die hölle und das paradies

gemäss den letzten verfügbaren informationen sind dabei 91 menschen ums leben gekommen, 84 alleine im sommerlager der sozialdemokratischen jugend.

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aus dem paradies sei die hölle geworden, sagte heute morgen jens stoltenberg, der norwegische ministerpräsident, im radio, als er zum schrecklichen doppelattentat im regierungsviertel von oslo und auf einer vorgelagerten insel stellung nahm.

nach augenzeugenberichten ist der attentäter kurz nach der bombenexplosion in der norwegischen hauptstadt als polizist verkleidet und mit gesicherter waffe auf die insel mit dem camp gefahren. dort gab er vor, einen sicherheitscheck vornehmen zu müssen. die rund 600 jugendlichen wurden gerade versammelt, um über die tat in der hauptstadt informiert zu werden, als der attentäter unvermittelt in die menschenmenge schoss. es scheint, dass der erste anschlag nur dazu genutzt wurde, die stimmung herzustellen, welche die eigentliche tat erst ermöglichte.

obwohl örtlich so nahe, sind wir hier in holzhausen so fern den schrecklichen ereignisse. das internet verbreitet sie zwar in windeseile; nur eine halbe stunde nach dem ersten anschlag waren wir über das wichtigste informiert. Auch über das radio bekommt man etwas von der erschütterung des nachbarlandes mit, die in der nachkriegszeit ihresgleichen sucht.

doch wirkt dies alles so unrealistisch: „ausgerechnet norwegen!“, denkt man sich. so reich, so zivilisiert. ausgerechnet die sozialdemokratische jugend, die sich für eine besser welt versammelte, könnte man nachschieben. und man muss sich fragen, warum das ganze?

antworten sind schwer zu finden. natürlich, man weiss um die attentate auf olof palme und anna lindh in schweden. doch die galten sozialdemokratischen politikerInnen, deren einfluss auf die welt nicht allen passten. das setzte die bekannte kritik an der linken politik ab, die für die mehrheit politisch bleibt, bei extremisten aber batürliche hemmschwelle gegenüber gewalt senkt.

dennoch, das ganze hat eine bis gestern unbekannte dimension. betroffen ist das friedliche norwegen. getroffen hat es junge menschen, voller ideale, aber ohne macht. wahllos wurden sie erschossen, einfach, weil sie da waren.

zuerst hiess es, es seien islamistisch motivierte anschläge, um den rückzug norwegens aus afghanistan zu erzwingen. ganz unplausibel wirkte diese hypothese nicht, denn nach der liquidierung von osama bin laden durch die usa hatte man immer wieder gehört, die neue al quaida werde sich rächen. doch passt der hergang des geschehen sowenig zu den ereignissen.

passender wirkt da, die multikulturelle politik der linken norwegischen regierung sei der auslöser. in rechtspopulistichen kreisen gilt sie als schandtat, als verrat am eigenen land. zwar gehört, so liesst man, der attentäter nicht zur norwegischen neonazi-szene. doch habe er über facebook konservative, christliche und nationalistische kritik betrieben, bevor er zur eigenen tat schreitet.

anomie nennen das die soziologInnen: orientierungslosigkeit angesichts des auseinanderfallens von zielen und normen, von wünschen und verhältnissen. die kann politisch verschiedene, auf jeden fall unüblich folgen haben. dazu gehört das ausrasten, als einzelner, als kleine gruppe. eine politische gemeinschaft ist defür nicht einmal nötig.

doch wie gesagt, dass geschehene ist real, erleben kann man es hier nicht. so bleibt, dass der bericht vor allem ein virtueller ist, bei dem vorsicht angesagt bleibt. denn im paradies von holzhausen wirkt das an sich sehr, sehr irreal.

stadtwanderer

gegen den strom

in einer woche brechen bruno und elisabeth kaufmann zu einer grossen reise nach südostasien auf. sie feiern ihren zwanzigsten hochzeitstag mit einer grossen schiffahrt den mekong hoch. „gegen den strom“ lautet das vielsagende reisemotto, das auch ein lebensmotto sein könnte.

arboga. schwedische kleinstadt mit eigenem stadtwanderer. sommerresidenz der familie kaufmann. nichts fürstliches, aber frisch geräumtes, wohliges ferienhäuschen im wald. bruno, elisabet, wanja und nina und die beiden neuen meerschweinchen sind wie jeden sommer da.

indes, in wenigen tagen werden die weltbummlerInnen über den halben erdball verteilt sein. die beiden töchter fahren ins bündnerische s’canf in ein sommerlager für auslandschweizerInnen, und die eltern fliegen nach vietnam, wo sie ihren 20. hochzeitstag mit einer reise den mekong hinaus feiern wollen.

„gegen den strom“ ist nicht nur der titel der reise in südostasien, unter dem nordland-korrespondent bruno kaufmann für das schweizer radio drs 2 berichten wird. „gegen den strom“ ist auch eine art lebensmotto für den politikwissenschafter aus zofingen, der seit jahren in schweden lebt.

in der schweiz war er in jungen jahren aktivist bei der gsoa. dann machte er beim verlag eurotopia mit. schliesslich stiess er zum initiative&referendum institut, dessen europäischer ableger er heute präsidiert.

immer ging es um einen seiner träume, der noch nirgends verwirklicht war.
für eine schweiz ohne armee.
für eine europa mit einer transnationalen bürgerschaft.
und für eine partizipatorische demokratie weltweit.

in falun, wo die kaufmanns normalerweise wohnen, ist bruno zwischenzeitlich mitglied der stadtregierung. sein ressort: wahlen und verfassung. sein ziel: volksabstimmungen einführen in der traditionsreichen bergarbeiterstadt schwedens.

profitieren kann bruno nicht nur von der weltanschauung der grünen, die er im stadtrat vertritt, die ganz auf bürgerInnen-nähe der politik setzt. einen nutzen zieht er auch aus seinem weltweiten netzwerk mit förderen von volksrechten.

ich solle seine neueste broschüre kommentieren, sagt er zu mir, während er mit joe matthews in kalifornien skypt. und während ich ihm meine bemerkungen mitteile, streckt er mir einen leitfaden zur bürgerinitiative in der europäischen union entgegeben, und ein buch zu volksabstimmungen in schweden. an beiden publikationen hat er massgeblich mitgewirkt.

fast könnte man den eindruck gewinnen, der unermüdlich kämpfer für die demokratisierung der demokratien schwimme gar nicht mehr gegen den strom, sondern schon längst mit ihm. nicht weil er, bruno, seine richtung geändert hätte, er weil der strom nur bergauf fliesse.

doch dann führt er mich auf den punkt zurück,der ihm wichtig ist. seinen reisebericht über schwimmende dörfer am mekong, strahlt drs 2 am 23. oktober 2011 aus – dann wenn ich, wohl mit dem strom schwimmend, die wahlen ins eidgenössischen parlament kommentieren werde, wird seine stimme gegen gegen den strom ankämpfen.

stadtwanderer

die brücke von gümmenen – verhandelt am symposium von holzhausen

alles begann mit den ersten cantarelllen aus den värmländischen wäldern. dann kamen maiskolben dazu, ochsenfilet, erdbeeren und schlagsahne. zusammen ergab das schon am freitag nachmittag ein oppulentes sonntagsessen. und da konnte die gelehrte disputation nicht fehlen.

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die holzbrücke von gümmenen, aus dem jahre 1739. ihre vorläuferbrücke war von höchster imperialer bedeutung, ebenso wie für die die geschichte der eidgenossenschaft.

das heutige symposium im schwedischen holzhausen war verschiedensten themen gewidmet, vor allem aber der brücke der gümmenen. vor ort erscheint sie den bewohnerInnen als überkommene zeugin aus frühern zeiten, längst überholt durch die verkehrsrealität der gegenwart. aus der distanz ist sie ein wahrhaftes zeugnis imperialer politik, betrieben durch karl iv., ihm dienste der böhmischen kirche und mit nebeneffekten für die bernische und eidgenössische politik.

zu beginn flossen wisky und aquavit, importiert aus der duty free in zürich. Hinzu kam ein rotweis aus dem systembolaget in torsby. die hauptspeise bestand aus edlem fleisch aus dem ica, von wo auch die maiskolben kamen. zur nachspeise gab es erdbeeren aus ekshärad, und schlagsahne, geschwungen in holzhausen. da durften die vanillekekse aus der vorratsbüchse und der kaffee aus dem rot krug nicht fehlen.

der themen waren viele. eine spannende diskussion entstand jedoch über die eidgenossenschaft. einig war man sich, dass der prinzip gut sei. selbstverwaltung, verbunden mit selbstverteidigung im ernstfall, jedoch nicht ohne verbindungen mit dem umwelt.

bei der ergründung, warum es eidgenossenschaften ausserhalb der heutigen schweiz kaum gab, stiessen die standpunkte aufeinander.
der eine: das ist eine schweizerische erfindung, von hohem inneren wert, jedoch ohne bedeutung für andere (rechts)verhältnisse.
der andere: die ausdehnung von eidgenossenschaften als landfriedensbünde wurde von kaiser karl iv. gestoppt, weil er statt bündischen adelige verhältnisse vorzog.

die fakten:
erstmals anerkannt wurden eidgenossenschaften 1365 – durch kaiser karl iv. der war von hause aus luxemburger, mit den böhmischen premyliden verheiratet, französisch erzogen, mehrerer sprachen mächtig, der als könig in prag die stadt zur kaiserresidenz machte.

eines seiner politischen ziele war die anerkennung des bistums böhmens durch den papst, denn die abhängigkeit von regensburg und damit von bayern mochte man in prag nicht. dafür galt es, einen sicheren weg nach „rom“, sprich zum papst, zu haben. wäre dieser damals wie üblich in rom gewesen, hätten die eidgenossen in im mittelland zwischen jura und alpen keine rolle gespielt. da er aber in „exil“ in avignon herrschte, führte der weg zum papst mitten durch dieses mittelland. dem kaiser jedoch waren die landfriedensbünde, die an die kaiserlose zeit nach friedrich II. und vor rudolf I. erinnerten suspekt. nur widerwillen lernte er sie zu akzeptieren.

in jungen jahren hatte kaiser karl iv. auf die goldene bulle gesetzt. damit wollte er die rechtsvehältnisse im unüberischtlich geworden reich neu ordnen. denn die adelkriege hatten die ehemalige einheitlichkeit des reichs in die ferne rücken lassen.

zu den übergeordenten zielen der kaiserzeit von karl gehörte, prag, seine residenzstadt zum sitz eines eigene bistums machen zu können. denn die abhängigkeit von regensburg und damit von bayern mochte man in prag nie.

dafür galt es, einen sicheren weg nach „rom“, sprich zum papst, zu haben. wäre dieser damals wie üblich in rom gewesen, hätten die eidgenossen in im mittelland zwischen jura und alpen keine rolle gespielt. da er aber in „exil“ in avignon herrschte, führte der weg zum papst mitten durch dieses mittelland.

das bündnis der zürcher mit den waldstätten nach der pest hatte der kaiser mit krieg auf gelöst. das gleiche der berner akzeptierte er ein dutzend jahre später. denn auf dem weg nach avignon erschien ihm bern unumgänglich.

auf dem weg in die papststadt hauste karl ein erstes mal in bern. die krone diente ihm als absteige, doch kam es noch zu keinem verhandlungsergebnis. erst auf dem rückweg einigten sich die beiden parteien.

von bern verlangte der kaiser, dass die bürgerlichen kräfte, die nach der ersten pestwelle an die macht gekommen waren, den traditionsreichen junkern wieder platz machen würden. die von bubenbergs, zwischenzeitlich im könizer exi,l kehrten in die stadt zurück und übernahmen das amt des schultheissen erneut.

die stadt wurde mehrfach privilegiert. sie erhielt erstmals ein festes kaufhaus und wurde damit für den überregionalen handel attraktiv. um ihre stellung in der umgebung zu sichern, erhielt sie die rechte über die hoheitliche brücke bei gümmenen, im grenzraum zwischen dem alten schwaben und burgund.

kaiser karl der vierte anerkannt mit der übertragung der rechte über die brücke zu gümmenen nicht nur die reichsstadt bern, sondern auch ihre regionalen herrschaft. diese galt dem kaiser als garantin für die sichere wege durch die gegend, und damit für die verbindung von prag nach avignon.

das war für die stadt bern, ihre burgundische eidgenossenschaft und die verbindung zu jener der waldtstätte nicht ohne. denn erstmals akzeptierte ein kaiser die rechtsform, die sonst nur ausserhalb geregelter regierungszeiten gültigkeit gefunden hatte.

ausgedehnt haben sich eidgenossenschaft darüber hinaus aber kaum. den sie galten nach wie vor als unordentliche bündnissysteme, von minderem rang, und maximal in übergangszeiten zur rechtssicherung akzeptabel.

der alte aus holzhausen, der selber in der nähe der karlsbrücke in prag lebte, danach nach bern emigrierte und heute in den värmländischen wäldern cantarelle findet, bevor man sie irgendwo sonst bekommt, staunte nicht schlecht, als der die ausführungen vom stadtwanderer hörte. denn wie für jeden prager ist karl iv. für ihn ein vorbild an internationaler ausrichtung, staatsrechtlicher ordnung und lokaler verbundenheit in prag, bern und holzhausen.

in erinnerung an seine fischereiwege ins seeland erhob er in holzhausen seine arme. „ich bin karl der vierte, der weiss, wie wichtig der übergang bei gümmenen ist, wenn man in bern lebt“, rief er am essenstisch aus.

das alles mitten im holzhausener symposion bei cantarellen, ochsenfleisch und erdbeeren, das die juristische anerkennung der eidgenossenschaft am beispiel der holzbrücke von gümmenen klärte.

jetzt fehlen nur noch die karpen im teich und auf dem teller! vielleicht bekommen wir welche bis zu weihnachten in bern …

stadtwanderer

soll ich nun für die weltwoche schreiben?

ich habe ein angebot, neuerdings für die weltwoche zu schreiben. hier das dispositiv meiner noch ausstehenden entscheidung.

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wie man ihn kennt: cr roger köppel. was man jedoch nicht weiss: er will den stadt- wanderer anheuern.

es ist bekannt: auf der redaktion der weltwoche mag man mich nicht wirklich. und ich bin kein freund des weltwache-journalismus, der auf alles schiesst, was ausserhalb der svp um einen kopf aus der menge herausragt.

umso erstaunlicher war es für mich, als mich nach der letzten “arena”-sendung, an der ich teilnahm, mein experten-nachbar und wewo-chef roger köppel ein angebot machte, über historische themen für seine gazette zu schreiben. verlockend für mich, einer meiner starken neigungen noch etwas mehr als bisher nach gehen zu können – verlockend aber auch für ihn, mich von der analyse der gegenwart abzuhalten.

für meine sommerferien im schwedischen holzhausen habe ich mir mal ein arbeitsthema gegeben: “axel ochsenstierna beitrag zur staatenbildung der schweiz”.

den meisten mag das gar nichts sagen. denn kaum jemand dürfte den namen des schweden während des 30jährigen krieges von 1618 bis 1648 je gehört haben, der sich bei den verhandlungen für den westfälischen frieden so tatkräftig gegen den kaiser und für die sache der reformierten hervor getan hatte. auf den französischen könig war in dieser sache nämlich kein grosser verlass.

meine these lautet: die reformierten in der schweiz haben ihre gleichstellung mit den katholiken nicht nur in den villmerger kriegen von 1712 erkämpft. die emanzipation der gläubigen in zürich, schaffhausen, basel, bern und lausanne von der vorherrschaft der katholischen orte wurde vom schwedischen reichskanzler tatkräftig vorbereitet. insofern ist der aufstieg der reformierten städte in der schweiz im 18. jahrhundert nur ein vorspiel ihrer isolierten stellung, die aus einer vernetzung mit dem ausland hervorging. der urbane protestantismus in der schweiz ist damit seit seiner gleichberechtigung aussenorientiert-europäisch, nur hat er das vergessen!

die formulierung gewagter thesen habe ich ja als kritischer wewo-leser gelernt. entweder kann ich sie nicht bestätigen, dann schicke ich roger köppel wohl nur eine postkarte aus den ferien. denn unbestätigte thesen gehören nicht in ein politmagazin. oder es gelingt mir der dialektische schritt, und dann schicke ich am 1. august 2011 mein ochsenstierna-manuskript an die chefredaktion der wewo.

mauluege was de sommer so aues brengt!

stadtwanderer

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es waren staatsbürgerinnen ohne stimmrecht

den langen weg zum frauenstimmrecht hat die berner geschichtsprofessorin beatrix mesmer anhand der politik der frauenverbände im 20. jahrhundert nachgezeichnet. ihr schluss, erst damit, dass frauenrechte als teil der menschenrechte gesehen wurde, kam es zum durchbruch.

978-3-0340-0857-0während des ersten weltkrieges bauten die frauen auf vorleistungen wie die freiwillige nationale frauenspende.
in den ersten kantonalen abstimmungen nach dem krieg, die das frauenstimmrecht vorsahen, honorierten die männer das nicht.

dann setzten die frauen auf die doppelte qualifizierung der mädchen für beruf und haushalt, um den ihnen zu mehr ökonomischen einfluss zu verhelten.
doch das scheiterte angesichts der tiefen wirtschaftskrise der dreissigerjahre.

schliesslich versuchte man es nach dem zweiten weltkrieg über den einsitz in expertenkommissionen, um auf die gesetzgebung einfluss zu nehmen.
das zeigte bescheidene erfolge, wie beispielsweise bei der staatsbürgerschaft verheirateter frauen.

erst die rezeption der menschenrechtsdeklaration verhalf dem frauenstimmrecht zum durchbruch. sämtliche verbände fanden sich einer arbeitsgemeinschaft zusammen, welche in kantonen und auf bundesebene volksabstimmungen verlangten.
dank einer neuen demonstrationskultur wurde der öffentliche druck so gross, dass 1971 die wichtige etappe in der gleichstellung der geschlechter in der schweiz gelang.

am 6.6.1971 stimmten die frauen erstmals wie die männer in einer eidgenössischen sache ab.
aus staatsbürgerinnen ohne stimmrecht waren nach einer langen und beschwerlichen wanderung vollwärtige stimmbürgerInnen geworden.

stadtwanderer

die kleine verfassungsrevision von 1866

schon die ersten abstimmungen zu verfassungsänderungen zeigten stärken und schwächen der direkten demokratie: ihre entscheidungen sind durch das volk legitimiert, und sie können im widerspruch stehen zum übergeordneten menschenrecht.

Bundesverfassung_1848_Schweizdie bundes- verfassung von 1848 hielt bis 1874, trotz wichtigen änderungen im jahre 1866

wenn es um schweizerische verfassungsgeschichte geht, spricht man gerne von 1848, 1874 und 1999, den drei daten, an denen die jeweils neuen bundesverfassungen beschlossen wurden. 1848 wurde die liberale bundesverfassung eingeführt, 1874 und 1999 kam es zu zwei erfolgreichen totalrevisionen.

wenig gesprochen wird dagagen vom jahr 1866, als es zur ersten kleinen verfassungsrevision kam. am 14. januar beschlossen die stimmenden alle bürger in bezug auf niederlassung und gesetz gleichzustellen. damit fiel die ausnahmebestimmung für juden, die in der alten eidgenossenschaft tradition hatte und auch in die 1848er verfassung eingang gefunden hatte. weiterreichende gleichstellungen wurden indessen verworfen. sie hätten beispielsweise auch das stimmrecht, die glauben- und kultusfreiheit füür juden gebracht.

zur abstimmung kamen die vorlagen, weil frankreich in der schweiz interventiert hatte. denn die verfassung von 1848 garantierte den juden nicht, was für christen galt. kaiser napoléon III. verlangte, das im sinne der menschenrechte zu ändern. bundesrat und parlament stimmten dem zu und mischten einige entschärfungen von schwächen der 48er verfassung wie die vereinheitlichung von massen und gewichten bei, sodass es zu den ersten neun volksabstimmungen in der schweiz kam.

wirklich vorbereitet war man darauf nicht. das merkt man bis heute, wenn man die unterlagen zu entscheidung studiert. so gab es kein register der stimmberechtigten, das es erlaubt hätte, die stimmbeteiligung zu ermitteln. sie ist bis heute unbekannt. man weiss einzig, dass rund 320’000 personen stimmten. und merkwürdig mutet an, dass die vereinheitlichung der masse und gewichte angenommen wurde, obwohl eine mehrheit der kantone die zentralisierung ablehnte.

das alles hatte damit zu tun, dass die liberalen teilrevisionen ihrer verfassung von 1848 nicht zulassen wollten. zu stark fürchteten sie die opposition aus dem katholisch-konservativen lager, aber auch aus der romandie. deshalb bereitete man verfassungsrevision durch das volk gar nicht vor.

1872, beim ersten versuch, die bundesverfassung geordnet zu revidieren, kam es denn auch zu dieser doppelten opposition, sodass der versuch mit 49 zu 51 prozent zugunsten der ablehnung scheiterte. erst 1874 gelang die erste totalrevision mit einer volkszustimmung.

bei meiner stadtwanderung mit dem international zusammengesetzten beirat zur vox-analyse, die ich am freitag abend durchführte, wurden mir die zusammenhänge so richtig bewusst.

frankreich ist nicht nur geburtsort des europäischen demokratieverständnisses. mit der jakobinischen verfassung von 1793 wurden auch erstmals volksrechte proklamiert. der gedanke wurde in der folge nicht weiter verfolgt; vielmehr entwickelte sich in frankreich der parlamentarismus, mit einem kaiser, könig oder staatspräsidenten an der spitze.

in anlehnung an die landsgemeinden in den landkantonen entwickelte sich die demokratie schrittweise weiter: zuerst von der versammlungs- zur abstimmungsdemokratie. dann von der verfassungsmässig geschützten parlamentarischen demokratie zur direkten demokratie.

eine schwäche blieb: die einbettung in menschenrechte, die universelle gültigkeit beanspruchen war gering und sie ist bis heute eine schwäche geblieben. da brauchte und braucht es bis in die heutige zeit gegendruck von aussen. daran erinnern abstimmungen über “outgroups” von 1866 bis in die heutige zeit.

stadtwanderer

weg womit?

gut heisst er. was er heute bietet, ist schlecht.

bundesrat

hätte es noch eines beweises bedurft, dass das vulgäre an (fast) keiner mediums- grenze mehr halt macht, dann wäre er spätestens heute erbracht worden. denn in der nzz karikiert peter gut wie immer samstags den entscheid des bundesrates in sachen atomausstieg mit den vier bunderätinnen, einzig mit einem kühlturm bekleidet, in aufreizender pose. untertitel ist: “weg damit!”

selbstverständlich fragt man sich womit?

mit der kernenergie?
mit dem feigenblatt?
mit den bundesrätInnen?

machen wir uns nichts vor, in der 162jährigen geschichte der schweizerischen eidgenossenschaft ist das der erste spektakuläre entscheid, den eine frauenmehrheit im bundesrat gefällt hat. nicht nur der ausstieg ist von historischer tragweite, auch der zusammensetzung von mehr- und minderheit gebührt die würdigung. “weg damit” unterstellt, die vier zustimmenden bundesrätinnen hätte es sich leicht gemacht. in einer art kurzschlusshandlung entschieden, die folgen nicht bedacht. das sind die worte der kritikerInnen, die ehrenswert sind, solange auf die sache zielen. diese darf dabei aber nicht verstellt werden. beschlossen wurde ein geordneter, mittelfristiger ausstieg. niemand will akws sofort abstellen, denn alle wissen, dass die sicherheit der versorgung, aber auch der menschen über allem stehen muss.

war mit weg damit gemeint, unsere bundesrätinnen müssten ausgezogen, wie sklavinnen auf dem jahremarkt der belustigungen vorgeführt und einmal tüchtig gezüchtigt werden? der visuell übersättigten mediengesellschaft ist das durchaus zuzutrauen. gerade politikerInnen werden seit ruth metzler auf ihr äusseres reduziert, teilweise mit widerstand, teilweise mit augenzwinkern und teilweise auch mit kalkuliertem gewinn. wie andere formen der personalisierung ist das alles ambivalent. es kann die aufmerksamkeit für politische botschaften erhöhen, es kann sie aber auch bis zur unkenntlichkeit überlagern. das ist namentlich dann der fall, wenn politikerInnen, ja bundesrätInnen, zu sex-objekten für die männerbünde in der politöffentlichkeit werden. die aufregung war gross, als jüngst die juso die spitzen der internationalen wirtschaft in der schweiz sinnbildlich entblöste, um sie für ihre politisches anliegen ohne rücksicht auf minimalstes sittliches empfinden zur schau zu stellen. die justiz musste einschreiten, um remedur zu schaffen. bleibt abzuwarten, was mit der durchaus vergleichbar unschicklichen nzz-karikatur geschieht.

denn weg damit kann in der postfeministischen äre der politischen diskurse auch bedeuten, dass man sich der frauen im bundesrat entledigen sollte. mindestens eine ist ja schon seit ihrer wahl auf der abschussliste. von einer zweiten sagt man, ihre karriere stehe im herbst des politikzyklus’. bei den beiden anderen war man bisher noch vorsichtiger. denn mindestens in den umfragen der sonntagspresse sind sie nicht nur die mitunter bekanntesten politikerinnen, sondern auch die beliebtesten im land. soll sich das nun alles vorbei sein? haben die magistratinnen mit ihrer atomentscheidung den politischen kredit verspielt? bei der wirtschaft, sagt man jedenfalls, um beizufügen, dass auch ihre sozialmoralische integrität in der gesellschaft in frage gestellt sei. wer so skandalisiert, will wohl eines: dass die bundesversammlung der frauenförderung in der politik endlich den riegel zu schiebt und wieder männern in die höchsten posten des staates wählt.

ich habe diese woche eine längeres gespräch gehabt mit einem kollegen – einem schweizer politikwissenschafter, der lange in den usa lebte, unserem land aus der distanz eng verbunden blieb. er erzählte mir davon, wie er mitbekommen habe, dass ein präsident einer nationalen partei in der beiz schlechte witze über ein der bundesrätinnen erzählt habe. das alles war vor fukushima und der kritisierten karikatur. mein gegenüber sagte mir, er habe den parteipräsidenten zur seite genommen, sich vorgestellt, als spezialist für konkordanz und gesprächskultur, um sich über den dramatischen zerfall der schweizerischen politkultur zu beklagen, in der nicht mehr der kampf um gegensätzliche standpunkte zähle, sondern die möglichst offen zur schau gestellte respektlosigkeit.

sexistische herabstufungen politisch andersdenkender ist kein fortschritt in der entwicklung der schweiz, für den mindestens in meiner vorstellung die nzz noch steht. es ist ein rückschritt, der nicht besser wird, wenn er mit gut signiert ist. denn das bild und seine symbolik sind und bleiben schlecht.

stadtwanderer

aussteigen

berns schülerInnen, die gestern lautstark durch die stadt zogen, nahmen die historische entscheidung des tages vorweg. denn heute hat der bundesrat beschlossen, dass sie schweiz aus der kernenergie auszusteigen soll.

HBWh4WVs_Pxgen_r_900x592drei szenarien hatte die bundesregierung heute vor augen: weiterfahren wie bisher, moratorium für den bau neuer kernkraftwerke und ausstieg aus der kernenergie. sie entschied sich nach einer vierstündigen diskussion für letzteres. aussteigen heisst für den bundesrat aber nicht abschalten. das wurde in den letzten wochen klar. keine ernsthafte partei forderte das auch heute. es heisst aber, dass in der schweiz kein neues kernkraftwerk mehr gebaut wird. die bestehenden bleiben am netz solange ihr betrieb sicher ist, dann werden beznau, mühleberg, gösgen und leibstadt schrittweise abegschaltet und die stromversorgung aus der kernenergie läuft aus.

nach fukushima fühlten sich die umweltorganisationen, unterstützt von den rotgrünen parteien mit ihrer akw-kritik bestätigt. sie mobilisierten die anti-akw-bewegung neu und drängten auf den ausstieg, je schneller, desto besser. massgeblich war aber der schwenker der bdp, denn erst das hatte die bürgerliche mitte unter druck gesetzt und die mehrheitsverhältnisse aufgeweicht. bei der cvp scheint das eine wirkung im gewünschten sinne gezeigt haben, bei der fdp nicht.

die wirtschaft, vertreten durch economiesuisse, wollte sich die zukunft nicht verbauen, wie sie es sagte und optierte für eine fortsetzung der kernenergie, wohlwissend dass auch zentrale akteure in der energiebranche der meinung sind, ein neues kernkraftwerk könne nach dem unfall in japan nicht mehr gebaut werden. denn dafür wird ein volksabstimmung nötig sein, bei der man ohne klar veränderte rahmenbedingungen kein ja zur kernkraft erwarten könne.

wer heute wie gestimmt hat, weiss man nicht wirklich. am wochenende noch wurde in der presse heftig darüber spekuliert. calmy-rey, sommaruga und widmer-schlumpf galten als befürworterInnen des ausstiegs, maurer, burkhalter und schneider-ammann als gegner. unbekannt war die position der volkswirtschaftsministerin leuthard. ihr wechsel ins uvek im letzten herbst wurde immer wieder damit begründet, sie müsse der schweiz die atomzukunft sichern. umgekehrt war nach fukushima klar geworden, dass sie es war, welche das laufende verfahren für die neuen rahmenbewilligungen sistierte. so wie die cvp den entscheid kommentiert, hat die energieministerin heute für die energiewende votiert, was heissen würde, die vier frauen im bundesrat war fürs aussteigen, die drei männer dagegen.

so wie ich die schweizerInnen einschätze, wird die versorgungssicherheit ein wichtiges thema bleiben: stromausfällen und und energierationierung steht sie negativ gegenüber. doch heute ist die sicherheitsfrage nicht mehr alleine eine der kraftwerksbetreiber. denn ihre vision der technologie ist mit jedem unfall verblasst. die bevölkerung selber blieb stets zurückhaltend.für das nachdenken über alternativen fanden sich mehrheiten, für den ausstieg nie. ungelöst blieb (und bleibt) die endlagerfrage. vor die wahl gestellt, freiwillig auf ein akw in mühlberg verzichten, sagte vor wenigen wochen noch eine knappe mehrheit der bernerInnen nein. nach fukushima lehnte aber kantone wie die waadt ein tiefenlager für radioaktive abfälle deutlicher noch ab. andere, wie der kanton jura, sistierten entsprechende abstimmungen, wissend, was dabei herausgekommen wäre.

den trend in der ausstiegsdebatte setzten die grossen städte. eine um die andere beschloss in regierung, parlament und mit volksmehr den ausstieg aus der kernenergie auf zeit, ähnlich wie es der bundesrat jetzt tut. der ist klarer in der frage der investitionen. die energieeffizienz muss gesteigert werden, und das geld für neubauten soll in erneuerbare energieträger geleitet werden.

die schülerInnen, die gestern mit ihrem streik und mit ihrem protest die stadt aufrüttelten, wussten das. ob sie auch wussten, dass die schweiz, vertreten durch ihre regierung, heute einen ausstiegsentscheid fällen würde, kann bezweifelt werden. wohl hofften sie es, und wohl dachten sie auch, dass es wieder nicht reichen würde.

nun soll alles anders kommen. der bundesrat wird gefordert sein, seinen entscheid sauber zu begründen und ihm taten folgen zu lassen. das parlament wird noch in seiner alten zusammensetzung im juni 2011 darüber beraten, und da wird sich zeigen, wie stabil die politischen verhältnisse in dieser frage sind. nicht zuletzt ist jetzt damit zu rechnen, dass auch die wahlen vom herbst zum gradmesser werden, wie sich die schweiz ihre zukunft vorstellt – jetzt ohne atomenergie.

stadtwanderer

20 minuten für ein bild und einen text

zuerst war ein plakat. dann ein spannungsaufbau. und jetzt die lösung. mit exklusivem bericht beim “stadtwanderer”.

topelement
offizielle version der rätsellösung gemäss 20 minuten – die inoffizielle gemäss stadtwanderer folgt …

seit einigen tagen hängt an bester lage beim berner hauptbahnhof ein plakat. gezeigt wurde ein mann – von hinten. die gepflegte frisur, das dunkle haar mit wenig grau meliertem dazwischen erinnert einen – an einen bildschnitt aus dem “club”. doch auf dem plakat findet sich kein name. dafür reichlich politisches. “spannungsaufbau” nennt man das in der politwerbung.

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das seien seine kernbotschaften im nationalratswahlkampf, erklärte gestern mittag matthias aebischer dem reporter von “20 min“. der wollte über den unbekannten auf dem bild berichten, denn heute soll das rätsel aufgelöst werden. kandidat aebischer will sich um 180 grad drehen (nicht politisch) und seinen wählerInnen inskünftig direkt in die augen sehen.

mit dem stadtwanderer haben die beiden kommunikationsfachleute jedoch nicht gerechnet. aufgefallen war mir das plakat ende letzter woche, und es war mir klar, dass ich daraus eine geschichte machen werde. schliesslich ist meine “ali kebap” geschichte immer noch die meist gelesenste auf dem stadtwanderer.

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“früh, sehr früh” starte die kampagne, gebe ich dem fragenden reporter zur antwort. denn personenentscheidungen würden in der regel erst im herbst fallen, “in den 6 wochen vor der wahl.”

er habe nur ein kleines budget zur verfügung, kontert aebischer, deshalb wolle er auffallen, bevor es alle anderen auch versuchen, begründet er seinen auftritt wider den mainstream.

“hält er das durch?”, will der reporter wissen.

sicher bin ich mir nicht. werberisch wäre das nur mit einer grossten stange geld möglich. doch das schafft nicht einmal c.b. aus h. publizistisch kann man es mit einer ereignishaften wahlkampagne versuchen, die früh aufmerksamkeit erheischt, und das interessen dann journalistisch hoch hält.

dass man das risiko eingeht, hat wohl mit der situation auf der sp-liste zu tun: andre daguet tritt vorzeitig zurück, macht damit platz für seinen wunschnachfolger. lumengo, der ausgetretene, kandidiert wieder, aber auf einer eigenen liste. und auf der männerliste der berner sp hat es drei promis, die einsteigen wollen: alex tschäppät, der stapi, jacques de haller, der ober-arzt, und eben matthias aebischer, der mann, den man vom tv kennt.

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ich habe verschiedene tv-mitarbeiter kennen gelernt, die ihre bekanntheit für eine politische karriere nutzen wollten. der erste war toni schaller, in den 90er jahren chefredaktor. er verrechnete sich, als er der wählerschaft kurz und bündig mitteilte, “ich bin kandidat”. weder wurde er für den landesring zürcher regierungsrat, noch scahffter er es in nationalrat. sein scheitern begründete gar das ende des ldu. besser machte es filippo leutenegger, ebenfalls chef der leutschenbach-redaktionen, als er sich für ein nationales parlamentsmandat bewarb. er hatte bemerkt, dass es nicht nur um bekanntheit, sondern auch um positionierung geht, wenn man gewählt werden will. vermutet hätte man, dass er für die svp antreten würde, effektiv fand man ihn auf der fdp-liste wieder. um sein liberales credo zu kommunizieren, erzählte der quereinsteiger allen von seinem privat initiierten kinderhortprojekt. familie ja, aber ohne staatsknete, kam da rüber.

äbischer, heute bekanntlich nicht mehr beim fernsehen, dafür lehrbeauftragter für tv-journalismus in freiburg und winterthur und hausmann, setzt noch deutlicher auf themen: familie, bildung, öv und erneuerbare energien sind seine schwerpunkte. rhetorisch fragt er, wer sich dafür einsetze. er und sein sp kann man ab heute auf dem gewendeten plakat nachlesen.

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übrigens, mein überraschender kurzauftritt während der fotosession sorgte für eine kleine aufregung. spätestens mit meinem schnapschuss aus meiner kamera wurde allen klar, dass ich hierzu bloggen werde. eigentlich ganz gut in einer ereignishaften kampagne, dachte ich mir. doch dem berichterstatter von der geschriebenen presse wurde sofort klar, dass ich schneller sein könnte, der primeur damit futsch sein könnte. denn mehr als 20 minuten brauche ich nicht, um ein foto aufs web zu bringen, und einen text dazu zu stellen. damit die kirche im dorf und matthias im gespräch bleibt, einigte wird uns auf eine einvernehmliche publikationsabfolge …

stadtwanderer

wettstein, die eidgenossenschaft und ihre souveränität

johann rudolf wettstein gilt als der mann, der 1648 die unabhängigkeit der eidgenossenschaft vom kaiserreich erwirkte. nun ist seine biografie aus dem jahre 1935 neu aufgelegt worden, die eine kleine kontroverse über die souveränität der schweiz in gegenwart und geschichte ausgelöst hat.

413-Z1kLQnL._SL500_AA300_1935 veröffentlichte mary lavater-sloman das buch „Der Schweizerkönig“. porträtiert wurde darin johann rudolf wettstein, der legendäre basler bürgermeister, der am friedenskongress zur beendigung des „Dreissigjährigen Krieges“ die unabhängigkeit der eidgenossenschaft verhandelt hat.

neuauflage der biografie

nun ist das buch von der deutsch-schweizerischen winterthurerin 2011 im römerhof-verlag in zürich in leicht redigierter form eben erst neu erschienen. ob ich es zur lektüre empfehlen würde oder nicht, weiss ich nicht wirklich. obwohl aufgrund von quellen verfasst, gleicht die erzählung mehr einem historischen roman als einem geschichtswerk. denn es werden auch geschichten erzählt, die literarischer natur sind, um durch gegensätze spannungen zu erzeugen, die einem beim lesen der biografie vorantreiben soll.
ich weiss aber, dass die buchpublikation vor wenigen wochen eine kleine kontroverse mit grundsätzlichen fragen ausgelöst hat. angefangen hat dies mit dem nachwort, verfasst vom unternehmer und emeritierten zürcher philosophieprofessor georg kohler, dem flugs eine buchbesprechung aus der feder des herrliberger unternehmers und alt-bundesrat christoph blocher in der bücherbeilage der „NZZ am Sonntag“ gefolgt ist.
worum geht es? letztlich nicht um die biografie von johann rudolf wettstein. denn sie ist zu vielschichtig, um in einer politischen debatte der gegenwart eine eindeutige zeugin für eine partei zu sein.
1594 geboren, vermählte sich der 17jährige johann mit anna marie falkner; der ehe entsprangen 9 kinder. der 22jährige setze sich nach einer ehekrise richtung süden ab, trat in venezianische dienste ein, bevor er landvogt und schliesslich bürgermeister basels wurde, ein amt, das er bis zu seinem tode 1666 innehatte. überhaupt, die wettsteins waren alles andere als alteingesessene basler. erst 1579 hatten die zürcher einwanderer das bürgerrecht erworben. auch johann rudolf war nicht in basel ausgebildet worden. seine sporen als kontorist verdiente er sich im waadtländischen yverdon ab. einmal erster bürger seiner stadt, vertrat er jedoch ganz ihre interessen. im bauernkrieg von 1653 vertrat er gegenüber den aufständischen im baselbiet die harte hand der gottgewollten ordnung, liess er doch die anführer des aufstandes, die sich als gute eidgenossen gegen die obrigkeit vestanden, kurzerhand enthaupten. als grosses vorbild für das einfache volk taugt er damit überhaupt nicht.
wettsteins staatpolitische leistungen besteht sicherlich darin, 1646 ohne einladung zum treffen der möchtigen den rhein hinunter nach münster gereist zu sein, und ohne mandat der tagsatzung die sache basels und der eidgenossenschaft mit grossem verhandlungsgeschick vertreten zu haben, sodass er ein jahr später mit einem brief des kaisers und einem vertrag der garantiemächte in seine heimat zurückkehren konnte.

die kontroverse
um das, was das alles bedeutete, geht es in der kontroverse über wettstein und die eidgenossenschaft. doch da hilft die biografie nicht weiter. wie unsere älteren geschichtsbücher interpretiert sie nämlich das vertragswerk des westfälischen friedens als moment des austritts aus dem kaiserreich. das mag für die niederlande richtig und für die weltgeschichte sogar wichtig sein. auf die schweiz trifft es kaum zu, selbst wenn wir alle in der schule gelernt haben, dass sich die schweiz 1499 de facto, 1648 de jure aus dem kaiserreich verabschiedet habe.
kronzeuge für die neuinterpretation ist der schweizerisch-finnische historiker thomas maissen, geschichtsprofessor in heidelberg. er spricht nicht mehr von austritt der eidgenossen aus dem reich deutscher nation, weil das den damaligen eidgenossen gar nicht in den sinn gekommen wäre. 1499 wie 1648 habe der kaiser die eidgenossen von berpflichtungen des reiches ausgenommen, ihnen ihr gewohnheitsrecht bestätigt, und sie privilegiert, indem sie vor neuen verpflichtungen befreit wurden. für basel sei dies wichtig gewesen, denn der status der reichsstadt, die erst 1501 zur eidgenossenschaft stiess, blieb bis zum westfälischen frieden ungeklärt; für die eidgenossenschaft habe es sich mehr um eine bestätigung von privilegien und autonomie gehandelt. auch von einem souveränen afuftritt einer geeinten schweizerischen nation kann man 1648 nicht sprechen, denn die innere feindschaft seit der reformation blieb nicht ein zweidritteljahrhundert über den westfälischen frieden hinaus für die eidgenossen konstitutiv, war auch darin zum ausdruck kam, dass wettstein für die minorität der reformierten am treffen der grossen weilte, nicht aber der katholiken.
die zeitgenossen bejubelten die unabhängigkeit 1648 nicht, wie man das aus gegenwärtigen staatsgründungen kennt. sie verstanden sie auch nicht als das, eher als exemption, als ausnahme von reichspflichten. aus dem reichsverband schied die eidgenossenschaft denn auch erst 1806, bei der auflösung des kaiserreiches, sodass der dtatus der werdenden schweiz 1815 auf dem wiener kongress mit der selbständigkeit, mit garantien für grenzen und mit der neutralisierung des landes mitten in europa verbindlich festgelegt wurde.
1648 wurde die schweiz also alles andere als souverän. das letzte argument dafür ist, dass das konzept hierfür entwickelte der französische staatstheoretiker jean bodin im 16. jahrhundert in das völkerrecht eingeführt hatte, es von den eidgenossen aber erst in der zweiten hälfte des 17. jahrhunderts, als es nützlich erschien, die unabhängigkeit vom reich zu begründen, die jedoch mit dem Preis einer abhängigkeit von frankreich erkauft wurde. denn souverän war in dieser zeit der absolutistische könig frankreich, wie er mit louis XIV. vertreten wurde, während das volk seine souveränität erst mit der französischen revolution erreichte, als der bisherige souverän auf dem pariser marsfeld geköpft wurde.

geschichtspolitikerkritik
so mutet es in vielem als zeitgenössische geschichtspolitik an, wenn vordenker der gegenwart dem neuaufgelegten buch von mary lavater-sloman einen ganz bestimmten sinn abzugewinnen versuchen. hilfreich sind nur die hinweise, dass bürgermeister wettstein in den etappen zur selbständigkeit der Schweiz eine wichtige vollbracht hat; ideologisch mutet es an, wenn ein milliardär in franken den armseligen basler als wahren republikaner preist. hilfreich ist auch, dass das erscheinen der biografie weder 1935 noch 2011 zufällig war. übertrieben wirkt es jedoch, die neuauflage des Buches zum reloading des guten schweizers zu verklären.
denn die eidgenossenschaft erstarkte nicht, weil es solche vorbilder zweifelsfrei gab, sondern weil sich die eidgenossen später entschieden, nicht nur ein verteidigungsbund gegen aussen mit kriegsrat im innern zu sein, sondern auch eine schicksalsgemeinschaft zu werden, die sich stets ihrer selbst vergewissert, ohne zu vergessen, nicht nur sich, sondern auch andern verbunden zu sein. erst diese kombination macht sie souverän.

stadtwanderer

der härteste wahlkampf

grossbritannien will nichts von einer wahlreform wissen. die konservativen haben dem majorz die stange gehalten. in der schweiz ist alles anders, seit der kanton tessin zum 1890/1 zum proporz gewechselt hat, um den politischen konflikt zu entschärfen. ein rückblick aus aktuellem anlass.

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arnold künzli, aargauer unternehmer, politiker, oberstkorpskommandant, und “vater” des proporzwahlrechts im kanton tessin

der tessiner putsch von 1890

bei den tessiner wahlen von 1890 krachte es gewaltig. die konservativen machten 51 prozent der stimmen, bekamen aber zwei drittel der sitze. unüblich war das damals nicht, denn man bestellte die parlamente, ganz gemäss angelsächsischem vorbild, nach dem majorzverfahren. doch die wahlen von 1890 befriedeten den konflikt zwischen konservativen und liberalen nicht. sie beförderten ihn förmlich.

angefangen hatte alles mit der klosteraufhebung durch den freisinn in den 1850er jahren. 1875 schlug das pendel zurück. die siegreichen konservativen bevölkerten die klöster wieder, räumten dafür bei der freisinnigen lehrer- und beamtenschaft auf. die angespannte lage eskalierte nach den grossratswahlen 1889. die konservativen siegten hauchdünn, mit 51,5 prozent, stellten aber mehr als zwei drittel der grossräte. als sich die konservative regierung weigerte, eine wahlrechtsreform durchzuführen, kam es zum eklat. der 11. september 1890 gilt das stichtag des tessiner putsches. die freisinnigen scharfmacher erschossen einen konservativen regierungsrat.

die eidgenossenschaft intervenierte im arg zerstrittenen kanton. 1400 mann eidgenössischen truppen wurden entsandt. an ihrer spitze stand oberst arnold künzli. der unternehmer und politiker aus dem aargauischen riken bei murgenthal konnte auf eine bemerkenswerte karriere zurückblicken: gemeindeammann war er gewesen, er hatte im aargauischen gross- und regierungsrat gewirkt, bevor er nationalrat wurde. 1879 präsidierte er diesen, um danach in verschiedenen mission im namen der eidgenossenschaft zu wirken.

künzlis engagement im tessin war zwischen autoritativer macht, politischem gespür und knallharten verhandlungen angesiedelt. als erstes musste er die revolution stoppen und die gewählten, aber gestürzten behörden wieder einsetzen. dafür galt es, eine zustimmung zur wahlrechtsreform durchzusetzen.

mit dem damals neuen proporzwahlrecht für behörden sollte die verfeindeten lager gezwungen werden, aus der position der minderheit miteinander zusammen zuarbeiten. machtteilung war das rezept der inneren befriedung. 1919 wurde es erstmals auch landesweit eingesetzt, um die sozialen spannungen zu mindern. das war das ende der bipolarität zwischen freisinn und katholisch-konservativen, denn es entstanden mit der sp und der bgb zwei neue flügelparteien, welche in die regierungen auf bundes- und kantonsebene drängten.

die oberst künzli gesellschaft
1994 gründeten einige murgenthaler unternehmer die oberst-künzli-gesellschaft. in der stattlichen villa des politikers aus dem 19. jahrhundert versammelt man sich regelmässig, um kulturelle, wirtschaftliche und politische anlässe zu feiern. referenten der letzten jahre waren franz blankart, benedikt weibel und peter spuhler. gestern war der stadtwanderer an der reihe!

zufall oder absicht? man hatte mich gebeten, über das wahljahr 2011 zu sprechen. ein bisschen aus dem nähkästchen des wahlforschers habe ich gesprochen. zuerst anhand des aktuellen wahlbarometers. dann als politikwissenschafter, der trends in gesellschaft, medien und politik analysiert. zum schluss wagte ich auch eine kleine einordnung der anstehenden wahl in den zeitgenössischen kontext.

die politische polarisierung der gegenwart

natürlich ging es um die aktuelle polarisierung. wird 2011 ein neuer rekord in der parteipolitischen polarisierung bringen, der der traditionellen mitte das genick bricht? oder kommt es zu einer mässigung durch neuen brückenbauer wie die glp oder bdp? genau weiss man das heute noch nicht, man kann aber das plus und minus der polarisierung bilanzieren. zu ersterem zähle ich die enttabuisierung verdrängter themen in der konkordanz, die klarere frontstellungen zwischen nationalkonservativer und linksliberalen grundhaltung, und die wieder anziehenden beteiligung der bürgerInnen an der nationalen politik. doch mag ich nicht verschweigen, dass das ganze auch nachteile hat. zum beispiel die ungleich stark gewordenen politischen kräfte, welche die zusammenarbeit erschweren. oder der hang zum fundamentalismus, der den pragmatismus untergräbt. und die focussierung auf personen, entweder hübsch aussehen und medial vergöttert werden, oder zielscheibe übler attacken durch politische gegner werden.

damit waren wir bei einem anliegen der oberst künzli gesellschaft. auf den ersten blick hätte man meinen können, das sei eine der typischen vereine von eidgenossen mit schnauz. daran sind auch zwei sachen richtig. die 40 mitglieder sind alles männer. und einige haben auch bemerkenswerte barthaare. doch dann entpuppte sich die gesellschaft als versammlung interessierter und aktiver staatsbürger, die viele fragen jenseits der parteipolitik stellten.

wie die kleine kontroverse beim anschliessenden nachtessen zwischen kernenergiebefürwortern und photovolatik-distributeuren zeigte, muss man überhaupt nicht immer ein meinung sein. auf tote im eigentlichen und übertragenen sinne sollte man aber generell verzeichten – ganz nach dem vorbild der starken persönlichkeit aus riken bei murgental, wie man wieder aufleben lässt.

ein erfreulicher abend. ganz im sinne des stadtwanderers, den es auf das land verschlagen hatte. und besten dank für die biografie von klaus plaar zu arnold künzli, die ich auf dem heimweg gleich ganz verschlang.

stadtwanderer

stell dir vor, es ist europatag, und einer denkt dran!

der heutige 9. mai ist europatag – gedenktag der gründung der (vorläuferorganisation der) eu im jahre 1950 und seit 1985 offiziell begangen. ein geeigneter moment, die scheuklappen der helvetischen politik in dieser sache abzulegen.

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dieter freiburghaus, bei sich zuhause in solothurn, während des interviews zum verhältnis schweiz – europäische union für die unternehmerzeitung

vor einige tagen schrieb ich, zu den kommunikativen folgen des atomunfalls von fukushima gehöre, andere themen von der agenda verdrängt zu haben. damit meinte ich insbesondere, dass es keine eu-debatte mehr gäbe, weder von befürworterInnen noch von der gegnerschaft, aber auch nicht von den bilateralistInnen. ganz zu scheigen von den politexpertInnen.

mit einer ausnahme: dieter freiburghaus, vormals professor für politikwissenschaft am lausanner idheap, nimmt in der unternehmerzeitung kein blatt vor den mund – und stimmt offenbar mit mir überein: “Don’t ask, don’t tell”, zitiert er einen grundsatz der amerikanischen armee. denn sie hätte gewusst, auf schwule in ihren reihen angewiesen zu sein, es aber nie aussprochen.

das schweizerische tabuthema sei, dass die souveränität auch mit den bilateralen leide. die schweiz sei wirtschaftlich auf die integration im eu-binnenmarkt angewiesen. alles andere, wie vermehrte exporte nach china, sei angsichts der grössenordnungen, über die man spreche, augenwischerei. 1992 suchte man mit anderen eine institutionelle lösung über das ewr-abkommen, das in der volksabstimmung scheiterte. 2000 kam es zum abschluss der bilateralen verträge, die 2005 durch die bilateralen II erweiterte werden konnten. bei den bilateralen III steht die schweiz in brüssel indessen an. nach eine vorwarnzeit von rund zwei jahren.

“Wir können der EU beitreten, wir können am EWR teilnehmen, oder wir können die institutionellen Fragen bilateral verhandeln”, bilanziert der eu-experte, der jahrlang die kader des bundes und der kantone in fragen der europäischen union ausgebildet hat. für ihn ist klar: ein eu-beitritt würde scheitern – sicher an der mehrwertsteuer und an den jährlichen kosten. anderseits sieht er die bilateralen in der sackgasse. über den sektoriellen abkommen bestehe die eu auf einer generellen lösung für die übernahme ihres rechts und die schaffung eines schiedsgerichts für die bereiche, in denen man einen gemeinsamem vertrag wolle. doch sei dafür in den sektoriellen abkommen kein wirlicher platz.

aus sicht des politikexperten spricht alles für den ewr. der habe institutionelle lösungen realisiert, die der schweiz entgegen kämen. bei den entscheidungen sei man als nicht-eu-mitglied nicht dabei, bei ihrer vorbereitung jedoch schon. die gegenwärtig lösung sei schlechter, denn das eu-recht fliesse über verordnung in die schweiz – am parlament und volk vorbei.

blockiere die schweiz die von der eu-geforderten institutionellen regelungen wieter, werde es, prophezeit freiburghaus, zu einer ähnlichen situation wie beim bankgeheimnis kommen. über nacht werde man unverhandelbares aufgegeben müssen und damit eine innenpolitische krise ausgelösen. bis es soweit sei, werde der druck auf die schweiz zunehmen, etwa bei der holdingsteuer oder bei den doppelbesteuerungsabkommen.

freiburghaus, im bernischen laupen geboren, studierte in bern, st. gallen und berlin mathematik, ökonomie und politik, bevor er in bern eine eigene forschungsstelle für angewandte politikwissenschaft unterhielt, die ihn zur professur am genfersee führte. während jahren bot er mich in seinen kursen auf, seinen studierenden meine analyse des europabewusstseins der schweizerInnen zu unterbreiten. dabei habe ich einen in der literatur bewanderten, eher nüchtern kalkulierenden menschen kennen gelernt, der das, was ist, nicht einfach für gut hielt.

jetzt, wo er pensioniert ist, sagt er es den schweizer unternehmen unverblümt. “Der EWR wäre in meinen Augen eine schnelle und einfache Lösung.” dafür spreche, dass die gegenwärtigen streitpunkte in einem halben jahr vom tisch wären. dagegen streube man sich aber nach dem trauma von 1992. denn seither hoffe man, unterhalb des ewr-integrationsniveau vergleichbare vorteile zu erhalten, ohne nachteil zu haben. das sei eine illusion, an die bundesrat und parlament weiter glaubten, die von der svp verteufelt werden – und die der analytiker durchschauen müsse.

gerade am europatag!

stadtwanderer

kompetenzzentrum für menschenrechte in bern gegründet

seit 1993 verlangen die vereinten nationen von ihren mitgliedsstaaten unabhängige menschenrechtsinstitutionen. die schweiz, seit 2002 mitglied der uno, macht jetzt einen ersten schritt hierzu und gründet in bern ein kompetenzzentrum für menschenrechte. ein zweiter schritt wird folgen müssen.

walter_kalin_unhcrprof. walter kälin, leiter des zentrums für menschenrechte in bern

walter kälin ist weder in bern noch in new york unbekannt. der 60jährigen jurist aus hinterkappelen wirkt seit einem viertel jahrhundert an der berner universität als professor staats- und völkerrecht. nach 2003 vertrat er während fünf jahren die schweiz im menschenrechtsrat der vereinten nationen.
nun ist walter kälin zum ersten leiter des eben eröffneten kompetenzzentrum für menschenrechte in bern ernannt worden.

“Wir sind kein akademisches Institut, sondern ein praxisorientiertes kompetenzzentrum, in dem wir unser akademisches Wissen für ganz konkrete Fragen zur Verfügung stellen”, umriss kälin seine neue aufgabe gestern vor den medien. vorgesehen ist eine fünf jährige pilotphase, nach der entschieden wird, ob man den zweiten schritt macht.
bis dann will man einen informations- und beratungsbedarf decken, der aus der umsetzung internationaler verpflichtungen entsteht. vor augen hat man behörden, private organisationen und firmen der internationalen wirtschaft, denn sie werden regelmässig kritisiert, von der schweiz akzeptierte empfehlungen für menschenrechte nicht genügend umzusetzen.
beraten will man vor allem eidgenössische kommissionen, wie jene für rassismus-, migrations- oder gleichstellungsfragen. die haben zwar direkten zugang zum bundesrat und verwaltung, es fehlt ihnen aber an denkfabriken, die sie informieren und aufklären. koordinieren will man auch die entsprechenden aktivitäten der kantone und die diversen initiativen an den universitäten.

die erste leitung des kompetenzzentrums will auch selber aktiv werden. sie will selber klären, wo beispielsweise volksinitiativen mit der europäischen menschrechtskonvention in konflikt stehen. oder sie will präventiv aufzeigen, wie weit forderungen, die man in der schweiz an fremde erhebt, im ausland gegenüber fremden, zu den wir gehören können, erhoben werden. damit will man zu einem realistischeren bild der weltgesellschaft und weltpolitik beitragen.
zu den ersten beabsichtigten aktivitäten des zentrums zählt, den menschenhandel, insbesondere mit frauen, als moderne form der sklaverei anzugehen. dazu fehle es in der schweiz schon an aussagekräftigen statistiken, betonte kälin bei der eröffnung.

der erste schritt ist auf initiative von bundespräsidentin micheline calmy-rey gemacht worden. der zweite wird 2016 erfolgen. bis dann muss die schweiz entschieden, ob sie für die jetzige initiative ein gesetzesgrundlage schafft, das insbesondere auch das monitoring für menschenrechtsverletzungen regeln würde. verabschieden müsste das das parlament in einem referendumsfähigen entscheid.

der stadtwanderer begrüsst die entwicklung. gerade im internationalen recht wächst der bedarf an angemessener beratung, in ehtischer, kultureller und juristischer hinsicht. die schweizerische friedensstiftung und die denkfabrik foraus haben das wichtige pfade geebnet. nun kommt ein weiterer hinzu, der klar international ausgerichtet ist, aber gut zu den gouvernementalen funktionen einer hauptstadt passt.

stadtwanderer

die neu-alte mission

reformiert” – die zeitschrift der reformierten im deutschsprachigen raum, hat mich gebeten, eine analyse der rolle der kirchen in der politik zu schreiben. hier meine these zur unbestrittenen und zur umstrittenen mission.

Druck“Es gibt keine einheitliche Antwort auf die Frage, wie der Konflikt zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu lösen ist. Die Polarisierung zwischen vermittelnden Institutionen und populistischen Akteuren ist scharf; und die Bevölkerung neigt in wirtschaftlichen und kulturell angespannten Situationen dazu, letztere zu unterstützen. Positionen, Angehörige fremder Kulturen per se auszustossen, werden jedoch nur von Minderheiten getragen. Mehr Unterstützung haben Forderungen, die Dominanz der traditionellen Kultur einzufordern, derweil liberale Multikultur-Konzepte im grossstädtischen Umfeld attraktiv sind.
Für den Staat bleibt es ein Gebot, sich nicht in konfessionelle und religiöse Fragen einzumischen. Zwar erlangte er seit dem 19. Jahrhundert Identität, wenn er das tat, jedoch um den Preis, nationalistisches Gedankengut zu unterstützen. Dem modernen Dienstleistungsstaat, der Regelungen zu finden hat, die ausnahmslos für alle gelten, ist das nicht mehr angemessen.
Hier sehe ich die Aufgabe der Landeskirchen. Sich in gemeinschaftlichen Fragen zu engagieren, ist ihre unbestrittene Mission. Politisches Engagement wird immer umstritten sein, wo es die Aufgabe der Parteien tangiert. Gesellschaftliche Aktivität wird dann akzeptiert sein, wenn sie eingreift, um das friedliche Zusammenleben Vieler und Verschiedener in der Schweiz zu ermöglichen.”

den ganzen artikel findet man hier; er leitet ein streitgespräch zwischen gottfried locher und christoph mörgeli zum gleichen thema ein, das nach der letzten abstimmung zur innerkirchlichen kontroverse geworden ist.

vaux (vaud)

spaziergang in vaux, hoch über dem lac léman. nicht ohne grund. denn in keiner gemeinde ist man heute im schnitt so reich wie im ehemaligen bauerndorf in der waadt.

la morges – das ist der fluss, oder besser der bach, der sich mit vielen richtungswechseln die hänge des arc lémanique runterschlängelt, um schiesslich schnurgerade im genfersee zu enden. comte louis de savoye baute an der mündung 1286 eines der charakteristischen schlösser aus seinem hause – heute von der waadtländischen kleinstadt morges umgeben, in der die touristInnen gerne flanieren gehen.

auf der anhöhe mochte es damals vor allem wald gegeben haben. valdus hiess er im vulgärlatein des mittelalters, und daraus machte man vaud. bis heute ist das auf französisch der name des kantons waadt, und mit leicht modifizierter schriftweise auch der gemeinde vaux, die, um ja nicht verwechselt zu werden, den zusatz sur-morges angenommen hat.

geschichte hat man in vaux-sur-morges kaum geschrieben. die analen erzählen nur davon, wo man zugehörig war. bei den benachbarten herren von monnaz, in der bernischen vogtei morges, im kanton léman während der helvetischen republik und im kanton waadt seit dessen gründung 1803.

doch dann kam der knaller: 2006 verzeichnete die gemeinde mit weniger als 200 einwohnerInnen das höchste versteuerte durchschnittseinkommen aller schweizer kommunen: knapp 350’000 schweizerfranken im schnitt! gerne hätte man den grund in vaux für sich behalten, bis “le temps” dem geist der zeit folgend, zu recherchieren begann. jüngst hat die nzz nachgedoppelt – nicht nur zur freude der zurückgezogen lebenden einwohnerschaft in vaux, wie der journalist erfuhr.

fünf bauernbetriebe hat es heute noch in vaux – und eine kleine siedlung mit einfamilienhäuser im pierrafuz, ausserhalb des weilers. gelbe rapsfelder prägen das frühlingshafte bild auf dem plateau. einige reben schmücken die abhänge gegen den see, und im tobel der morgen mampfen zahlreiche kühe gemütlich vor sich hin. doch damit nicht genug. die einfamilienhäuser in pierrafuz sind zwar stattlich gebaut, von luxuriösem umschwung kann aber eigentlich nirgends die rede sein. der reichtum muss anders als über subventionen und arbeitsfleiss begründet sein.

nouveau-vaux wäre heute nicht nouveau-vaux, hätte sich da nicht auch andré hoffmann in der gemeinde niedergelassen. sprecher der roche-erben ist er, vizepräsident des firmenverwaltungsrates zudem. medizin in genf und wirtschaft in st. gallen hat er studiert. in london hat er karriere gemacht, bevor er bei nestlé in vevey einstieg. jetzt investiert der milliardär am liebsten in seine eigenen unternehmungen – und trägt mit seinen gewinnen und vermögen 90 prozent der (tiefst)steuern von vaux.

jüngst wurde spekuliert, hoffmann habe gar moritz sutter die kaufsumme für den mysteriösen baz-deal vorgeschossen. die osterpresse von gestern erschien angereichert mit recherchen hierzu. das dementi aus vaux kaum schnell und bestimmt. das würde nicht in die strategie passen, liess der sprecher des sprechers verlauten.

irgendwie glaubt man das auch, wenn man auf der alten bank am dorfplatz von vaux sitzt. wer die unruhe der medien sucht, braucht einen zentraleren standort, um die ereignisse und trends just in time mit zu erleben. denn wer hoch über dem genfersee um sich schaut, merkt davon nicht viel. das kapital der gegend ist die ruhe, die einen dauerhaftigkeit und weitsicht lehrt.

genau das wissen die bauersleute von vaux zu schätzen. für einige neuzuzüger haben sie sich geöffnet, für ihre grandiosen neubaupläne brauchen sie aber kein musikgehör zu haben. der gemeinderat gehört den neuen, der boden den einheimischen. nicht die menge der steuerzahler macht den reichtum der gemeinde aus. entscheidend ist der mix. und da reicht ein milliardär, der in die roche und in den wwf investiert – gerade weil da kein neues savoyerschloss günstlinge und auswertige anzieht wie unten in der stadt.

stadtwanderer

tschäppäts tschäppu und metzlers frisur

heimfahrt im poschi. 12 personen in meinem blickfeld. 7 davon mit dem blick am abend. ich muss unweigerlich mitlesen. informiert werde ich über tschäppäts tschäppu und über metzlers frisur. was das mit politik zu tun hat, frage ich mich, während ich die treppen nach hause hochsteige.

gut, die lentikularkarte von alexander tschäppät erinnert auch ein wenig an spasswahlkämpfe. denn tschäppäts tschäppu besteht aus der renovierten kuppel des bundeshauses. je nach winkel der karte, wackelt der hut. mal sitzt er gerade, mal schepps auf dem haupt des berner stadtpräsidenten. ganz ernst kann man das nicht nehmen.

nehmen können wird man sie im herbst als giveaway im strassenwahlkampf des stadtpräsidenten, denn im oktober möchte er als volksvertreter auf bundesebene gewählt werden. von facebook hält nichts. interaktion findet nicht im nirwana des www statt, sondern in der direkte begegnung in berns gassen, lässt er verlauten.

tschäppäts wahlkämpfe haben etwas eigenes bewahrt. auf sein lebenszentrum bern ausgerichtet, häufig spontan konzipiert und immer mit humor durchsetzt, fehlt es ihnen nicht an themen. die stadtentwicklung gehört dazu, und es ist dringend nötig, hier weiteres zu deblockieren. mit dem westside hat man akzente gesetzt, offene läden in der altstadt zu ungewohnten zeiten harren noch der behördlich nötigen dinge. geklappt hat es letzten november dafür mit dem ausstieg aus der kernenerige. im letzten moment hat tschäppäts bern die richtige perspektive angepeilt.

ich weiss, bisweilen ist tschäppät leutselig, dann wieder eckt er an. vor allem wenn es um christoph blocher geht, kann der sp-stapi die facon verlieren. das spricht sich dann schnell herum, und findet so eingang in die klatschpresse, sodass der magistrat sich gebührlich entschuldigen muss. weil er gerne über fussball redet, verübeln ihm viele solche ausfälle nicht. denn alle erinnern sich an die holländer in bern, und tschäppäts eingreifen, um dem unerwarteten anstrum herr zu werden. seine wendigkeit in fast auswegslosen situationen hat er mit seiner schlagfertigkeit in satiresendungen wie die von giacobbo bewiesen mehrfach bewiesen – und national applaus erhalten. ganz anders, als wenn er in bern zu tief ins glas guckt und vielsagend den mädchen nachschaut.

die amerikanische politologin pippa norris hätte ihre helle freude an tschäppät. vor 14 jahren veröffentlichte sie einen seither viel zitierten wissenschaftlichen aufsatz über die entwicklung von wahlkämpfen. vieles von dem, was sie damals über “pre-modern campaigning”, vormoderne kampagnen also, schrieb, kann man beim berner stadtpräsident noch heute miterleben. vom politischen leader selber getragen, seien solche wählkämpfe lokal verwurzelt, um freiwillige aktivisten vor ort zu gewinnen, hielt sie für alle zeiten fest. typisch sei, dass sie stark der eigenen partei angepasst seien, was schliesslich zu machen sei, letztlich aber spontan entschieden werde. poch würde man auf anlässe mit viel volk, denn das spreche sich mit der mund-zu-mund-propaganda am besten herum, was wirke und keine wahlkampfkosten verursache.

ganz anders beschreibt die harvard professorin den postmodernen wahlkampf. er sei teuer, auf website und tv-sendungen ausgerichtet, mit denen man zielgruppenspezifisch kommunizieren könnten. getrieben würden sie nicht mehr von den politikerInnen selber, sondern von politikberaterInnen im hintergrund, die einen permanenten wahlkampf für die mandantInnen führen würden. zu diesen consultants zählt seit neuestem auch ruth metzler, die abgewählte justizministerin der schweiz, die 2003 den zweiten bundesratssitz der cvp nicht mehr halten und ihn an die svp abgeben musste. danach hatte sie sich von der politik verabschiedet, während sie sich gestern mit einem politischen statement, wie der “blick am abend” schrieb, wieder vorwagte.

typisch für den postmodernen journalismus ist, dass man ausser dem titel nichts inhaltliches erfährt. so weiss ich zwar, dass es um “konkordanz in der umbruchphase” ging. wohin das führen werde, ist zwar die einzig relevante frage, doch das blatt berichtet darüber mit keinem wort. dafür las ich viel über die neue frisur der appenzellerin, das elegante kleid, das die wahlbaslerin beim vortrag trug, und den ubs-banker, mit dem sich das unschuldslamm von einst neuerdings in der öffentlichkeit zeigt. gereift sei sie, meint das boulevardblatt im pr-artikel von irene harnischberg, der für für mich wie kaum ein anderer die entleerung der politik steht.

echt, da sind mir lentikularkarten lieber.

stadtwanderer

st. galler frauen

diese woche bin ich in st. gallen. zwei frauen beschäftigen mich.

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meine lehrveranstaltung an der hsg halte ich diesmal als blockseminar ab. es ist den ständeratswahlen gewidmet. prominenter gast am mittwoch ist regierungsrätin karin keller-sutter, eine der vier kandidatInnen für die wahl im kanton st. gallen. mehr dazu auf meinem berufsblog.

natürlich interessiert mich in st. gallen eine andere frau ebenso. wiborada wird sie geheissen. ob das ein wirklicher name ist, bin ich mir nicht ganz sicher. denn unzweifelbar steckt “weiberrat” in diesem althochdeutschen wort. das kann eine person gewesen sein, aber auch eine eingebung.

gemeint ist die legendäre figur, die beim einfall der ungarische reiter 926 das kloster auf unkonventionelle art verteidigte. es soll ihr gelungen sein, wertvolle schriften vor der verbrennung zu schützen. deshalb ist sie bis heute die schutzpatronin der bibliotheken und bücherfreunde. das macht sie mir sympathisch.

wiborada soll die letzten 10 jahre als inklusin gelebt haben. gemeint ist damit, dass sie in einem enge gemäuer, das sie nicht verlassen konnte, hauste. in ihrer zeit war das keine seltenheit, vor allem bei frauen. denn es schützte vor überfällen, war es doch kaum einzunehmen. 1047 wurde sie, als erste frau überhaupt, von der katholischen kirche heilig gesprochen. bis heute ist der 2. mai im bistum st. gallen ein lokaler feiertag, an dem man ihr gedenkt.

und so werde ich, wie in früheren zeiten viele vor mir, am donnerstag zwischen rosenberg und kirche st. mangen pilgern, dem ort, wo die strenge asketin von damals gelebt haben soll.

jetzt muss ich aber schlafen gehen, denn morgen werde ich dem rat der regierungsrätin horchen, die in die kleine kammer nach bern will, um den überfall der svp-auf den ständerat wenigstens in st. gallen zu verhindern …

mehr zu alledem im verlaufe der woche.

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soyez curieux!

“soyez curieux!”, rief joseph deiss den schülerInnen der düdinger oberstufe auf dem gemeinsamen podium zu. damit meinte er nicht, sie sollten merkwürdig werden, wie die schweiz vor ihrer uno-mitgliedschaft war. vielmehr empfahl er der jugend neugierig sein und einen beitrag zur lösung der weltprobleme leisten.

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geladen hatte nicolas bürgisser, der gewandte oberamtmann des sensebezirkes. ins düdinger “podium” gekommen waren vielleicht 250 personen, um den präsidenten der uno-vollversammlung, den freiburger joseph deiss, zu sehen und zu hören. ein erfolg fand ich; der amitionierte bürgisser hätte gerne das doppelte für den gast aus new york gehabt.
am morgen noch war der höchste weltbürger in london gewesen. nach dem schlaf wird er nach berlin fliegen, um mit westerwelle zu konferieren, bevor es zurück an den hauptsitz der vereinten nationen geht. préfect bürgisser fasste den aufenthalt des früheren cvp-politikers in düdingen so zusammen, dass die sensler metropole international bestens positioniert sei. den lacher des heimischen publikums hatte er auf seiner seite.

161 länder hat der mundialist aus der schweiz bisher bereist. das schönste land sei immer das nächste, bewies er seine neugierde. vor ablauf seines amtsjahres werde er es nicht schaffen, alle 192 mitgliedstaate der völkergemeinschaft besucht zu haben, bedauerte deiss. was nicht heisse, dass er danach untätig sein werde.
denn der 65jährige ist munterer denn je. jeden morgen geht er um 5 joggen, um seine gedanken zu ordnen. damit gehört er zu den beweglichen unter den diplomaten. seine bodygards am uno-hauptsitz seien fitter als unter seinen vorgängern, witzelte der professor aus freiburg, dessen politische karriere als cvp-gemeindepräsident in barberêche begann.
als uno-präsident auf zeit müsse er neutral sein, dozierte der frührer uni-professor. die mitglieder sind es, welche die uno treiben, nicht der präsident, erklärt er dem publikum. der leitet die versammlungen, wirkt als netzwerker, und er kommuniziert die entscheidungen. das wirkte noch ein wenig, wie eine 1.-august-rede eines schweizer politiker.
doch dann kommt der weltbürger im freiburger mächtig in fahrt. seine leidenschaft für die globale sache spürte man an diesem abend vor allem, als er über libyen sprach. wenn sich die uno in diesem land engagiere, sei das nicht einfach einmischung in innere angelegenheiten. es habe auch mit der verantwortung zu tun, welche die uno habe, wenn der schutz der bevölkerungen nicht mehr gewährleistet sei. der ausschluss aus dem menschenrechtsrat gehöre ebenfalls dazu, warb der uno-präsident vor seinem heimpublikum. global governance, das motto seines präsidialjahres, nennt deiss das und meint, die weltgemeinschaft müsse lernen, dass sich souveräne staaten für übergeordnete ziele engagieren sollten.

vorgestellt wurde alt-bundesrat deiss durch seinen freund und kollegen in der schweizer regierung, samuel schmid. der würdigte diess unterhaltsam. die “drei k” seien typisch für den freiburger katholiken, frotzelte der reformierte aus dem benachbarten seeland: korrekt, konstruktiv und kollegial. damit war beim ernsthaften teil seiner laudatio, den thesen zur konkordanz, die joseph deiss am 20. oktober 2004 im bundesrat zu debatte gestellt habe: diese brauche institutionelle, organisatorische und personelle voraussetzungen, habe der magistrat damals gefordert. ohne namen zu nennen, wussten alle im saal, wer warum gemeint war.
den kämpfer deiss würdigte erwin jutzet, der sensler im freiburger regierungsrat. für die einhaltung der milleniumsziele in der uno mache sich ehemalige aussen- und volkswirtschaftsminister der schweiz stark. bis 2015 will man die armut halbieren, die lebensqualität nachhaltig sicher und die biodiversität fördern. gekämpft haben beide im parlamentarierfussball mit- und im murtenlauf gegeneinander.

als bundesrat sah sich joseph deiss bisweilen dem vorwurf ausgesetzt, effizient regiert zu haben, ohne farbe zu bekennen. an diesem abend habe ich einen äusserst kompetenten, überzeugten und einfühlsamen weltbürger kennen gelernt, der viel ausstrahlung verbreitete. man hatte den eindruck, er habe nicht nur von der überschaubaren enge der schweizer verhältnisse in die unübersichtliche weite der globalen konstellationen gewechselt, nein, er sei dabei neugieriger denn je geworden.

soyez curieux!

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leben in der risikogesellschaft

ich finde zu allem worte, dachte ich mir. jetzt merke ich, wie sie stocken, wenn ich an die ereignisse in japan denke. mein versuch, mich selbst aufzurichten, vielleicht auch andere anzuspornen, gleiches zu tun.

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vor 25 jahren erschienen, durch den reaktorunfall in tschernobyl berühmt geworden, ist der band über die risikogesellschaft von ulrich beck dieser tage wieder aktueller denn je.

zuerst war die meldung vom erdbeben. wenn sie aus japan kommt, macht das nur beschränkt eindruck. dann trafen die bilder der verwüstung durch den tsunami ein. sie schockierten. schliesslich müssen wir bald täglich zusehen, wie im akw fukushima eine explosion der andern folgt, die newslage mehr verwirrt als klärt, die welt sich aber trotzdem einem ihrer tiefpunkte nähert. was tun?

ulrich beck, der wohl bedeutenste lebende soziologe deutschlands, veröffentlichte vor 25 jahren sein buch “risikogesellschaft”. es war damals schon die treffendste analyse der verkettung von gesellschaft, technik und natur. seither hat es kritiken zuhauf gegeben, wissenschaftliche, politische und mediale. und doch denkt man diese woche unweigerlich wieder an die diagnose becks vor einem viertel jahrhundert.

in einem bemerkenswerten interview mit dem heutigen “bund” nimmt der soziologe stellung zum geschehen in japan. seine überlegung beginnt beim begriff der “naturkatastrophe”. Er suggeriere, das etwas schlimmes passiere, dass der mensch nicht zu verantworten habe. das sei falsch, weil die natur dramatische veränderungen kenne, die im bezug auf die von menschen entwickelte zivilisation zur katastrophe würden. menschliches können, technologische entwicklung und ereignisse der natur seien deshalb augenscheinlich miteinander verwoben.

grosse katastrophen, wie die jetzige in japan, aber auch wie die globale finanzkrise, tendierten jedoch dazu, nicht nur metaphorisch keine verantwortlichen zu haben. versuche, ursachen und wirkungen in solchen situationen miteinander in verbindung zu bringen, würden meist ins leere laufen. das habe nicht zuletzt damit zu tun, dass es nicht gelinge, rechtsnormen zu formulieren, welche folgen auf gründe zurückführen würden, und damit die akteure für ihr handeln haftbar zu machen.

besser funktioniere da der sündenbock-mechanismus. an tschernobyl sei der kommunistischen schlendrian schuld gewesen, lautete die gängige interpretation 1986. die sicherheitsstandards seien in der kapitalistischen welt anders, denn keine firma könne solches wollen, schob man nach. jetzt, wo auch das widerlegt sei, rechnet beck damit, dass man die japanische tragödie zu einem sonderfall, bedingt durch die eigenheiten des pazifischen raums machen werden. doch sei das nur augenwischerei. unübersehbar sei, dass die sicherheitsphilosophie der kerntechnologie insgesamt zur disposition stehe.

die generelle problematik formuliert der soziologe so: risiken sind sinnlich nicht wahrnehmbar. was risikant ist und was nicht, entscheidet der gesellschaftlichen prozess der verarbeitung von risiken. dabei dprften wir nicht einfach auf die individuelle oder kollektive erfahrung abstellen, weil wir inzwischen wissen müssen, das katastrophen drohen, die wir noch nicht erfahren haben und die wir nicht erfahren dürfen. auf diese problematik habe noch niemand eine angemessene antwort gefunden, ihr auszuweichen sei aber ein trugschluss.

ulrich beck schlägt vor, die entwicklung der (un)sicherheitskultur nicht technikern und juristen überlassen. die kritik an ihnen dürfe jedoch nicht einfach ins leere zielen; sie müsse besseren techniken und märkten chancen eröffnen, die helfen, riskante techniken durch weniger riskante zu ersetzen. der deutsche anlytiker unserer gegenwart glaubt, dass durch katastrophen wie die aktuelle der trend hin zu debatten über eine alternative moderne nicht mehr aufzuhalten sei.

meine gespräche heute waren profaner, aber nicht anders. wir müssen uns der risiken, mit denen wir leben, gemeinsam bewusster werden, um vernünftig zu entscheiden, was wir haben, was wir wollen, und was wir ausschliessen müssen. das beginnt bei jedem einzelnen, wird aber unvermeidbar zu einen gesellschaftlichen prozess werden, der, wie es ulrich beck vor einem viertel jahrhundert schon sagte, die grammatik des politisch machbaren neu bestimmen wird.

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steht die schweiz unter dem diktat der agglomerationen?

der schock über die volksabstimmung zur waffen-inititive sitzt tief. es ist nicht einmal das ergebnis, das dies bewirkte, zeichnete sich die ablehnung gegen das ende des abstimmungskampfes immer mehr ab. vielmehr war es der stadt/land-gegensatz der einfuhr. denn nach seit dem letzten november gehen eigentlich alle volksentscheidungen zugunsten des mobilisierten landes aus.

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die bevölkerung, die in den ruralen gebieten lebt, geht seit mitte der 90er jahre zurück. es wachsend die urbanen gebiete. agglomerationen im engeren sinne sind jene in der nachkriegszeit rasch gewachsenden gebiete zwischen dem land und den kernstädten.

am kommenden dienstag gibt es auf drs2 einen themenschwerpunkt. berichtet wird über den stadt/land-gegensatz in der schweiz. porträts von menschen städterinnen und landschäftlern werden gesendet. experten aus architektur, gesellschaft und politik kommen zu wort – und der stadtwanderer!

ein grösseres interview mit meiner analyse zu abstimmungsergebnissen, neuen polaritäten, entscheidenden mehrheiten, tieferliegenden motiven und generellen antagonismen kommt im “kontext”. doch es geht nicht nur um eine übersicht zu volksabstimmungen, es geht auch um grundsätzliches: bildungsunterschiede, verkehrsinvestitionen, lebensweisen zwischen stadt und land.

der titel der sendung lautet vor der aufnahme: “steht die schweiz unter einem agglo-diktat?” das war sicher als provokation gedacht, und auch mit einem fragezeichen versehen. selber bin ich skeptisch mit der damit verbundenen aussage: zwar stimmt es, dass die agglomerationen in der schweiz 50 prozent der einwohnerInnen, auch der bürgerInnen ausmachen. doch äussern die agglomerationen keinen einheitlichen willen, womit das diktat entfällt.

das werde ich im interview zu begründen versuchen.

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