2103 überholt der “osten” den “westen”

eigentlich ist es archäologe. in den letzten 10 jahre leitete er grosse unternehmen, die vergangenheit durch ausgrabungen sichtbar machten. das hat den vorteil, dass man sich nicht durch einzelne ereignisse oder personen blenden lässt, dafür muster der entwicklungen erkennt und so ein auge für langfristige veränderungen entwickelt.

wer_regiert_die_weltetwas reisserischer buchtitel: wer steht an der spitze der zivilisation, wäre eindeutig angemessener gewesen

mit genau diesem blick hat ian morris, britischer geschichtsprofessor an der top-universität im kalifornischen stanford, ein buch über die geschichte der menschheit seit der letzten eiszeit geschrieben. analysiert werden darin 16’000 jahre. nachgespürt wird informationen zu vier zentralen determinanten der gesellschaftlichen entwicklungen: der energieverbrauch, der verstädterung, den informationstechnologien und der fähigkeit zur kriegsführung. daraus ergibt sich für den historiker ein zeiträumlicher indexwert, der zu bestimmung des standes von kulturen dient.

unterschieden werden zwei geografische regionen, die auf dauer miteinander im wettstreit seien: der westen und der osten. das sind jedoch nur bezeichnungen für gesellschaftliche zentren, die über die zeit hinweg wandern. der westen begann in mesopotamien, dehnte sich auf ägypten und griechenland aus, und er erlebte mit dem römischen reich seinen ersten höhepunkt. die führung in der sozialen entwicklung ging danach aber an den osten, bis sich der westen durch die expansion über den atlantik neu aufstellte und ab mitte des 18. jahrhundert erneut zur weltspitze avancierte. zuerst lag das am british empire, dann an den vereinigten staaten von amerika.

morris sprach dieser tage in zürich, und der nzz von heute gewährte er ein ganzseitiges interview. das tönt das so: “Westeuropa war lange ein langweiliger Platz an der Peripherie. Doch vor 500 Jahren kam es zu einer Explosion des Wissens. Die Menschen lernten, grössere Schiffe zu bauen, die Ozeane zu überqueren, und kolonisierten Amerika. Damit veränderten sie den Ort, an dem sie leben. Es war plötzlich ein Vorteil, in Westeuropa zu sein. Die ehemalige Periperie wurde zum Zentrum”, liesst man da beispielsweise.

massgeblich für morris sind innovationen. entdecker interessieren ihn indessen nicht, denn kaum einer der grossen erfinder war der einzige und erste, der das menschliche wissen vorantrieb, das man ihm zuschreibt, kontert er die erzählungen über die grossen erfinder. vielmehr geht es dem historiker darum, wo sich auf begrenztem raum eine kritische masse der erneuerung ergibt. dabei verändert sich gegenwärtig selbst der begriff des ortes, analysiert er, denn heute schrumpft nicht nur der atlantik, es schrumpft der ganze globus.

historiker, die das neueste buch von morris: “Wer regiert die Welt?” lesen, mögen zuerst irritiert sein. denn er geht nicht geisteswissenschaftlich vor, wie man das kennt. vielmehr orientiert er sich an geografie, biologie und soziologie. die quantitative analyse der evolution beschäftigt ihn zuerst, dann werden grosse trends modelliert, evaluiert und festgelegt, um allgemeine schlüsse aufzuzeigen. erst dann beginnt die narration. doch auch sie ergibt sich nicht aus sicher selbst heraus, vielmehr steht die finalität der bisherigen entwicklungen schon imvoraus fest.

wir müssten aus der geschichte lernen, um die langfristigen entwicklungschancen einer gesellschaft richtig einstufen zu können, fordert der historiker. “In den letzten 15000 Jahren nahm der Index um 900 Punkte zu, für die nächsten 100 Jahre erwarte ich eine Zunahme von 4000 Punkten.”

ob das ein goldenes zeitalter ist, lässt er offen. denn ein anhänger des linearen fortschrittsdenkens, wie es im 19. jahrhundert verbreitung fand und die geschichtsphilosophie so nachhaltig prägte, ist ian morris nicht. mit dem kommenden entwicklungsschritt wächst seiner auffassung nach auch die wahrscheinlichkeit eines sozialen kollaps, was fast schon nach posthistorie tönt. auch wenn ihn das nicht gross kümmert, und er lieber schreibt: “Das Imperium Romanum brachte einen grossen Entwicklungsschub, schuf aber auch die Voraussetzung für seinen Untergang. Europa benötigte dann fast ein Jahrtausend, um diesen Rückschlag zu überwinden.” der nächste kollaps werde aber gravierender sei, den in der globalen welt von heute seien alle gesellschaften miteinander verhängt.

auch ohne das geht ian morris, wie zahlreich futurologen davon aus, dass das östliche zentrum heute besser aufgestellt ist als das westliche, fukushima zum trotz. mit einem raschen wechsel in der führung der gesellschaftlichen entwicklung rechnet der 50jährige wissenschafter jedoch nicht. “2103” nennt er symbolhaft als schaltjahr, bei dem “new york” von “tokio” überholt wird. den usa gibt er noch 30 jahre vormachtstellung, während denen die fragmentierung der herrschaft jedoch zunehmen und die zahl der konflikte wieder wachsen werde.

nicht schlecht, was da der archäologe aus seinen computeranalysen über vergangenheit, gegenwart und zukunft herausgräbt. grosse linien erkennt man auf jeden fall, materialreich sind seine schriften auch, und anregend bleiben seine spekulationen, was das alles für ferne zeiten heisst. die noch soweit vor uns liegen, dass wohl keiner meiner leserInnen sie je wird überprüfen können.

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berner cafe postgasse – die hinterste beiz in aussenbezirk von marseille

sie hat “ja” gesagt, gab die wirtin ihrer freude ausdruck. die gäste in der strasse fragten sich zu was?
es hat geklappt, bald schon wir sie königin sein. da war es uns an den mittagstischen klar, dass es um kate, äxgüsi, herzogin catherine ging.

lange lenkte mich das thema nicht ab. was die gegenwart betrifft bin ich republikaner – und demokrat. wenn es um monarchien geht, faszinieren mich die, bevor die revolutionären gedanken von jean-jacques rousseau, alexis de tocqueville oder benjamin barber staats- und regierungsverständnis prägten, indem es nicht nur feiernde untertanen, auch anspruchsvolle staatsbürgerInnen gibt.

uns so wandte ich mich von den grossen geschehennisse der zeit ab und dem wunder des kleinen ortes wieder zu. denn aufgetischt wurde ein prächtiger postgass-salat. frische blätter, einige pilze und etwas gebratenes poulet lagen schön zubereitet vor mir, sodass ich nur zustechen musste. dazu gab es ein herrlich gekühltes bier. genauso wie ich es an einem solche warmen frühlingstag liebe.

im winter versteckt man sich gerne im engen berner café postgass. das ist es schön warm, vom grossen offen, von der küche und von den gästen zwischendrin. im sommer bleibt man lieber draussen. ein paar kunstbäume markieren den bezirk, wo man auf sonst offener strasse essen und trinken darf. die wirken ein wenig wie eine alte stadtmauer, mitten in der stadt.

die tische im cafe postgasse sind aus einfachem holz, die stühle nicht minder so. dafür ist die bedienung stets fix und herzlich. und die kleine karte hat immer was grosses aus der hausmansskost. als koch amtet stephan hofmann, den service macht regula hofmann. seit ich das cafe besuche, sind sie das wirtepaar. wie lange das genau her ist, weiss ich nicht wirklich, 10 jahre, vielleicht auch 20.

die spezialität der beiden sind fischsud mit muscheln. im kalten tagen seien sie aus der normandie, sagt man, im heissen aus dem mittelmeer. die bouillabaisse ist in bern und einiges darum herum bekannt – und beinahe so berühmt wie in marseille.

das sage ich meinen gästen bei stadtwanderungen denn auch immer: kulturell ist bern eine brückenstadt, ein ort der vermittlung zwischen den nachfolgern der alemannen rechts der aare und den burgundern links der aare. die nydegg ist seit menschengedenken der hauptsächliche übergang – nur wenige schritte vom postgässli entfernt. und da man in dieser altstadtgasse auf ehemals burgundischem boden ist, ist das cafe postgasse sowas wie die hinterste beiz von marseille. womit wir doch wieder bei erinnerungen an grosse zeiten wären.

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vaux (vaud)

spaziergang in vaux, hoch über dem lac léman. nicht ohne grund. denn in keiner gemeinde ist man heute im schnitt so reich wie im ehemaligen bauerndorf in der waadt.

la morges – das ist der fluss, oder besser der bach, der sich mit vielen richtungswechseln die hänge des arc lémanique runterschlängelt, um schiesslich schnurgerade im genfersee zu enden. comte louis de savoye baute an der mündung 1286 eines der charakteristischen schlösser aus seinem hause – heute von der waadtländischen kleinstadt morges umgeben, in der die touristInnen gerne flanieren gehen.

auf der anhöhe mochte es damals vor allem wald gegeben haben. valdus hiess er im vulgärlatein des mittelalters, und daraus machte man vaud. bis heute ist das auf französisch der name des kantons waadt, und mit leicht modifizierter schriftweise auch der gemeinde vaux, die, um ja nicht verwechselt zu werden, den zusatz sur-morges angenommen hat.

geschichte hat man in vaux-sur-morges kaum geschrieben. die analen erzählen nur davon, wo man zugehörig war. bei den benachbarten herren von monnaz, in der bernischen vogtei morges, im kanton léman während der helvetischen republik und im kanton waadt seit dessen gründung 1803.

doch dann kam der knaller: 2006 verzeichnete die gemeinde mit weniger als 200 einwohnerInnen das höchste versteuerte durchschnittseinkommen aller schweizer kommunen: knapp 350’000 schweizerfranken im schnitt! gerne hätte man den grund in vaux für sich behalten, bis “le temps” dem geist der zeit folgend, zu recherchieren begann. jüngst hat die nzz nachgedoppelt – nicht nur zur freude der zurückgezogen lebenden einwohnerschaft in vaux, wie der journalist erfuhr.

fünf bauernbetriebe hat es heute noch in vaux – und eine kleine siedlung mit einfamilienhäuser im pierrafuz, ausserhalb des weilers. gelbe rapsfelder prägen das frühlingshafte bild auf dem plateau. einige reben schmücken die abhänge gegen den see, und im tobel der morgen mampfen zahlreiche kühe gemütlich vor sich hin. doch damit nicht genug. die einfamilienhäuser in pierrafuz sind zwar stattlich gebaut, von luxuriösem umschwung kann aber eigentlich nirgends die rede sein. der reichtum muss anders als über subventionen und arbeitsfleiss begründet sein.

nouveau-vaux wäre heute nicht nouveau-vaux, hätte sich da nicht auch andré hoffmann in der gemeinde niedergelassen. sprecher der roche-erben ist er, vizepräsident des firmenverwaltungsrates zudem. medizin in genf und wirtschaft in st. gallen hat er studiert. in london hat er karriere gemacht, bevor er bei nestlé in vevey einstieg. jetzt investiert der milliardär am liebsten in seine eigenen unternehmungen – und trägt mit seinen gewinnen und vermögen 90 prozent der (tiefst)steuern von vaux.

jüngst wurde spekuliert, hoffmann habe gar moritz sutter die kaufsumme für den mysteriösen baz-deal vorgeschossen. die osterpresse von gestern erschien angereichert mit recherchen hierzu. das dementi aus vaux kaum schnell und bestimmt. das würde nicht in die strategie passen, liess der sprecher des sprechers verlauten.

irgendwie glaubt man das auch, wenn man auf der alten bank am dorfplatz von vaux sitzt. wer die unruhe der medien sucht, braucht einen zentraleren standort, um die ereignisse und trends just in time mit zu erleben. denn wer hoch über dem genfersee um sich schaut, merkt davon nicht viel. das kapital der gegend ist die ruhe, die einen dauerhaftigkeit und weitsicht lehrt.

genau das wissen die bauersleute von vaux zu schätzen. für einige neuzuzüger haben sie sich geöffnet, für ihre grandiosen neubaupläne brauchen sie aber kein musikgehör zu haben. der gemeinderat gehört den neuen, der boden den einheimischen. nicht die menge der steuerzahler macht den reichtum der gemeinde aus. entscheidend ist der mix. und da reicht ein milliardär, der in die roche und in den wwf investiert – gerade weil da kein neues savoyerschloss günstlinge und auswertige anzieht wie unten in der stadt.

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kaffeehaus einstein in bern

wenn sich der berner theatermann lukas leuenberger etwas in den kopf setzt, macht er was draus. vor ein paar jahren war es die inszenierung von schillers “wilhelm tell” auf dem legendären rütli. jetzt ist es das restaurant “einstein”, im parterre des einsteinmuseum in berns altstadt.

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bis vor ein paar jahren hiess das restaurant zum “untern juker”. das angebot war mässig, und die bedienung abweisend, wenn man nicht zur stammkundschaft zählte, die immer mehr ausblieb.
eigentlich war das schon eine katastrophe. denn im gleichen haus hatte albert einstein vor gut 100 jahren gelebt und geforscht, und aus seiner wohn- und arbeitsstätte ist seit dem jubiläumsjahr 2005 das einstein-museum geworden.
dann ging der untere juker ganz zu, und das war nicht minder schlimm: ein museum ohen kaffee – das gibt es nicht!

seit anfangs april ist alles anders. “relatively the best”, führt das “einstein“, wie das neue kaffehaus heute heisst, im untertitel. das ist anspruchsvoll und vielversprechend zugleich.
wer die probe aufs exempel macht, wird nicht enttäuscht. der innenraum quer durch die häuserzeile wurde gründlich ausgeräumt. die küche ist jetzt im ersten stock, was einen durchblick erlaubt.
von der kramgasse aus gibt es ein paar plätze für passantInnen, die es eilig haben. sie bekommen einen sitzplatz in reihe, und einige lokalzeitungen zum schmökern. in der mitte ist die bar, mit eigenem kaffee, soft- und harddrinks.
und wer von der münstergasse her kommt, findet eine gemütliche lounch mit kamin und ledersesseln vor, samt einigen tischen zum verweilen und essen.

der service ist noch etwas holperig, dafür aber freundlich. meine tagliatelle mit spargel und morcheln sind im nu serviert, dampfen ganz heiss und schmecken hervorragend. nur als man den käse reicht, um alles zu verfeinern, zerfällt er der trockene in zwei teile – einen davon mitten im teigwarenteller. der kellner getraut sich nicht in mein essen zu greifen, und ich wage es kaum, seinen käse herauszufischen …

das publikum im einstein ist grossmehrheitlich jung und international. genauso wie es einstein war, als er in den oberen stockwerken des hauses seine kleine bleibe für sich und seine familie hatte. neben mir spricht man spanisch, vor mir schriftdeutsch, und ich unterhalte mich mit einer dame, die fotos vom neuen lokal macht, auf gut bernischem dialekt.

ein gewinn für die berner altstadt, denke ich mit, als ich den hauseigenen kaffee gekippt habe, und mich daran mache, die mittelteure rechnung zubegleichen.

dank der zündenden idee von lukas leuenberger ist schon mal ein guter startschuss gemacht worden. ost daraus auch im vergleich das beste angebot wird, wird man am besten bestens daran bestimmen, dass die besucherInnen des museums nicht nur vom brühmten wissenschafter, sondern auch vom berühmten kaffeehaus in aller welt erzählen werden.

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der charme von käse, schokolade, uhren und bergen trügt(e)

im dritten und vierten teil seiner übersicht über die berner (wirtschafts)geschichte geht historiker und journalist stefan von bergen auf den aufstieg und niedergang der berner ökonomie – und der rolle von politik und unternehmern hierbei.

StaldenChocolaitsinnbild für die traditionsreiche, aber nicht zukunftsträchtige berner wirtschaft: die unvergessliche stalden-crème

als eigentlicher einschnitt mit dem selbstverständnis, schweizerische spitze zu sein, bezeichnet der autor den 1968 erstellten bericht der volkswirtschaftsprofessoren paul stocker und paul risch. ihre röntgenaufnahme, unter dem titel einkommenslage und wirtschaftsstruktur des kantons bern dem regierungsrat vorgelegt, ist alarmierend.

hauptbefund: der ertrag aus der wehrsteuer liegt unter dem schweizerischen schnitt – tendenz ungebremst sinkend. begründet wird dies im übermässigen agrarsektor, der die entstehung von industrie und dienstleistungen behindere. uhren- und schoggifabriken prägen die wirtschaft; sie bauen auf vielen kleinbetrieben mit wenig rationalisierung und tiefen löhnen, die weder günstig für den konsum sind, noch im internationalen wettbewerb bestehen können.

dabei hatte alles gar nicht so schlecht begonnen. von bergen nennt die zeit zwischen 1890 und 1920 die berner belle epoque. gebaut werden alpenbahnen, die den weltweiten vergleich nicht scheuen müssen, es kommt mit der bkw ein stromnetz auf, das in europa führend ist, und eisenbahnen wie elektrizität befördern den tourismus aus dem ausland, namentlich im berner oberland. zwischen 1920 und 1980 gerät bern nach von bergen jedoch in eine abwärtsspirale.

symptomatisch dafür ist die entwicklung der milchverarbeitung. die berühmte stalden-creme, der stolz der berner nahrungsmittelherstellung, wird durch den kühlschrank in den 50er jahren ausrangiert. kondensmilch wird überflüssig, denn die milch wird haltbar. die nachfahren der firmengründer sind keine wirklichen pioniere mehr. und so kommt es zur übernahmewelle. nestlé hatte das angebot diversifiziert und sich internationalisiert. der multi lief den berner firmen im milchgeschäft den rang ab. in den 70er jahren traf es auch toblerone und ovomaltine. die auslandnachfrage entwickelte sich – jedoch an den klassikern aus bern vorbei! 1967 wurdr die wander von der basler sandoz übernommen, später an associated british foods veräussert, die produktion konzentrierte man in neuenegg. 1970 fusionierten suchard mit tobler, die 1991 in der philipp-morris-gruppe aufging, und heute in bern-brünnen arbeitet.

von bergen hat zwei thesen: die eine betrifft die altlasten mit der übernahme des jura. die anderen den politischen wandel. letztere gefällt mir besser, denn mit den wahlen 1919 wurde die freisinnige vorherrschaft gebrochen, die wirtschaftlich auf industrialisierung und freihandel gesetzt hatte. auf anhieb eroberte die neue bgb, die bauern-, gewerbe- und bürgerpartei von ruedi minger, die hälfte der nationalratssitze, und auch im grossen rat war sie schnell vergleichbar stark,. zuerst regierte sie alleine, dann sicherte sie mit hilfe der freisinnigen die konservative politik ab. auf dem land bleibt sie unangefochten die politische macht. ihre lokalfürsten schauten, dass die subventionen in alle ecken und ränder des kantons verteilt wurden, und man dafür lückenlos die stimmen einsammeln konnte.

den befund der wirtschaftskollegen von 1968 spitze der berner wirtschaftshistoriker christian pfister nachträglich noch zu: “Ab 1920 fällt die Berner Wirtschaft unter der BGB-Aegide in den alten Trott zurück und begnügt sich fortan mit dem gemütlichern Charme von Käse, Bergen, Uhren und Schokolade.”meinerseits füge ich bei, die ursache liege vermutlich tiefer als im fehlverhalten der staatspartei: denn das schicksal der modernisierung berns liegt im verhältnis von stadt und land, das seit der bürgerlichen Revolution der 1830er jahren ungeklärt bliebt. sein selbstverständnis entwickelte der kanton stets in abgrenzung zur hauptstadt, und er verstärkte die problematik zwischen ruralem und urbanem kanton mit der konservativen wende um 1920 nochmals, sodass der einstmals führende stand der eidgenossenschaft man von den internationalen entwicklungen überrumpelt im nationalen mittelfeld und globalen abseits landete.

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mein kommentar zu teil 2
mein kommentar zu teil 1
die serie im original

tschäppäts tschäppu und metzlers frisur

heimfahrt im poschi. 12 personen in meinem blickfeld. 7 davon mit dem blick am abend. ich muss unweigerlich mitlesen. informiert werde ich über tschäppäts tschäppu und über metzlers frisur. was das mit politik zu tun hat, frage ich mich, während ich die treppen nach hause hochsteige.

gut, die lentikularkarte von alexander tschäppät erinnert auch ein wenig an spasswahlkämpfe. denn tschäppäts tschäppu besteht aus der renovierten kuppel des bundeshauses. je nach winkel der karte, wackelt der hut. mal sitzt er gerade, mal schepps auf dem haupt des berner stadtpräsidenten. ganz ernst kann man das nicht nehmen.

nehmen können wird man sie im herbst als giveaway im strassenwahlkampf des stadtpräsidenten, denn im oktober möchte er als volksvertreter auf bundesebene gewählt werden. von facebook hält nichts. interaktion findet nicht im nirwana des www statt, sondern in der direkte begegnung in berns gassen, lässt er verlauten.

tschäppäts wahlkämpfe haben etwas eigenes bewahrt. auf sein lebenszentrum bern ausgerichtet, häufig spontan konzipiert und immer mit humor durchsetzt, fehlt es ihnen nicht an themen. die stadtentwicklung gehört dazu, und es ist dringend nötig, hier weiteres zu deblockieren. mit dem westside hat man akzente gesetzt, offene läden in der altstadt zu ungewohnten zeiten harren noch der behördlich nötigen dinge. geklappt hat es letzten november dafür mit dem ausstieg aus der kernenerige. im letzten moment hat tschäppäts bern die richtige perspektive angepeilt.

ich weiss, bisweilen ist tschäppät leutselig, dann wieder eckt er an. vor allem wenn es um christoph blocher geht, kann der sp-stapi die facon verlieren. das spricht sich dann schnell herum, und findet so eingang in die klatschpresse, sodass der magistrat sich gebührlich entschuldigen muss. weil er gerne über fussball redet, verübeln ihm viele solche ausfälle nicht. denn alle erinnern sich an die holländer in bern, und tschäppäts eingreifen, um dem unerwarteten anstrum herr zu werden. seine wendigkeit in fast auswegslosen situationen hat er mit seiner schlagfertigkeit in satiresendungen wie die von giacobbo bewiesen mehrfach bewiesen – und national applaus erhalten. ganz anders, als wenn er in bern zu tief ins glas guckt und vielsagend den mädchen nachschaut.

die amerikanische politologin pippa norris hätte ihre helle freude an tschäppät. vor 14 jahren veröffentlichte sie einen seither viel zitierten wissenschaftlichen aufsatz über die entwicklung von wahlkämpfen. vieles von dem, was sie damals über “pre-modern campaigning”, vormoderne kampagnen also, schrieb, kann man beim berner stadtpräsident noch heute miterleben. vom politischen leader selber getragen, seien solche wählkämpfe lokal verwurzelt, um freiwillige aktivisten vor ort zu gewinnen, hielt sie für alle zeiten fest. typisch sei, dass sie stark der eigenen partei angepasst seien, was schliesslich zu machen sei, letztlich aber spontan entschieden werde. poch würde man auf anlässe mit viel volk, denn das spreche sich mit der mund-zu-mund-propaganda am besten herum, was wirke und keine wahlkampfkosten verursache.

ganz anders beschreibt die harvard professorin den postmodernen wahlkampf. er sei teuer, auf website und tv-sendungen ausgerichtet, mit denen man zielgruppenspezifisch kommunizieren könnten. getrieben würden sie nicht mehr von den politikerInnen selber, sondern von politikberaterInnen im hintergrund, die einen permanenten wahlkampf für die mandantInnen führen würden. zu diesen consultants zählt seit neuestem auch ruth metzler, die abgewählte justizministerin der schweiz, die 2003 den zweiten bundesratssitz der cvp nicht mehr halten und ihn an die svp abgeben musste. danach hatte sie sich von der politik verabschiedet, während sie sich gestern mit einem politischen statement, wie der “blick am abend” schrieb, wieder vorwagte.

typisch für den postmodernen journalismus ist, dass man ausser dem titel nichts inhaltliches erfährt. so weiss ich zwar, dass es um “konkordanz in der umbruchphase” ging. wohin das führen werde, ist zwar die einzig relevante frage, doch das blatt berichtet darüber mit keinem wort. dafür las ich viel über die neue frisur der appenzellerin, das elegante kleid, das die wahlbaslerin beim vortrag trug, und den ubs-banker, mit dem sich das unschuldslamm von einst neuerdings in der öffentlichkeit zeigt. gereift sei sie, meint das boulevardblatt im pr-artikel von irene harnischberg, der für für mich wie kaum ein anderer die entleerung der politik steht.

echt, da sind mir lentikularkarten lieber.

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st. galler frauen

diese woche bin ich in st. gallen. zwei frauen beschäftigen mich.

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meine lehrveranstaltung an der hsg halte ich diesmal als blockseminar ab. es ist den ständeratswahlen gewidmet. prominenter gast am mittwoch ist regierungsrätin karin keller-sutter, eine der vier kandidatInnen für die wahl im kanton st. gallen. mehr dazu auf meinem berufsblog.

natürlich interessiert mich in st. gallen eine andere frau ebenso. wiborada wird sie geheissen. ob das ein wirklicher name ist, bin ich mir nicht ganz sicher. denn unzweifelbar steckt “weiberrat” in diesem althochdeutschen wort. das kann eine person gewesen sein, aber auch eine eingebung.

gemeint ist die legendäre figur, die beim einfall der ungarische reiter 926 das kloster auf unkonventionelle art verteidigte. es soll ihr gelungen sein, wertvolle schriften vor der verbrennung zu schützen. deshalb ist sie bis heute die schutzpatronin der bibliotheken und bücherfreunde. das macht sie mir sympathisch.

wiborada soll die letzten 10 jahre als inklusin gelebt haben. gemeint ist damit, dass sie in einem enge gemäuer, das sie nicht verlassen konnte, hauste. in ihrer zeit war das keine seltenheit, vor allem bei frauen. denn es schützte vor überfällen, war es doch kaum einzunehmen. 1047 wurde sie, als erste frau überhaupt, von der katholischen kirche heilig gesprochen. bis heute ist der 2. mai im bistum st. gallen ein lokaler feiertag, an dem man ihr gedenkt.

und so werde ich, wie in früheren zeiten viele vor mir, am donnerstag zwischen rosenberg und kirche st. mangen pilgern, dem ort, wo die strenge asketin von damals gelebt haben soll.

jetzt muss ich aber schlafen gehen, denn morgen werde ich dem rat der regierungsrätin horchen, die in die kleine kammer nach bern will, um den überfall der svp-auf den ständerat wenigstens in st. gallen zu verhindern …

mehr zu alledem im verlaufe der woche.

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bärn – seit 1191

bern hat einen neuen film über sich und seine bären. heute war premiere in der cinematte. ein gelungener auftakt für “bern – seit 1191”.

HBlUw14N_Pxgen_r_900x588das ende einer stadtgeschichte: pedro, der letzte bär im alten bärengraben, seit 1513 ein fester bestandteil des berner stadtlebens, wird 2009 krankheitshalber eingeschläfert.

der film “bärn – seit 1191” beginnt mit der bekannten stadtlegende. gründer herzog berchtold v. von zähringen habe beschlossen, die stadt nach dem ersten tier zu nennen, das im eichenwald an der aare erlegt würde. und das sei ein bär gewesen. eine stimme auf dem off widerspricht, und sie erzählt, filmisch unterstützt, die wenig geläufige fassung der gründungslegende. mechthild, eine edle, sei mit ihren kindern von einem wolf angegriffen – und von einer bärin verteidigt worden. diese habe sie, vom kampf verletzt, in ihre höhle zu ihren jungen geführt, wo sie verstorben sei. der herzog habe, als er vom opfermut der bärin gehört hatte, die jungen adoptiert und die stadt nach der heldin benannt.

unweigerlich fühlt man sich an die dramatischen tage im frühwinter 2009 erinnert, als finn, das männchem im neuen bärenpark von der polizei angeschossen wurde, nachdem er einen eindringling angegriffen hatte. die geschichte bewegte die stadt, wie kaum eine andere, ging medial um die welt, und die aufmunternde post samt honig liessen finn wieder stark werden. zwischenzeitlich hat björk, das bärenweibchen, zwei junge geworfen, berna und ursa, die bald schon ein neues zuhause brauchen. dann wird der erste rummel vorbei und vielleicht wieder etwas normalität einkehren.

der dokumentarfilm über das geradezu symbiotische verhältnis von bär und mensch in bern, den daniel bodenmann 2010 gedreht hat und der heute in der berner cinematte premiere hatte, geht den unzähligen bärengeschichten in der bundesstaat nach – in der gegenwart wie auch in der vergangenheit. zu wort kommen zum beispiel bärenwärter, die früher mit bären bis zum bahnhof spazieren gingen. ihr prestige war mit dem des stadtpräsidenten vergleichbar. der macht im film auch mit, meint kurz und bündig, man hätte den neuen bärenpark kaum gebaut, hätte man gewusst, wie kostspielig das werde. dem widerspricht der ceo der mobiliar, hauptsponsor der neuen touristenattraktion in bern. ganz manager aus zürich, lobt er das ziel, zu dem man von beginn weg gestanden sei, und es auch nicht aus den augen verloren habe, als es schwierigkeiten gab. barbara hayoz, die unglückliche mutter des bärenparks, bleibt da noch anzufügen, dass die stadt so unfreiwillig zum handkuss in millionenhöhe gekommen sei.

das alles ist in bern bekannt, und diese geschichten hätten kaum einen ebenso spannenden wie informativen dokumentarfilm abgegeben. denn der streifen erzählt auch geschichten, die kaum herumgeboten werden: wie die von der bärenjagd im bärengraben. lange erlegte man alte bären mit gewehren, wobei der präparator des naturhistorischen museums höchstpersönlich von der balustrade schoss, um das tier fachmännisch zu erledigen, ohne das fell zu beschädigen. anschliessend verzehrte man, bei einem kleinen fest im kleinen kreis, das bärenfleisch im benachbarten hotel adler. das beste stück ging an den stadtpräsidenten. alex tschäppät erinnert sich, dass es bären gab, die nach seinen eltern benannt worden seien. das habe ihn als junge gefreut. wenig erbaut war er jedoch, als dann auch sie geschossen und gefuttert wurden. diesen brauch pflege man in “seinem” bern nicht mehr, hält der stapi fest.

an der heutigen premiere waren viele, die den film miterzählen, anwesend – vom letzten bärenmetzger bigler bis zum jetzigen bärenparkdirektor schildger. der stand dem projekt der filmemacher anfänglich ziemlich negativ gegenüber. nach dem turbulenten start mit dem neuen gehege wollte er keine unnötige publicity durch sensationsjournalisten mehr, die nur geld machen wollten. davon ist nichts geblieben. bodenmanns team ist alles andere als reich geworden, und der oberste bärenwärter in bern lobte das einfühlsame werk beim apéro. die konrahenten von damals machten ob ihrer gemeinsamen freude spontan duzis.

ich kann mich dem positive urteil von höchster warte nur anschliessen. entstanden ist ein film mit rhythmus, ohne chichi, dafür mit gehalt. am 17. april kommt er in die kinos, und im herbst soll er als doc-film im schweizer fernsehen ausgestrahlt werden. vorgesehen ist, dass eine dvd entsteht, und das material von bern tourismus weiterverwendet wird.

mich freuts, auch für die einfälle zu berns bären und geschichte(n), die ich in verschiedenen interviews während mittagspausen und stadtwanderungen beisteuern durfte. berna, lüfte ich das geheimnis um den stadtnamen im abspann, sei nicht schwäbisch und komme auch nicht von den zähringern. vielmehr sei es das keltische wort für schlitz, geformt durch zwei grosse molassebrocken unter der nydeggbrücke, durch den die aare seit menschengedenken fliesse. das würde einen weiteren film füllen, über bern – vor 1191.

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soyez curieux!

“soyez curieux!”, rief joseph deiss den schülerInnen der düdinger oberstufe auf dem gemeinsamen podium zu. damit meinte er nicht, sie sollten merkwürdig werden, wie die schweiz vor ihrer uno-mitgliedschaft war. vielmehr empfahl er der jugend neugierig sein und einen beitrag zur lösung der weltprobleme leisten.

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geladen hatte nicolas bürgisser, der gewandte oberamtmann des sensebezirkes. ins düdinger “podium” gekommen waren vielleicht 250 personen, um den präsidenten der uno-vollversammlung, den freiburger joseph deiss, zu sehen und zu hören. ein erfolg fand ich; der amitionierte bürgisser hätte gerne das doppelte für den gast aus new york gehabt.
am morgen noch war der höchste weltbürger in london gewesen. nach dem schlaf wird er nach berlin fliegen, um mit westerwelle zu konferieren, bevor es zurück an den hauptsitz der vereinten nationen geht. préfect bürgisser fasste den aufenthalt des früheren cvp-politikers in düdingen so zusammen, dass die sensler metropole international bestens positioniert sei. den lacher des heimischen publikums hatte er auf seiner seite.

161 länder hat der mundialist aus der schweiz bisher bereist. das schönste land sei immer das nächste, bewies er seine neugierde. vor ablauf seines amtsjahres werde er es nicht schaffen, alle 192 mitgliedstaate der völkergemeinschaft besucht zu haben, bedauerte deiss. was nicht heisse, dass er danach untätig sein werde.
denn der 65jährige ist munterer denn je. jeden morgen geht er um 5 joggen, um seine gedanken zu ordnen. damit gehört er zu den beweglichen unter den diplomaten. seine bodygards am uno-hauptsitz seien fitter als unter seinen vorgängern, witzelte der professor aus freiburg, dessen politische karriere als cvp-gemeindepräsident in barberêche begann.
als uno-präsident auf zeit müsse er neutral sein, dozierte der frührer uni-professor. die mitglieder sind es, welche die uno treiben, nicht der präsident, erklärt er dem publikum. der leitet die versammlungen, wirkt als netzwerker, und er kommuniziert die entscheidungen. das wirkte noch ein wenig, wie eine 1.-august-rede eines schweizer politiker.
doch dann kommt der weltbürger im freiburger mächtig in fahrt. seine leidenschaft für die globale sache spürte man an diesem abend vor allem, als er über libyen sprach. wenn sich die uno in diesem land engagiere, sei das nicht einfach einmischung in innere angelegenheiten. es habe auch mit der verantwortung zu tun, welche die uno habe, wenn der schutz der bevölkerungen nicht mehr gewährleistet sei. der ausschluss aus dem menschenrechtsrat gehöre ebenfalls dazu, warb der uno-präsident vor seinem heimpublikum. global governance, das motto seines präsidialjahres, nennt deiss das und meint, die weltgemeinschaft müsse lernen, dass sich souveräne staaten für übergeordnete ziele engagieren sollten.

vorgestellt wurde alt-bundesrat deiss durch seinen freund und kollegen in der schweizer regierung, samuel schmid. der würdigte diess unterhaltsam. die “drei k” seien typisch für den freiburger katholiken, frotzelte der reformierte aus dem benachbarten seeland: korrekt, konstruktiv und kollegial. damit war beim ernsthaften teil seiner laudatio, den thesen zur konkordanz, die joseph deiss am 20. oktober 2004 im bundesrat zu debatte gestellt habe: diese brauche institutionelle, organisatorische und personelle voraussetzungen, habe der magistrat damals gefordert. ohne namen zu nennen, wussten alle im saal, wer warum gemeint war.
den kämpfer deiss würdigte erwin jutzet, der sensler im freiburger regierungsrat. für die einhaltung der milleniumsziele in der uno mache sich ehemalige aussen- und volkswirtschaftsminister der schweiz stark. bis 2015 will man die armut halbieren, die lebensqualität nachhaltig sicher und die biodiversität fördern. gekämpft haben beide im parlamentarierfussball mit- und im murtenlauf gegeneinander.

als bundesrat sah sich joseph deiss bisweilen dem vorwurf ausgesetzt, effizient regiert zu haben, ohne farbe zu bekennen. an diesem abend habe ich einen äusserst kompetenten, überzeugten und einfühlsamen weltbürger kennen gelernt, der viel ausstrahlung verbreitete. man hatte den eindruck, er habe nicht nur von der überschaubaren enge der schweizer verhältnisse in die unübersichtliche weite der globalen konstellationen gewechselt, nein, er sei dabei neugieriger denn je geworden.

soyez curieux!

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