fürchtet euch nicht!

draussen tummelten sich unmengen menschen am weihnachtsmarkt. drinnen war es besinnlich, umgeben von einer vielzahl engel.

Unbenannta
staunend in den engelhaften himmel schauend: münster-führerin marie-therese lauper

geladen hatte marie-theres lauper, stellvertretende sigristin des berner münsters. je länger es dauerte, desto mehr kam die führerin durch das gotteshaus in fahrt. kein engel an der stukatur oder an einem kirchenstuhl, den sie nicht kennen würde!

der anfang war systematisch; eine art engelogie. die geschichte der engel ist mehrere 1000 jahre alt, derweil sich ihre gestalt mehrfach verändert hat. geblieben ist ihr sinn, denn seit jeher sind sie die boten gottes.

neun engelschöre kennt die christliche tradition: unter den wolken singen die schutzengel, die erzengel und die engel der tugend. zwischen wolken und sternen sind die engel der macht, der gewalt und der herrschaft. über ihnen ist die unendlichkeit mit den engel, die den thron gottes tagen, der cherubimen und seraphimen.

das legte nicht nur papst gregor der grosse im 7. jahrhundert mitten in rom als himmlische hierarchie so fest. es fand auch im 15. jahrhundert eingang ins gewölbe über den portalen zum berner münster. links ist der eingang der klugen jungfrauen, rechts der törichten. im grossen bild dazwischen finden sich die apostel, weitere engel, welche die kreuzigung jesu symbolisieren. in ihrer mitte ist der erzengel michael, der krieger christi, der die seelen der toten wägt, um zu entscheiden, ob sie in den himmel kommen, oder in die hölle müssen. wessen gute taten mehr zählten, bekam den zugang zum ewigen licht, während jene, deren schlechte mehr wogen in die immerwährende dunkelheit geheissen wurden. der berner schultheiss gehörte übrigens zur ersten kategorie; der bürgermeister zürichs, der den alten zürich krieg entfacht hatte, landete in der zweiten …

im innern des berner münsters entdeckt man laufend neue engel. so in der diesbach-kapelle, eingraviert im gemäuer; man muss schon wissen wo, um die letzten spuren des bildnisses zu entdecken, das vor über 500 jahren angelegt und eben erst gefunden wurde. so auch im wappen hinter dem stuhl der familie engel, aus der ostschweiz kommend, in bern eingebürgert und an der aare schnell zu ehren und ämtern gekommen; so schliessich im kirchenchor, wo die acht engel ausgestellt sind, die vormals über dem schultheissentor wachten. sie verkünden die entstehung der stadt im jahre 1191, den (neu)bau der kirche 1421, die herrlichkeit berns, das wirken des kaiserreiches, die leistungen der zähringer, die aufsicht des deutschordens über die und des heiligen vinzenz, dem schutzpatron des münsters.

das alles ist eigentlich katholischer herkunft und hat trotz reformation und bildersturm im berner münster überlebt, weil man die kirche ende des 15. jahrhunderts den obrigkeitlichen deutschherren entrissen und sie in den dienst des bernischen landes gestellt hatte. engel haben die epochale wende in der christlichen welt übrigens überlebt, wie die engel über der berner orgel aus dem 18. jahrhundert zeigen. nur sind sie seit dem barock immer jünger, kleiner und leichter geworden, und sie haben flügel bekommen.

“fürchtet euch nicht!”, ist der leitspruch der engel. das war ihre begrüssung, als sie furchterregend vor die menschen traten; seit sie zu kindern gottes geformt wurden, macht er weniger sinn, denn das liebliche in ihnen ist wohl das wichtigste an ihnen geworden. marie-therese lauper, die das allen besuchern gekonnt nahe bringt, erzählt übrigens, engel hätten fliegen gelernt, weil sie nicht alles so ernst nahmen, was sie sahen.

ich denke, ihre gestrige begleitgruppe der münsterführerin hat das sehr ernst genommen, sich für das verteilte engelsgebäck bedankt und das geheimnis der musik beethovens in der schliesslich ganz abgeunkelten stadt gottes tief in sich aufgenommen.

stadtwanderer

zeigen was ist, überzeichnen, was auffiel, distanz markieren zu dem, was nicht vermisst hätte

alle berühmtheiten des jahres waren da: merkels handy, obamas ohren, putins machthand, assads greueltaten und berlusconis grinsen. nichts davon war wirklich lustig, dennoch wurde kräftig gelacht.

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Karikatur: Silvan Wegmann

aufgelockert wurde die vernissage zu den besten schweizer karikaturen des jahres 2013 vor allem durch christine egerszegi und ruth dreifuss, zwei der schlagfertigsten frauen aus der schweizer politik. nicht einmal der geübte befrager sandro brotz konnte sie ich echte verlegenheit bringen. immerhin, der rundschau-talker entlockte beiden gästen einige bonmonts und bekenntnisse: ruth dreifuss outete sich, an einem programm zu drogenwirkungen teilgenommen zu haben, aus rein medizinischen gründen, meinte die ex-gesundheitsministerin; der versuch sei bald abgebrochen worden, denn die hypothese, die dem experiment zugrunde gelegen habe, sei eindeutig falsch gewesen. gesundheitspolitikerin christine egerszegi nahm das thema entspannter: sie sei eine 68erin, habe in lausanne romanistik studiert und so einiges ausprobiert; nur warte sie bis heute auf die wirkungen.

erheiterndes gelächter!

über karikaturen genervt habe sie sich eigentlich nie, meinte die aargauer ständerätin aus den reihen der fdp. sie würden masslos übertreiben, nicht ohne wahren kern. das wisse man, wenn man sich der sparte zuwende; und das solle man nicht vergessen, wenn man einmal betroffen sei, meinte die eingefuchste franzlehrerin. die ex-bundesrätin reagierte gespaltener. als ein welsche karikaturist sie mit spritzen in der hand gezeichnet habe, welche sie in schulhöfen abgegeben haben solle, habe sie heftig interveniert. denn die karikatur, so die genfer pensionistin, sei eine eingängige form der informationsverbreitung, nicht der falschmeldungen.

eiskalte mienen!

am witzigsten waren beide frauen, als sie über die politik sprachen. „warum das bundeshaus eine kuppel habe?“, fragte sich dreifuss gleich selber; weil es kein flaches zirkuszelt gebe, antwortete sie postwendend. und egerszegi meinte, wahlkampf gleiche prostitution, denn es gäbe leute, die würden einen im strassenwahlkampf meiden, als arbeite man/frau im ältesten gewerbe der welt.

süffisantes schmunzeln!

auf das verhältnis zu ihren parteien angesprochen, blieb die gewerkschafterin dreifuss trocken. sie sp vertrete die richtigen positionen, und sie habe auch als bundesrätin immer das grundvertrauen ihrer genossInnen gehabt. da schäkerte die freisinnige egerszegi viel lockerer: als sie erstmals als frau unter männern kandidiert habe, habe der parteipräsident verlangt, dass alle mit sauberem hemd, ordentlicher krawatte und frisch rasiert antreten müssten. sie habe geantwortet, die ersten beiden sachen ging, das dritte sei ihr zu intim.

herzhaftes lachen!

es tat gut, nach einem anstrengenden jahr schweizer politik mit volksabstimmung über minder-initiative, aufständen gegen asylunterkünfte, im parlament versenktem us-deal für banken, durchbruch beim gripenkauf, angekündigter altersvorsorge 2020 und anspruchsvollem verhandlungsmandat mit der eu das politjahr 2013 locker vom hocker verabschieden zu können. genau das leisten karikaturen, in dem sie zeigen, was ist, überzeichnen, was auffiel, und distanz markieren zu dem, was man gar nicht vermisst hätte. die heutige vernissage mit eigentlich allen grössen der schweizer karikaturistInnen-szene hat das bestens auf den punkt gebracht. eigentlich kann man den besuch im berner kornhausforum über die fest- und feiertage nur empfehlen.

schelmisches grinsen!

stadtwanderer

wahlen in wohlen

seit 1999 ist wohlen im kanton bern meine wohngemeinde. mit amtlich bestätigten 8897 einwohnerInnen ist der vorort der hauptstadt selber beinahe eine stadt, allerdings mit gemischt urban-ruralem charakter. denn den hauptsiedlungen in wohlen und hinterkappelen stehen zahlreiche dörfer gegenüber, die ihre ländliche eigenart bewahrt haben. und, das wachstum der aufstrebenden gemeinde ist jüngst ins stocken geraten.


stabübergabe, der abgewählte edi knecht, gratuliert dem nachfolger bänz müller (gut beobachtet vom stadtwanderer, genau rechts dahinter, in der braunen jacke)

lange war man in wohlen geteilt, zwischen bürgerlicher mehrheit und sozialdemokratischer minderheit. doch dann begann sich das politische gefüge aufzulösen. die freie liste des kantons bern hatte in den 80er jahren des 20. jahrhunderts just in wohlen ihren ursprung; grüne und grünliberale machen hier wachsende stimmenanteile. zudem gibt es seit wenigen jahren eine respektable bdp, und seit neustem auch ein liste integrale (sach)politik.

das von normalfall abweichende ergebnis
heute nun waren wahlen in wohlen – genau genommen der zweite wahlgang für das gemeindepräsidium. der erste war vor zwei wochen. bestätigt wurde damals die bürgerliche mehrheit in der gemeindeexekutive mit 2 fdp männern und je einer frau der svp und bdp. rotgrün kam unverändert auf drei sitze, neu 2 für sp plus und 1 für die grünen. zwei frauen und ein mann vertreten das linke lager in der exekutive.
umstritten war diesmal die wahl für das gemeindepräsidium. es ist besonders wichtig, denn der amtsinhaber übt es vollamtlich aus, während die andere regierungsmitglieder fast ganz ehrenamtlich arbeiten.
im ersten wahlgang schaffte der amtsinhaber, eduard knecht, von der fdp, das absolute mehr nicht, sodass sich in der zweiten runden er und sein sp-herausforderer stefan müller-bleuer, von allen bänz genannt gegenüberstanden.
nun obsiegte bänz müller, ganz genau berechnet mit 55,2 prozent der stimmen, bei einer beteiligung von 58,1 prozent. damit wechselt das präsidium wohlens von rechts nach links, der männliche gemeindepräsident sieht sich unverändert einem mehrheitlich weiblichen rat gegenüber, und wohlen hat eine kleine cohabitation mit linkem chef und rechter mehrheit.

die vorzeichen stand schon auf sturm

wie nur war das möglich? von den parteistärken her wäre der amtsinhaber der favorit gewesen: die bürgerlichen parteien machten vor zwei wochen 48 prozent der stimmen aus, rotgrün 32 prozent, und 20 prozent gingen an die verschiedenen ungebundenen kräfte resp. kamen von listen ohne parteibezeichnung.
schon der erste wahlgang zeigte, dass eine überraschung in der luft lag. denn knecht lag 146 stimen hinter seinem seinem herausforderer, und die wahl in den gemeinderat nach proporzwahlrecht schaffte er auf der fdp-liste nur als zweiter von zweien.
eine kleine analyse zum heutigen, deutlicheren ergebnis zeigt: wenn sp-müller alle stimmen von rotgrün bekommen hat, wenn er von der zusätzlichen beteiligung im zweiten wahlgang mehr als der amtsinhaber profitiert hat, müssen entweder alle unabhängigen stimmen an ihn gegangen sein, und etwa 10 prozent der bürgerlichen wählerInnen haben ihn, nicht knecht unterstützt. oder sein anteil bei den ungebundenen ist etwas geringer ausgefallen, dafür hat mehr er entsprechend mehr als jede 10. Stimme aus bürgerlicher hand erhalten.

das politikum
beim wahlapéro nach der ergebnisverkündung zeigten sich die freunde knechts selbstredend enttäuscht, jene müller offensichtlich erfreut. die meisten anwesenden waren erleichtert, dass eine klare entscheidung getroffen worden war. denn der horror der insider war ein hauchdünnes ergebnis.
bereits im wahlkampf war klar geworden, dass der amtsinhaber umstritten war. im ersten wahlgang trat die bdp mit einer eigenen kandidatin für das gemeindepräsidium an, zur grossen überraschung der fdp. dass sich herausforderer müller vorstellen kann, das amt auch halb- statt ganztags auszüben (und damit kosten zu sparen), hat ihm gewisse sympathien selbst in den reihen der svp verschafft. schliesslich die unabhängigen: die kleinparteien stellten zwar keine eigenen bewerbungen für die gemeindespitze, votierten aber in der ersten rund weitgehend für den neuen mann.
das ganze ist nicht ohne vorgeschichte. in der vergangen legislatur musste die schule in säriswil, einem der dörfer wohlens, geschlossen werden. das alleine war ein grosses politikum, das schliesslich mit einem eklat endet, als aufgrund unterschiedlicher auffassungen über das vorgehen die beiden sp-frauen mit vorwürfen an den gemeindepräsidenten zurücktraten. zum eigentlichen problem avancierte eine aussage des gemeindepräsidenten im rahmen der manchenorts laufenden debatte über ein nächtliches ausgehverbot für jugendliche. demnach habe man in wohlen einen minderjährigen mit wodkaflaschen zu nächtlicher stunden anhalten müssen, ohne dass der vorfall in den amtlichen polizeiprotokollen belegbar gewesen wäre. gemeindepräsident knecht musste sich in der folge entschuldigen, die in fahrt gekommene juso sah die gunst ihrer stunden gekommen, und mobilisiert seither gegen den politischen chef wohlens, ohne das dieser mit ihr ins gespräch fand. im wahlkampf kreiierten sie mit dem slogan „wir lassen uns nicht knechten“ das geflügelte wort der stunde. denn zwischenzeitlich wurde der vorschlag des gemeinderates für das ausgehreglement an der gemeindeversammlung abgeschwächt, und das referendum gegen den verbliebenen beschluss wurde von der jungen linken erfolgreich aufgegriffen. ein richtiges politikum also, und das mitten im wahlkampf.
die medien seien schuld, hörte man dieser tage des öfteren seitens der bedrängten bürgerlichen. sicher, sie haben den konflikt befeuert, erfunden haben sie ihn nicht. das war der initiale fehlers des gemeindepräsidenten. unterschätzt hat man in seinem wahlkampfteam, dass dahinter ein konflikt schwelt, in einer alternden gemeinde, deren bevölkerungszahl schrumpft, was sich negativ auf gemeindefinanzen und infrastrukturen auswirkt. der bisherigen politik ist es nicht gelungen, hier eine wende herbeizuführen, dass die angebote für heranwachsende im schulsektor zurückgehen, und für jugendliche in ihrer freizeit vor eher bescheiden sind. genau das goutieren nicht mehr alle, und genau das hat sie schlafgemeinde aufgeweckt und mit neuem politischem engagement erfüllt.

meine kurzanalyse der ursachen
auch wenn ich heute keine wahlanalyse im eigentlichen sinne gemacht habe. das normale raster, das ich hierbei verwendet hätte, hat mir geholfen, die sache rasch einzuschätzen: denn ganz allgemein entscheiden drei faktoren eine wahl, erstens, die langfristigen parteibindungen, zweitens, die themen, die im vorfeld diskutiert werden, und, drittens, die stärken und schwächen der spitzenkandidatInnen.
die parteibindungen hätte klar für den amtsinhaber gesprochen. wäre das bürgerliche lager geeint gewesen, und hätte es die übliche ausstrahlung auf die ungebundenen gehabt, wäre zur nomalen (bürgerlichen bestätigungs)wahl. das konfliktthema einerseits, die eigenschaften der kandidatInnen anderseits haben also zur abweichende entscheidung geführt.
denn der gewählte lehrer und der abgewählte ex-personalchef einer rüstungsfirma repräsentieren zwei generationen von politikerInnen, mit ganz anderen selbstverständnissen im kommunikativen umgang, mit der wohnbevölkerung, aber auch mit medien. denn sie sind gerade in anonymer werdenden gemeinden unerlässlich, um die kommunikation ausserhalb der politzirkel zwischen behörden und stimmberechtigten sicher zu stellen.

stadwanderer