Nachruf auf Judith Stamm

Die längste Diskussion gab es zum Buchtitel. Die Autorinnen und Autoren liebäugelten mit der Forderung “Machen Sie Platz, Monsieur.” Dem stand das wohlwollende “Nehmen Sie Platz, Madame” gegenüber. Die Präsidentin der Eidg. Kommission für Frauenfragen Judith Stamm entschied sich nach viel hin und her für letzteres.

Der Bruch mit dem Ritual
Dabei war Frau Stamm für ersteres bekannt geworden. 1986, als Kurt Furgler und Alphons Egli aus dem Bundesrat zurückgetreten waren, kandidierte die CVP-Politikerin, die erst 1983 zur Luzerner Nationalrätin gewählt worden war, keck für einen Sitz in der Landesregierung. Ohne offiziell nominiert worden zu sein. Und in beiden Wahlgängen. Um dem Prinzip der nötigen Veränderung Ausdruck zu geben!
Der Bruch mit dem Ritual sorgte mächtig für Aufsehen und löste viele Diskussionen aus! Doch sollte es anders kommen, denn die Pionierin wurde zweimal nicht gewählt. Platz in der Landesregierung nahmen Flavio Cotti und Arnold Koller Platz ein.
Zuvor hatte die Frauenkämpferin eine Motion zur Durchsetzung des Gleichstellungsartikels eingereicht, der seit 1981 fast folgenlos in der Bundesverfassung stand. Resultat des Vorstosses war 1988 die Schaffung des «Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Mann und Frau», das bis heute von eminenter Bedeutung ist. Ein Jahr später wählte der Bundesrat die promovierte Juristin zur Präsidentin der «Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen».

Grundlagenbericht zur politischen Repräsentation der Frau in der Schweizer Politik
Da zauderte Judith Stamm nicht lange. Mit Blick auf die Wahlen 1991 sollte erstmals ein umfassender Bericht zur mangelhaften politischen Repräsentation der Frauen in der Schweiz erscheinen, war ihre Idee. Dafür versammelte das Kommissionssekretariat eine Reihe von Forschenden, die das Thema interdisziplinär ausleuchten sollten.
Ich war junger Assistent am damaligen Forschungszentrum für Schweizer Politik der Universität Bern und bekam die Aufgabe, das Wahlverhalten der Frauen von 1971 bis 1987 systematisch zu analysieren. In aller Leute Mund war noch, dass Frauen damals konservativer wählen würden als Männer. Doch stand die Hypothese zur Diskussion.
Zu recht! Denn die Ergebnisse deuteten an, dass die Nichtwahl von Lilian Uchtenhagen bei den Bundesratswahlen 1983 eine Zäsur waren. Politisiert wurden damals insbesondere Frauen. Und sie wurden oppositioneller, auch leicht linker. Das konservative Bild brauch auseinander.

Eine Persönlichkeit der jüngsten Schweizer Geschichte
Der Höhepunkt der Karriere von Judith Stamm war 1996, als sie Nationalratspräsidentin und damit höchste Schweizerin wurde. Begonnen hatte der Aufstieg aber Mitte der 1980er Jahre, als es weit über die Repräsentation der Frauen in der Politik hinaus um die Gleichstellung ging, die im Recht ihren Anfang nehmen musste. Dafür stand unübersehbar die Luzerner Politikerin, die an die Möglichkeit der Veränderung institutioneller Politik glaubte.
Ich habe Frau Stamm als dezidierte, gleichzeitig respektvolle Pionierin der Frauenfrage in der helvetischen Politik kennen und schätzen gelernt, von der ich heute noch uneingeschränkt sage, sie war eine Persönlichkeit der jüngsten Schweizer Geschichte.
Gestern ist Judith Stamm nach einem ereignisreichen Leben 88jährig verstorben.
R.I.P.

Bericht von 1991: https://www.ekf.admin.ch/dam/ekf/de/dokumente/nehmen_sie_platzmadame.pdf.download.pdf/nehmen_sie_platzmadame.pdf
Biografie:
Zeindler, Nathalie (2008): Beherzt und unerschrocken. Wie Judith Stamm den Frauen den Weg ebnete. Zürich: Xanthippe Verlag

Biografie:

Raymonde Schweizer, die erste Kantonsparlamentarierin der Schweiz

Heute war ich auf Recherche in Neuenburg. Hintergrund war der Drehtag mit Swissinfo für den fünften „Brennpunkt Demokratie Schweiz“ am kommenden Dienstag. Thema wird die Behebung des grössten Demokratie-Defizits sein, nämlich der Wechsel vom Wahlrecht für Männer zu dem für Erwachsene.


Raymonde Schweizer, die erste Kantonsparlamentarierin der Schweiz 1960, beim Eintritt in den Neuenburger Grossrat

Bekanntlich gelang das landesweit erst 1971. 1959 scheiterte eine erste Abstimmung. 66 Prozent der stimmenden Männer waren dagegen, 19 Kantone auch. Ja sagten Genf, Waadt und Neuenburg. Alle drei führten noch im gleichen Jahr das Stimm- und Wahlrecht für Frauen in ihrem Kanton ein.
1960 gelang der ersten Frau in der Geschichte der Schweiz der Sprung in ein Kantonsparlament. Konkret war es die Lehrerin und spätere Direktorin an der Frauenarbeitsschule in La Chaux-de-Fonds, Raymonde Schweizer. Die überzeugte Gewerkschafterin und Feministin reüssierte auf der SP-Liste auf Anhieb und politisierte neun Jahre lang im Neuenburger Grossrat.
Natürlich wollte ich mehr Wissen über die Trendsetterin in einer Zeit, als die meisten Frauen in der Schweiz nicht einmal die einfachen politischen Rechte wie Wählen und Stimmen ausüben durften! Ich hatte vor Jahren auch ein Bild von ihr gesehen und auch archiviert. Aber ich fand es nicht mehr. Denn der Name war mir effektiv entfallen, und ich wusste nicht wo ich suchen sollte. Freundlicherweise half man mir heute im Historischen Museum der Stadt Neuenburg, fündig zu werden.
Ausgerechnet „Schweizer“, dachte ich mir heute Nachmittag. Denn ich erinnerte mich, dass Emilie Kempin-Spyri, die erste doktorierte Juristin in Europa, 1887 mit einer Anklage ans Schweizer Bundesgericht versuchte, die politischen Rechte von Männern auf Frauen auszudehnen. Ihr Argument war, „Schweizer“ sei ein generisches Maskulinum und stehe für beide Geschlechter. Das Bundesgericht beschied ihr, die Auffassung sei „ebenso
neu wie kühn“, und es wies die Klage rundweg ab.
Raymonde Schweizer hinderte das nicht, ein drei Viertel Jahrhundert Pionierin in Sachen Frauenvertretung in einem Kantonsparlament der Schweiz zu werden. Bravo!
Es war übrigens auch nicht das letzte Mal, dass Neuenburg voraus ging. 1971 zählte Tilo Frey zu den ersten 11 Frauen, die in den Nationalrat einzogen; und die Handelslehrerin, in Kamerun geboren, war auch die erste POC Parlamentarierin der Schweiz. Schließlich wurden 2021 58 Frauen in den 100-köpfige Neuenburger Grossrat gewählt – die allererste Frauenmehrheit in einem Kantonsparlament unseres Landes!