen vergangener politik und schimpfte, dass ich den nationalsozialismus mit all seinen vernichtungslagern auf die harmlosere stufe des faschismus stellen würde (was ich beileibe nicht tat).

hofer war am besten, wenn er sich provoziert fühlte. dann konnte man seine innere erregtheit von den füssen bis zum kopf sehen, spürte man, wie er seine seelischen kräfte sammelte, die den intellekt befeuern sollten, damit er in einem grossen bogen durch die weltgeschichte die widerwertigkeit der kritisierten aussage vorzuführen. denn dann legte er in vorlesungen sein manuskript weg, dozierte er frei, skizzierte die mächte des 20. jahrhunderts, analysierte er die programm der regierungen und parteien und erzählte er gegenwartsgeschichte, sodass man nur noch staunen konnte. das alles war nicht immer einfach, meist von seinem liberal-konservativen hintergrund geprägt. doch es beflügelte eine ganze historikergeneration, die bei ihm studiert hat. andreas blum, der frühere radiodirektor gehört dazu, erwin bischof, der sekretär des trumpf puur, auch, genauso wie der heutige eda-staatssekretär peter maurer.

meine drei jahre bei walther hofer

meine erstes thema, das ich bei walther hofer nach 1980 zu bearbeiten hatte, war das berüchtigte massaker von katyn, bei dem 1940 mehrere tausend polnische offiziere als teil einer umfangreichen aktion des bolschwestischen volkskommissariats des innern umgebracht worden waren. offiziell waren es die nazis gewesen. als sie die massengräber entdeckten, avancierten die greultaten sofort zu einem der kernthemen der propaganda. die wissenschaft musste sich dem thema stück für stück annehmen, bis der sachverhalt geklärt war und michail gorbatchev 50 jahre danach die beteiligung der sowjeunion klarstellte. die öffentlichkeit wiederum erfuhr davon wohl erst in diesem jahr, als der russische premier vladimir putin und der polinische ministerpräsident donald tusk zu einer gemeinsamen gedenkfeier aufriefen, in deren vorfeld es zum tragischen absturz eines flugzeuges mit fast der gesamten politischen staatsspitze und angehörigen des massenmordes kam.

aus diesem thema heraus entstand auch meine abschlussarbeit als historiker, die den schweizer aerztemissionen an die deutsch-sowjetische front gewidmet war. dabei ging vordergründig um eine mission des schweizerischen roten kreuzes mit 120 aerzten, hintergründig im schweizerischen aussenpolitik, die in berlin koordiniert worden war, schweizerische interessen im falle einer eroberung der sowjetunion gebündelt hatte, und deutschland gegenüber als schweizer beitrag im kampf gegen den bolschewismus deklariert worden war. dank vermittlung hofers erhielt ich den relevanten zugang zu den bisher nicht gesichteten akten, um ein kleines kapitel schweizerisch-europäischer geschichte schreiben zu können, die der mentor für ihre trouvaillen lobte, deren schlussfolgerungen zur anpassung der schweizerischen aussenpolitik zwischen 1940 und 1943 er jedoch zu verallgemeinernd fand. nichts desto trotz erhielt ich dafür den seminarpreis für die beste abschlussarbeit in meinem semester.

wissenschafter, medienmensch und politiker
vielen leuten ist hofer als svp-nationalrat in erinnerung; den journalistInnen vielleicht auch als präsident des hofer-clubs geläufig. seinen schritt von der theorie in die praxis, von der wissenschaft in die politik begründete der parteilose hofer stets mit dem ziel, schweizer aussenminister zu werden. mit seinen professuren in berlin und in new york hatte er hierfür die fährte gelegt, und man spürte in seinen ausführungen, dass der politikwissenschafter henry kissinger als amerikanischer aussenminister stets sein vorbild war.

man weiss es, walther hofer schaffte dieses ziel nicht. leon schlumpf kam ihm als svp-bundesrat zuvor. 1979 zog er sich aus dem nationalrat zurück, 1980 auch aus dem europarat. die klärung des reichtstagsbrandes als element der machtergreifung hitlers, die ihm das deutsche bundesverdienstkreuz einbrachte, und die überführung spaniens von der diktatur francos in einem parlamentarische monarchie, die hofer als vertreter der europäischen staaten vermittelte, blieben seine grössten wissenschaftlichen und politischen leistungen. in der heimat ereilte ihn 1983 ein schicksal, mit dem er kaum gerechnet hatte. seine recherchen über die verbindungen der nazis in die schweiz brachten ihm 1983 eine klage durch nachfahren des rechtsanwaltes wilhelm frick ein, die zu einer breiten solidarisierung unter historikern, gleichzeitig aber auch zu einer bisher nicht bekannten kollektiven verurteilung der geschichtswissenschafter wegen übler nachrede führte. das traf den mann, der sich ein leben lang für forschungsfreiheit als kennzeichen von demokratie ansah.

ein teil des erbes von hofer …
mit dem abschluss der matur 1939, die der sohn des gemeindeschreibers aus dem seeländischen kappelen in biel ablegte, brach der zweite weltkrieg aus. dieser hat den berner wissenschafter angetrieben, politisch wach gehalten, und den historiker geformt, der auf dem lehrstuhl wie auch in seinen zahllosen radiobeträgen stets anregend war. dem geist, welcher einer reifen persönlichkeit entsprang, fühle ich mich seit den 3 jahren, in denen ich bei walther hofer studiert habe, verpflichtet, auch wenn ich danach einen anderen weg eingeschlagen habe, auf dem ich bis heute wandere.

in diesem sinn: herzliche glückwünsche zum 90. geburtstag, walther hofer!

stadtwanderer

die schweiz, der diskurs und der zusammenhalt

eigentlich wollte ich nach einer strenge woche nur noch nach hause. doch begegnete ich auf dem perron des zürcher bahnhofs georg kohler, und ich kam mit dem philosophen schnell ins gespräch. ein kleiner reisebericht.

kohler
georg kohler, emeritierter professor für politische philosophie an der universität zürich

er war unterwegs ins hotel bern. dort tage die neue helvetische gesellschaft, sagte er. die hätten ihn angefragt, über die zukunft der direkten demokratie zu reden – was er gerne mache.

seit einem jahr ist der philosoph pensioniert, nicht aber arbeitslos, denn unverändert interventiert er in der öffentlichkeit.

ob es wahr sei, dass roger köppel, der chefredaktor der weltwoche, bei ihm studiert habe, will ich wissen.

“jawohl”, bekomme ich zur antwort. doch sei er beileibe nicht der einzige, der sich regelmässige in die politik der schweiz einmische und in seinen seminaren positiv aufgefallen sei, erwidert der professor mit stolz. das gelte auch für katja gentinetta, der stellvertretenden direktorin von avenir suisse, für pascale bruderer, die nationalratspräsidentin, und cédric wermuth, den juso-chef. sie alle seien schülerInnen von ihm.

“was hält die schweiz zusammenhalten?”, nimmt michnun wunder, denn die vier namen stehen bei mir für nationalkonservatismus, wirtschftsliberalismus, linksliberalismus und neosozialismus – und damit für weltanschaulich viel trennendes.

die antwort kommt rasch: die mythen würden die leute heute eher trennen als vereinen, die institutionen des staates seien für die einen sehr wichtig, während sich andere ihnen gegenüber ganz gleichgültig verhielten. “der diskurs”, kommt der philosoph in fahrt, “hält die schweiz zusammen!”. wir würden uns permanent vergewissern, wo wir stehen – und genau das verbinde.

weder sind wir ein parlamentarischen system wie grossbritannien, noch eine präsidialsystem wie die usa. wir haben zwar eine starke exekutive, doch wird die macht von bundesrat und bundesverwaltung durch den föderalismus gebrochen. das gegenstück hierzu ist weniger das parlament, mehr die direkte demokratie, denn das volk gibt mit initiativen gas und bremst mit referenden.

so sind wir ständig am erwägen: nach dem zweiten weltkrieg traten wir der uno nicht bei; in den 80er jahren änderten regierung und parlament ihre diesbezüglich haltung, und die bevölkerung votierte 2002 nach einem früheren nein mehrheitlich für den beitritt. den eu-beitritt wiederum lehnen die meisten ab, der bilaterale weg dagegen gestützt, genauso wie die personenfreizügigkeit, auch wenn die gesellschaftlichen folgen immer umstrittener werden. anders als man es im ausland sieht, belassen wir es nicht bei wenigen grundsatzentscheidungen, sondern vergewissern wir uns wiederkehrend, ob der eingeschlagene weg zum ziel führt.

“das”, so kohler, “machen wir aber zunehmend nur mit uns selber”. so halten wir selber zusammen, ohne zu fragen, ob auch andere zu uns halten. dann braucht der philosoph ein starkes bild: “wir haben mit dem bilateralismus ein schmale gasse nach brüssel gebaut, die unseren vorstellungen von autonomie und verbundenheit entspricht. doch kann der druchgang rasch gesperrt werden, wenn der elefant sich in diese gasse setzt.”

zwischenzeitlich ist es rund um uns herum mäuschenstil geworden. der eine und die andere hört wohl zwischenzeitlich zu, als wir in bern einfahren. keine fondue hält die schweiz zusammen, vielleicht auch kein geld, und fast sicher keine bundespräsidentin, habe ich erfahren. vielmehr ist es der diskurs.

wenn er nur immer wieder stattfindet, denke ich mir. denn im moment reden köppel und wermuth gar nicht miteinander, pascale bruderer und katja gentinetta vielleicht ansatzweise etwas.

wenn die these des philosophen stimmt, muss sich da einiges bessern, schon nur unter den politikerinnen, wirtschaftsfunktionären, journalistInnen und intellektuellen – geschweige denn zwischen ihnen, den sprachregionen, dem volk und dem ausland.

irgendwie will mir scheinen, dass wir da am auseinanderdriften sind, weil wir nebeneinander leben, und von einander hören und übereinander lesen. so haben die diskurse der direkte demokratie keine zukunft, würde ich vortragen, hätte die nhg mich eingeladen.

was georg kohler genau sagen wird, weiss ich nicht so genau, als wir uns auf dem berner perron in bern freundlich verabschieden.

stadtwanderer

die gleichzeitigkeit des ungleichzeitigen in der kartause ittingen

im hof der kartause ittingen trifft man gleichzeitig auf ungleichzeitiges. das macht es interessant, aber auch verwirrlich.

Kartause-Ittingen-TG-a19144278handies und kutsche
die seminargäste aus der oberen etage wichtiger unternehmen hängen geschäftig am handy. eigentlich sollten sie bei den verhandlungen mit ihresgleichen sein, doch riss sie das klingeln des mobiles aus dem realen gespräch, und hören sie sich die fragen des fiktiven gegenüber an. selbst wenn man nicht versteht, was sie antworten, kann man die bestimmtheit ihrer aussage an der haltung erkennen. stehend zu kontern, ist das mildeste. nervös herumzulaufen, verweist auf eine erhöhte anspannung. und wenn sich der körper dezidiert nach vorne neigt, weiss man, das war ein befehl zur klärung der meinungsverschiedenheit.

dieses treiben interessiert den kutscher der kartause nicht wirklich. sein wagen steht schon seit dem frühen morgen im hof, zaubert vergangene stimmung ins ehemalige klosterareal. dann holt er gemächlichen schrittes ein stämmiges pferde aus dem stall, spannt es ein, verschwindet nochmals in der reception, kommt mit einem paket in der wieder, um die zügel zu prüfen, aufzusitzen, gut hörbar hüü von sich zu geben, sodass das gespann vorsichtig im kies des hofes zu rollen beginnt. wielange und wohin auch immer!

der gross krach, der kleine friede
ittingen war mal der sitz der gleichnamigen freiherren, die auf sporn im thurgauischen über ihre untertanen wachten. die landschaft musste damals noch lieblicher gewesen sein, noch ohne häuser, jedoch voll von wäldern. wo diese gerodet worden waren, standen mit sicherheit apfelbäume, welche die bauern im herbst ernten, um guten most herzustellen.

als sich papst und kaiser im grossen investitursteit am ende des 11. jahrhundertes in die haare gerieten, hatte das für die ittinger verheerende folgen. der abt von st. gallen hielt zu könig heinrich iv., der kaiser werden wollte, derweil der bischof von konstanz anhänger von papst gregor vii., der die christliche welt alleine regieren wollte. die schergen der beiden mächstigen geistlichen kämpften um die vorherrschaft auch in ittingen, bis alles zerstört wurde.

mitte des 12. jahrhunderts suchte man einen neuanfang. gestiftet wurde das kloster ittingen, das man beschenken konnte, um den adeligen kampf um landbesitz zu entschärfen. übernommen wurde es von den augustinern, die hier als chorherren in religiöser gemeinschaft lebten. ökonomisch wurde das unterfangen jedoch kein grosserfolg, denn die st.galler wie die konstanzer achteten darauf, dass kein weiteres zentrum mit geistlicher ausstrahlungskraft in ihrer nähe entstehen würde. so vermachte man das klösterchen im 15. jahrhundert dem französischen orden der kartäusern. 1524 wurde es von bauern gestürmt, als sie sich gegen die abgabenpflicht wehrten, im gefolge der gegenreformation aber wieder aufgebaut. mit dem einmarsch der franzosen wurde es 1798 verstaatlicht, mit der gründung des bundesstaates 1848 aufgehoben und in einen privaten landwirtschaftbetrieb überführt.

leben und einkaufen heute
die weitgehend intakt gebliebene klosteranlage wurde in den 70er jahren des 20. jahrhundert von einer stiftung übernommen, welche 1983 einen hotel- und seminarbetrieb eröffnete, seither auch das thurgauische kunstmuseaum führt, und behinderte menschen aufnimmt und beschäftigt. der klosterladen ist nicht nur einkaufsstätte für die gäste, er ist auch treffpunkt für die menschen aus der umgebung. da tauscht man das neue vom tag aus, informiert sich über die anstehende radiosendung zur kartause, und macht sich auch mal gedanken über gott und die welt.

selber freue ich mich, meine morgendlichen einkauf in angenehmer atmosphäre machen zu können. der birnensaft hat schon gut geschmeckt, sodass ich zum birnenbrot greife, und den landjäger einpacke, der reichhaltiger ist als anderswo. der käse wiederum ist so reif, dass nur die packung sein davonlaufen verhindert, und auch er in meinem korb landet, noch bevor ich vor den zahlreichen eigenen weinen verweile und auch einen blick auf die angeboten literatur werfe.

verbunden oder abgeschieden sein

draussen erwartet mich ein phänomenaler herbsttag, bestes wanderwetter, blauer himmel, goldig glänzende bäume, geschnitten wiesen. auf wenn die kartäuser nicht mehr die herren über ittingen sind, spürt man ihren geist noch. ihr lebensweg war die abgeschiedenheit, das schweigen.

leider, sage ich mir, kann ich heute nur kurz stadtwanderer auf dem land sein, obwohl es mich die geheimnisvolle stärke in der ruhe mächtig anzieht. denn auch ich bin nicht als mönch nach ittingen gekommen, sondern als gast im seminarangebot des tages. immerhin, ich schalte mein handy aus, denn die immerwährende verbindung in die ewige abgeschiedenheit ist genau das, was die gleichzeitig der ungleichzeitigkeit bestimmt, das thema, das mich seit dem morgen beschäftigt.

stadtwanderer