zum beispiel nathalie wappler

ich gehöre wohl zu den vielen, die nicht genau wissen, was das konvergenzprojekt der srg mit sich bringt. die wahl der neuen geschäftsleitung von srf – ein gewöhnungsbedürftigen kürzel, das immerhin klar näher bei srg ist als das sr und drs waren – klärt diese frage vorerst nicht wirklich. weitgehend geklärt wurde heute indessen, wer in ihr einsitz nimmt. die werden wissen, was die konvergenz mit sich bringt.

Wappler NathalieNathalie Wappler, die neue Kulturchefin von SRF (Quelle: SRG)

herausgreifen möchte das jüngste gl-mitglied, nathalie wappler. die 42jährige ostschweizerin studierte geschiche und politikwissenschaft im deutschen konstanz. von der schweiz nichts gehört habe sie in diesen jahren, erklärte sie mir jüngst. gerade wegen der nähe zur grenze orientiere man sich in der nachbargemeinde von kreuzlingen klar an deutschland. stuttgart, die hauptstadt baden-württembergs sei weit weg von der bodenseemetropole, sodass eher grossstädte wie hamburg oder berlin lockten.

insbesondere menschen, die gerne in den journalismus möchten, meinte wappler. in der tat, nach einer stage bei 3sat, ging nathalie zum zdf, betreute kultur- und gesellschaftsthemen und stiess schon bald in die redaktion von “berlin mitte”, der heutigen talksendung “maybrit illner”, vor, wo sie unter anderem redaktorin für deutsche innenpolitik war.

2005 wechelte nathalie zum schweizer fernsehen und begann für den kulturplatz zu arbeiten und zu produzieren. aktuell ist sie die chefin aller sternstunden, des literaturclubs und der nachtwach. für ihre innovationen in diesem bereich wurde sie mit ihrem team auch schon mit begehrten tv-preisen ausgezeichnet. auf anfang des nächsten jahres wird sie die neue chefin aller kultursendungen von radio und fernsehen – und überflügelt damit den jetzigen tv-kulturchef rainer schaper genauso wie den chef von radio drs2, marco meier.

kennen gelernt habe ich die fernsehmacherin vor gut einem jahr während den vorbereitungen für die damaligen “sternstunden geschichte”. als erstes merkte ich, dass sie gut und lange zuhören kann – eine gabe, die bei weitem nicht alle journalistInnen haben, die gewählte aber für höhere würden qualifiziert. rasch erkannte man auch ihr talent, stets für das team dazu sein: die technikerInnen und journalistInnen einerseits, die gäste am und hinter dem bildschirm andererseits. dabei wirkt sie stets unprätentiös und gelassen, verströmte die ruhe, die sich vorteilhaft auf die produktion von sendungen auswirken.

das merkte man letzten sommer besonders in müstair, als wir im kloster zu gast waren. die nonnen bestaunten die bunte schar aus zürich und zugewandten orten, denn so etwas sehen die benediktinerinnen nicht jeden tag in ihrem kreuzgang. doch bald schon wich die freude dem ärger, waren wir doch allesamt zu laut für den würdigen ort. die chefin der sendungen hielt uns vermittelnd an, unsere arbeit vorzubereiten, im wissen um das berühmte kulturerbe, indem wir sie erledigten.

dieses jahr waren wir zusammen im bergell – arbeiten & wandern. eines war anders. nathalie fotografierte viel mit ihrem handy, sandte die bilder den geknipsten als mail oder verwertete sie für ihre facebook acount. vom möglichen aufstieg in die srf-spitze sprach sie nie; vom konvergenzprojekt, für das sie sich engagierte, indessen schon. da lernte ich einiges hinzu, denn zu beginn eines gesprächs hatte ich mit meinen totalen unkenntnissen brilliert, weil ich mir gar nicht vorstellen konnte, kulturelle radio- und fernsehproduktionen zusammenlegen zu können …

vielleicht hat sie mir auch deshalb am ende des aufenthalts in stampa einen hinweis machen wollen. zu ihrer spezialität gehört es nämlich, den gästen ein symbolisches geschenk zu überreichen. und dieses jahr erhielt ich ein feuerrotes kleinstradio mit dickem schweizerkreuz drauf, das ich flugs nach schweden mit in die ferien nahm, wo es uns, in allen sprachen, gute dienste leistete.

und so bleibt mir, liebe nathalie, dir alles gute in der konvergenten srg zu wünschen, dass man auch allen andern menschen in diesem lande, in allen kulturellen fragen, gute dienste leisten werde.

stadtwanderer

ge-schichten aus oschwand

der erstmals gemeinsam vom stadt und kanton verliehene berner literaturpreis ging diese woche an lukas hartmann, schriftsteller aus köniz. in seiner dankesrede sprach er ausgiebig über oschwand, einem unbekannten ort in der nähe von herzogenbuchsee, in dem sich die halbe europäische geschichte spiegle. das sei typisch für bern, auch, dass man das nicht wisse.

hartmann_3neuer berner literaturpreisträger lukas hartmann

“Im Blick auf diesen kleinen Ort könnte ich von Uranvorkommen erzählen, von schwarzen Perlen, von einer Hühnerrupfmaschine, vom Erdbeermareili, von milionenteuren Bildern, von der Waffen-SS, vom Berliner Theatertreffen, vom polnischen Krakau.”

denn in oschwand unterrichtete vor 40 jahren nicht nur der junge lehrer hans-rudolf lehmann alias lukas hartmann. hier begegnete er auch verschiedenartigsten menschen direkt oder indirekt, die einen bleibenden eindruck hinterliessen.

zum beispiel ein nicht namentlich genannter lehrerkollege, der 1940 wegen hitler ausriss, um als freiwilliger in der waffen-ss zu dienen; nach ostfronterfahrungen und amerikanische gefangenschaft kehrte er in die heimat zurück, um die jugend zu unterrichten.
zum beispiel cuno amiet, der bekannte solothurner maler, der 60 jahre lang in der oschwand sein atelier hatte, götti von alberto giacometti, maler aus stampa war und auch bruno hesse, dem sohn von bekannten hermann, die malerei beibrachte.
zum beispiel städter paul nizon, der gemäss seinen eigenen tagebüchern in der oschwand seinen landdienst verbrachte, und da die kraft des landlebens kennen lernte.
zum beispiel lina bögli, die hauptfigur in christoph marthalers gleichnamigem theaterstück, die schliesslich in kraukau landet, aber aus der oschwand war.
zum beispiel albert bitzius, pfarrvikar in herzogenbuchsee, der regelmässig in der gegend spazierte, um als jeremias gotthelf sein erdbeermareili im tschaggeneigraben entstehen zu lassen, der mit dem mutzgraben in oschwand identisch ist.
zum beispiel ernst glanzmann, dem wunderdoktor aus der oschwand, der daselbst sowohl seltsame schwarze perlen entdeckte, die sich als ausscheidungen von prähistorischen seeigeln entpuppten, als auch mit einem selber gebastelten geigerzähler uran auf dem gemeindebann aufspürte, und, hätte der kanton nicht interveniert, am liebsten eine kleine atomexplosion auf dem gemeindebann ausgelöst hätte.

der frühere journalist lehmann kommentierte das im berner progr so: “Sie sehen, zu welchen Abenteuern eine gründliche Recherche führt. So werden Schichten freigelegt, die zur Ge-Schichte werden, so ergeben sich Zusammenhänge, überall, und genau das ist mein Stoff – es ist der komplexe Stoff des Lebens.” genau das ist es, was der ausgezeichnete als schriftsteller macht: recherche und intuition verbinden, oder in seinen worten: “Ich finde und er-finde.”

stadtwander

alles nur wegen einer hasenscharte

dällenbach fragt den verkehrspolizisten: “darf man einen polizisten kamel nennen?” dieser verneint, das sei beamtenbeleidigung. da will kari es wissen: “darf man zu einem kamel polizist sagen?” nun ist die antwort positiv, und der scherz folgt auf den fuss: “also, gute nacht, herr polizist!”

D„llebach_Kari_281was bleibt: ein schuh, ein brief und die liebe. annermarie, als sie vom tod von dällenbach erfährt.

man lacht. obwohl man die pointe kennt. denn regisseur kurt früh hat dällenbach kari mit seinem film aus dem jahre 1970 schweizweit bekannt gemacht und ein bild des stadtoriginals aus der jahrhundertwende gezeichnet, das unradierbar in uns steckt. jedenfalls bei mir ist das. seine tochter katja früh hat nun das buch zum musical “dällenbach kari” geschrieben. moritz schneider und robin hoffman haben es vertont, und andreas gergen führte auf der thuner seebühne regie. eines kann man nach dem besuch im oberland mit bestimmtheit sagen: den charakteren der porträtierten menschen kommt man im film näher, dafür wird man im musical voll von den heftigen emotionen der traurigen lebensgeschichte ergriffen.

alles beginnt mit einer hasenscharte. kari wird dafür schon in der schule gehänselt. sein einziger kamerad ist fritz, der ihm bernische lebensweiseheiten beibringt: er sei schön und reich, kari gescheit und lustig. das sei und bleibe so. wegen einer frau geraten sich die beiden schulfreunde jahre später in die haare. fritz ist aufstrebender oberst und politiker. kari hat einen schlecht frequentierten coiffeursalon. fritz ist sein erster und bester kunde, der ihm rät, mehr unter die leute zu gehen, um sich beliebt zu machen. da lernt der scheue eine tochter aus angesehenem patrizierhause kennen und verliebt sich. doch die geisers wollen vom minderen gewerbler aus der altstadt nichts wissen, denn ihre annemarie ist schon längst fritz haeberli versprochen, dessen einfluss geld in die leere fabrikantenkasse bringen soll. als sich die drei am fest auf der allmend treffen, kommt es zum eklat. annemarie tanz mit kari. fritz kränkt seinen nebenbuhler, indem er ihn einen unnützen hasenscharter schimpft und ihn zum duell herausfordert. der kneift, verfällt freund alkohol und verdirbt im streit die liebe annemaries.

fünfzehn jahre lange verlaufen die lebenswege in der ober- und unterschicht getrennt. da macht sich annemarie an der seite von fritz gedanken, weil seine politische karriere stockt. populärer müsse er werden, genauso wie kari zwischenzeitlich mit seiner volkstümlichkeit sei. fritz zögert, geht dann in den coiffeursalon seinen ehemaligen kameraden, um sich das haar schneiden zu lassen, nicht ohne einen fotografen mitzunehmen. auch kari ist zurückhaltend, schneidet dem bundesratsanwärter jedoch ein schweizerkreuz ins haar, damit jeder sehe, dass ihm der patriotismus über den kopf hinaus wachse.

alles endet, wie es in einem drama enden muss: fritz falliert bei der wahl und stirbt bei einem autounfall. kari geht an seine beerdigung, begegnet da witwe annemarie, wobei ihre liebe zueinander wieder erwacht und sie ein paar werden. kari kann so der weinflasche und seinen saufkameraden entkommen. doch seine leber ist schon krank, und als er weiss, keine woche mehr zu leben, ersäuft er den krebs im schnaps und sich in der aare, während sich die ahnungslose annemarie die frohen farben ihrer zweiten hochzeit ausmalt. ihr bleibt nur ein schuh von kari mit abschiedsbrief, der die beerdigung mit anschliessendem essen mit hame und wein regelt, bei dem man allseits lustig sein soll.

tatsächlich lebte tellenbach karl von 1877 bis 1931. im bernischen walkringen geboren, hatte er 30 jahre lang in bern einen coiffeursalon an der neuengasse 4. weil die leute auf der strasse, selbst die kunden beim rasieren gedankenlos über seine hasenscharte lachten, scherzte der sprücheklopfer mit ihnen, um mitlachen zu können und nicht in sein inneres schauen zu müssen. schliesslich nahm sich der depressive in der nacht zum 1. august das leben.

immer wieder erwacht dällenbachs zweites leben. hanspeter müller-drossaart spielt die hauptrolle pfiffig und einfühlsam zugleich. carin lavey ist seine wunderbare partnerin, die als tochter gefällt, als ehefrau überzeugt und als liebende hinreissend ist. die bühne, auf der sie wirken, ist einfach, wie es sich für bern gehört: der zytgloggenturm ist in der mitte, und alle geschichten entstehen, indem die schauspieler aus bodenfenstern kommen und in sie wieder verschwinden. einzig ein drehbarer coiffeurstuhl und zwei tischreihen skizzieren die umgebung in der altstadt.

das stück hat längen und tempi, aufregende soli und ein mitreissendes ensemble. gelegentlich lacht man herzergreifend, doch dann könnte man vor schmerz heulen. es ist ein wenig wie auf der achterbahn! 76’000 begeisterte zuschauerInnen hatte das freiluft-musical in diesem jahr. keine der früheren produktionen auf der thuner seebühne war so erfolgreich, sodass man sich für 2011 viel vorgenommen hat: was heute samstag im berner oberland derniere feiert, wird ab kommenden frühling in zürich gastieren, um die heisskalte mischung des liebeslebens eines berner stadtoriginals mit folgenreicher hasenscharte in die limmatstadt zu zaubern.

stadtwanderer

entstand die schweiz 1291? – ein provokativer vortrag

das thema ist ernst: ist die schweiz 1291 gegründet worden? darüber werde ich ende september in thun sprechen. denn das glaubte man 1891 ganz fest und feierte den geburtstag der schweiz ausgiebig. 100 jahre später liess sich das festen nicht einfach wiederholen. nicht zu unrecht, sage ich. denn 1791 gab es gar kein gedenken an einen solche gründungstag, genauso wenig wie 1691, 1591, 1491 und 1391. was also ist sache?

Clip2

geschichte hat einen doppelten wortsinn, wie golo mann immer wieder betont hatte: es ist das geschehene in früheren zeiten und die erzählung darüber in der jetzt-zeit. geschichte ist, woran man sich später erinnert, könnte man das auch nennen. darin spiegelt sich eben nicht nur die vergangenheit, sondern auch die gegenwart.

unsere erinnerung an “1291” entstand 1891 aufgrund des wunsches der nationalen einheit. bern feierte die legendäre stadtgründung von 1191; erstmals fanden sich die alten patriziergeschlechter und die neuen bürgerfamilien zu einem festakt zusammen. die angst vor der aufkommenden arbeiterschaft liess die alten gegensätze in den hintergrund treten.

der bund nahm das zum willkommenen anlass, ebenfalls ein versöhnungsfest zu veranstalten. freisinnige und konservative, die sich im sonderbundskrieg von 1847 noch mit waffen gegenüber standen, beendeten ihren politischen dauerzwist: der erste kk-vertreter wurde in den bundesrat aufgenommen, und die volksinitiative zur partialrevision der bundesverfassung wurde auf druck der konservativen zugelassen.

zudem wurden die unterschiedlichen gedächtniskulturen wurden zusammengelegt: der fortschrittgedanke der freisinnigen mit ihrem nationalen raumdenken verband sich mit der mythologe der innerschweiz, welche die unabhängigkeit der kleinen räume von allen herrschaften seit den habsburger vögten in der tell-figur bewahrt hatte. ferdinand holder hat dieser these mit seinem tellbild den treffenden ausdruck gegeben.

allerdings wurde der geburtstag der schweiz dazu von 1307 auf 1291 verlegt. historiker wilhelm öchsli begründete die verschiebung in einem eigens für den bundesrat geschriebenen geschichtswerk, indem er der älter auffassung des humanisten ägidius tschudi widersprach, der die gründung der schweiz auf 1307 durch den bund von brunnen datiert hatte. 1891 führte das zu einem tollen fest, 1907 indessen zu einem beschämenden besuch einer kleinen bundesratsdelegation an der kleinstfeier zum 600. geburtstag der schweiz.

der (de)konstruktivismus, der im gefolge von michel foucault seinen platz in der geschichtswissenschaft erobert hat, fragt golo mann radikalisierend nicht mehr, was war, sondern warum man sich wann an was erinnert. das ist eine ideologiekritische position, welche die produktionsbedingungen von geschichte in der jeweiligen gegenwart reflektiert. ich mag das, denn es hindert einen daran, geschichte für absolut zu setzen. allerdings bin ich kein ganz grosser anhänger der daraus auch abgeleiteten beliebigkeit von geschichten, wie das die postmoderne immer wieder auch propagiert.

mein vortrag in thun, soll zeigen, wie schweizer geschichte im bewusstsein darüber, dass sie immer auch schweizer gegenwart ist, aussehen könnte. hier nur die wichtigsten stichworte dazu: die politische gleichheit von mann und frau ist in der schweizer demokratie 1971 eingeführt worden. die direkte demorkatie ist von 1874, der föderalistische bundesstaat mit bund und kantonen datiert von 1848. moderne ideen begründeten 1798 die helvetische republik, die sich von vormaligen ancien regime so klar unterschied. 1648 wurde die eidgenossenschaft reichsunabhängig, und 1499 erkämpften sich die schlachtenbummler der verschiedenen orte ihren autonomen status im kaiserreich. davor war man rund 100 jahre kräftig (zusammen) gewachsen, denn war im mittelalter war, kann kaum als schweiz bezeichnet werden.

wer gar nicht an eine gründung der schweiz glaubt, der sieht sie entstehen und an ihren konflikten wachsen, wie dem waldsterben 1984, dem generalstreik 1918, der liberal-radikalen bewegungen nach 1830, der reformation von 1528 und dem investiturstreit 1076. denn die schweiz ist eine produktive verarbeitung von regionalismen, von religionsspaltungen, von ideologien, von sozialen auseinandersetzungen und von ökologiedebatten.

ich mache es klar: mit meinem vortrag zum fulehung will ich vor dem mittelalterverein thun die these begründen, dass die schweiz nie wirklich gegründet worden ist, sondern aus den gegengebenheiten heraus entstand. sie ist keine digitalfoto, die sekundengenau datiert werden kann, sondern ein farbbild, wie man es früher im wasserbad entwickelt hat. und: immer mehr fällt das licht der gegenwart in die dunkelkammer der vergangenheit, ohne dass es immer gleich scheinen würde. deshalb ändert sich auch die geschichte der schweiz von zeit zu zeit.

wohlan!

stadtwanderer

ps:
eine übersicht über all meinen vorträge bis ende jahr gibt es hier!

wissenschaft, futurologie, geschichte und literatur – und wie das alles zusammenhängt

kann man in der gegenwart die zukunft mit wissenschaftlichen mitteln erkennen? vielleicht oder teilweise, antworte ich und füge bei: man kann in der geschichte die fakten und in der literatur die zusammenhänge sehen, die einem sonst entgehen.

das buch der zukünftigen zukunft
diesen sommer hatte ich (unter anderen) zwei ähnliche, wenn auch ungleiche bücher im ferienreisegepäck. das erstes heisst “Die nächsten 100 Jahre“. verfasst hat es der amerikanische politikwissenschafter george friedman, seit 1996 leiter des privaten instituts “stratfor”, das für regierungen, armeen und medien die (amerikanische) zukunft analysiert.

9783593389301_png_6637360friedman nennt drei überragende momente für das 21. jahrhundert, die ihn optimistisch stimmen: die anhaltende macht der usa, das ende der bevölkerungsexplosion und die neuen energien aus dem weltall. das krisengerede der gegenwart in der angelsächsischen welt mag er gar nicht hören. über den islam spricht er auch nicht gerne. chinas wirtschaftsmacht reicht in seiner einschätzung vielleicht an die japans, aber nicht amerikas. sie werde soweiso an ihren eigenen widersprüchen zerbrechen, ist er überzeugt. dafür sieht er zwei andere staaten aufkommen: die türkei, welche den europäischen kontinent, insbesondere deutschland einnehmen werde, und japan, das den usa den krieg erklären werde. nicht im pazifik werde der stattfinden, sondern im weltall – und von den vereinigten staaten von amerika gewonnen werden. das werde den usa die weltherrschaft sichern, deren grenzen nicht aussen-, aber innenpolitisch begründet seien: der spanisch geprägte südwesten der usa, der erst spät von mexiko zu den usa kam, sei das grösste pulverfass des landes, an dem es auch auseinander brechen könne.

wenn man das so liest, ist man zunächst beeindruckt. denn dem autor gelingt es, sich nicht vom kräuseln der ereignisse an der medialen oberfläche der ist-zeit einnehmen zu lassen. anders als seine kollegen argumentiert er auch nicht mit ökonomischen zyklen. vielmehr sucht er nach den ganz langen wellen, die den gang der geschichte sicherer fassen als alles ander. und dennoch bleibt man skeptisch. denn friedman glaubt, dass es nur ein zukunft, nämlich die der usa, gibt, die man erkennen, indessen nicht wirklich beeinflussen kann. das kommt bei seinen kunden sicher gut an, doch nichts belegt, dass es so kommen muss.

das buch der vergangenen zukunft
an die erkennbare zukunft glaubte vor präzise 100 jahren auch der deutsche journalist arthur bremer. 22 seiner zeitgenossInnen forderte er auf, aus damaliger sicht über die zukunft zu schreiben. nicht so global, wie es friedman heute macht, sondern fein säuberlich in lebensbereiche aufgeteilt – über die zukunft des krieges also, jene des friedens, der frauen, der arbeiter, der religion, des soziallebens, der erziehung, der literatur, des theaters, der musik, der kunst, des sports, der medizin und der weltuntergänge. alles zusammen ergab das die vielzitierte anthalogie “Die Welt in 100 Jahren“.

03636717nwenn man mein zweites zukunftsbuch im ferienreisekoffer aus heutiger sicht liest, gibt es sicher ein schlüsselmoment: vorausgesagt wird, dass 2010 das telefon, damals in der ersten oder zweiten generation, drahtlos in der westentasche versorgt und somit auch überall mitgenommen werden könne, um sich jederzeit zu informieren und mit allen mitzuteilen …

bingo! könnte man nun rufen und glauben, die entwicklung von sachen wie dem handy liesse sich genau vorhersehen. doch auch dieser schein trügt. denn das gegenbeispiel wäre die erdbeere, die in brehmers buch in einem jahrhundert anwächst wie orangen, weil sie so mehr ertrag abwirft. das mag es heute in den laboratorien der gentechnologen geben, eine verbreitung wie die mobile telefonie hat sie nicht gefunden.

das ist es also nicht, was das genre auszeichnet. denn seine stärke liegt nicht in der prognose von ereignissen, sondern in der einsicht von zusammenhängen. editor georg ruppelt, der ein sensibles vorwort zur neuauflage des bestsellers von 1910 verfasst hat, insistiert denn auch auf die treffsicherheit der vorausschau bezüglich des entscheidenden zusammenspiels von technik, politik und gesellschaft in brehmers werk – oder plakativ gesagt, auf die bedeutung des fortschritts für die entwicklung des menschen und seiner gesellschaften.

getrieben wird dieser fortschritt beispielsweise durch die elektrizität, die in vielen lebensbereichen vorteile bringt, sich deshalb auch durchsetzt und dabei die an die möglichkeiten der produktion stösst, sodass der fortschritt zwischen technischen innovationen und zivilisationskritik oszillieren, die sich trotz faszinierenden neuentwicklung mit endlichkeit unserer ressourcen beschäftigt.

kurzfristig stimmte vieles von dem, was brehmer 1910 veröffentlichte, nicht. statt völkerverbindendem luftverkehr, politischer einigkeit, reichtum für arbeiter und der emanzipation für frauen, gab es 1914 den grossen krieg. die nationen europas brachen gegeneinander auf, die frauen wurden an den herd und in die fabriken geschickt, ohne rechte zubekommen, und die werktätigen männer mussten an die front, wo sie, wie noch nie in der weltgeschichte, als kanonfutter auf den schlachtfeldern der zerstörung starben. sie auch der aussagekräftige buchillustrator brehmers, ernst lübbert.

die sozialisten leisteten mit ihren revolutionen zwar einen betrag zum ende des krieges, doch entstand damit nicht demokratien, sondern volksrepubliken, die während siebzig jahren um die vorherrschaft in der welt kämpften, ohne sie zu erreichen. und um den inhaber genau dieser langfristigen globalen macht als treiber der geschichte geht es bis heute in den zukunftsschauen, die es immer wieder wert sind, gelesen zu werden.

die bücher über zukunft heute und gestern im vergleich
eines ist mir bei den lektüren diesen sommer klar geworden: die soziale futurologie, die zukunftsoptimisten wie friedman verbreiten, gibt es nicht wirklich.

sicherer sind zukunftstrends für 10, 30 vielleicht auch 50 oder 100 jahre, die in der energieversorgung, verkehrspolitik, infrastrukturwicklung oder im stadtbau ihren stellenwert in planung, entwicklung und distrubution von gütern und dienstleistungen haben. doch dabei bleibt es in allen wissenschaftlich-technischen ableitungen aus den möglichkeiten der gegenwart.

die geschichte ist keine rückwärts gewandte prophetie, wie es der philosoph friedrich schlegel formulierte. und ihre umgekehrung ist auch keine vorwärtsgerichtete geschichtserzählung, wie ruppelt schreibt. denn geschichte beschäftigt sich immer erst im nachhinein mit dem, was war. was wir, auch was hätte werden können, ist und bleibt die aufgabe der freieren literatur. diese kunstform macht uns klar, was jenseits von fakten die wesentlichen zusammenhänge sind, welche auch die gegenwart im strom der veränderungen erscheinen lassen.

stadtwanderer

schweizer gemeinsinn – schweizer gegensätze

über das making of … dieser sendereihe habe ich schon mal berichtet. jetzt kann die zweite staffel der “sternstunde geschichte” am schweizer fernsehen angezeigt werden.

der apéro an den kommenden vier sonntagen wird anspruchvoll. jeweils von 11 bis 12 wird eine weitere ausgabe der sternstunde geschichte gesendet. das übergeordnete thema heisst diesmal “schweizer gemeinsinn – schweizer gegensätze”.

wie schon vor jahresfrist moderiert roger de weck die sendungen. ihm zur seite sitzen in jeder ausgabe thomas maissen und … der stadtwanderer! darüber hinaus hat jede sendung eine spezialistin oder einen spezialisten zum thema, über das debattiert wird, als gast.

Sternstunde-Geschichte-vom-29_8_2010-Der-Schweizerinnen-und-ihre-Schweizer_na_normaldie schweizerinnen und ihre schweizer.
eingeladene ist die spezialistin, regina wecker, emeritierte professorin für frauen- und geschlechtergeschichte an der universität basel (29.8., verschiedene aufzeichnungen ab dem 31.8.)

Sternstunde-Geschichte-vom-5_9_2010-Der-Freisinn-und-seine-Gegner_na_normalder freisinn und seine gegner.
eingeladen ist der ebenso bekannte wie streitlustige urs altermatt, emeritierter professor für zeitgeschichte an der universität fribourg (5.9., verschiedene aufzeichnungen ab dem 7.9.)

Sternstunde-Geschichte-vom-12_9_2010-Nationale-Souveraenitaet-und-internationale-Verflechtung_na_normalnationale souveränität und internationale verflechtung.
eingeladen ist jakob tanner, häufig kontrovers diskutierter professor für wirtschafts- und sozialgeschichte an der universität zürich (12.9., aufzeichnungen ab dem 14.9.)

Sternstunde-Geschichte-vom-19_9_2010-Die-Deutschschweizer-und-die-anderen_na_normaldie deutschschweizer und die andern.
eingeladene ist die junge,sprachgewandte historikerin simona boscani leoni, forscherin über alpengeschichte an der universität lugano (19.9., aufzeichnungen ab dem 21.9.)

aufgenommen wurden alle sendungen im juli im palazzo castelmur ausserhalb von stampa. für das erste thema wurde im etwas finsteren schlossgang, eingerahmt von rüstungen, ausgewählt. das zweite fand im leicht pompösen schlosssalon statt, das dritte in der superengen bibliothek, und die vierte thematik besprachen wir bei sommerlichen temperatur unter bäumen im schlossgarten.

so wird dieses einmalige gebäude an der passstrasse durchs bergell von allen seiten ins bild gesetzt. – ich hoffe, dass uns das auch mit den angesprochenen ausführungen zum grossen thema zwischen eid- und kampfgenossenschaft der fall sein wird.

stadtwanderer

von bösen mannen und guten frauen im diemtigtal

kurz vor vier wurde klaus unruhig. er ging zu seinem roten opel, um das radio anzuknipsen. denn der stand der dinge am eidgenössischen schwing- und älplerfest in frauenfeld interessierte ihn. als er zurück kam, konnte er die frohe botschaft verkünden. mit kilian wenger war, erstmals seit 18 jahren, wieder ein berner festsieger. und das schon vor dem schlussgang; dieser würde nur noch entscheiden, ob der horbodener für drei jahre auch den titel eines schwingerkönigs tragen dürfe.

P8221415fröhliches beisammensein der spinngruppe frienisberg (mit anhang) hoch über dem diemtigtal, während sich der horbodner kilian wenger zum neuen schwingerkönig vorarbeitet (foto: stadtwanderer)

wengers horboden lag uns, tief unten im tal, zu füssen. hinter uns war der niesen. mit seinem breiten rücken war er sich vorbild für den 20jährigen kilian, als er noch davon träumte, einmal der böseste unter bösen männern in der schweiz zu sein. doch nicht wegen ihm und seinesgleichen waren wir heute im diemtigtal. vielmehr hatten die besten unter den guten frauen geladen.

greti, rösli, sonja, silvia und bärbi, die spinngruppe frienisberg, hatte diesen frühsommer mit ihrem auftritt am mühlenfest in der hofen-mühle zu wohlen organisatorin regula baumgartner grosse freude bereitet. zum dank lud die bäuerin ihre frauen, samt anhang (zu dem ich unter anderen gehörte), auf ihre alp hoch über dem diemtigtal ein.

seit 1920 ist die alp ob horboden im famlienbesitz der baumgartners. 15 ha gross ist, erzählte bauer klaus. genauer gesagt seien es eigentlich 24 kuhrechte, die man hier oben für viehsömmerung besitze. 1 kuhrecht entspricht 100 tage weidezeit einer kuh während des sommers. effektiv haben die baumgartner dieses jahr keine kühe auf der alp, sondern rinder, und weil die etwas weiniger gras fressen, können sie 120 tage weiden. transportiert wurden sie die 66 kilometer lange strecke im frühling von bümpliz nord mit der eisenbahn nach oey, an der abzweigung des diemtigtales von simmental, von man früher in einem sechsstündigen aufzug auf die alp ging, während sie heute mit dem viehtransporter bis vor ihre hütte gebracht werden.

2005 war ein sturmjahr im diemtigtal, sodass wälder und hänge die bäche hinunter ins tal stürzten. das traf auch die baumgartners. zudem wütete der borkenkäfer, weshalb die alpweiden rund herum nur noch wenige bäume haben. und genau das machte den spaziergang bis auf die bruni-alp an einem tag wie heute besonders heiss. dafür wurden wir auf dem hof von res und barbara freudig überrascht. in der einfachen küchenstube ihres heimetli sass flurina, die erst einige monate alte tochter in einer tragwiege auf der treppe und staunte fröhlich über den zahlreichen besuch, der kiloweise hobel- wie auch raclettekäse aus der produktion ihrer jungen eltern einkaufte.

während unserer wanderung hatte klaus das feuer angelegt, sodass wir bei der rückkehr gleich mit dem bräteln beginnen konnten. verschiedenste salate und kuchen wurden dazu serviert, und zum abschluss gab es frisch aufgegossenen kaffee, verfeinert mit milch oder bäzi aus bernerrosen. gemütlicher hätte das treffen der gruppe zwischen 49 und 94 jahren nicht sein können, was auch die spinnerinnen inspirierte, den nächsten auftritt am erntefest in roggwil mit grosser umsicht zu anzugehen, derweil sich ihre “anhänger” bereits auf die nächste einladung freuen.

auf der rückfahrt nach bern hörten wir selbstverständlich wieder radio drs, um beim schlussgang in frauenfeld direkt dabei zu sein. kilian wenger brauchte ein unentschieden, einen gestellten, wie das in der fachsprache heisst, um schwingerkönig zu werden. sein herausforderer, martin grab, wusste, dass er gar nicht mehr festsieger werden konnte, einzig bei einem sieg die krönung des königs verhindern konnte. der 20jährige diemtigtaler, mit ebensoviel ruhe und übersicht, wie wir es heute gehabt hatten, an, ohne wirklich in die defensive zu geraten und griff, nach 10 minuten kampfzeit, heftig durch, um seinen widersacher zu bodigen. den muni, traditioneller siegespreis, will der neue könig übrigens nicht, das geld dafür schon.

der böse mann des tages stand fest, die guten frauen ebenfalls …

stadtwanderer

“e=mc2” und was daraus wurde.

ich weiss nicht, ob die reihenfolge auch eine rolle spielt. dann wäre der “stadtwanderer” viertbesserter schweizer blog. auch ohne das rangiert er in der top ten der schweizer blogs, wie die “Neue Luzerner Zeitung” diese woche schrieb.

einstein_rad_63ad6592cb“ein wenig schrägt ist es das bloggen schon, aber man kommt vorwärts, gerade wenn die lebenskurven mal einen engen radius haben (o-ton stadtwanderer)”.

simon künzler, dozent für online-kommunikation an der hochschule luzern, sieht es richtig: ausdauernde blogger prägen die szene. 2006 wurde sie auch in der schweiz rasch gross. wirklich gewachsen ist sie seither aber nicht mehr. denn viele blogs sterben im kleinstkindalter. doch wer das übersteht, hat gute chancen, sein publikum zu finden.

der stadtwanderer begann vor bald 5 jahren mit einer kleinen erzählung über den ort, wo albert einstein in bern seine berühmte formel e=mc2 erfand.
bald schon folgten die ersten kommentare, die freude machten. und die nutzungszahlen begannen zu steigen. was ich nicht erwartet hätte: sie tun das immer noch! 2000 besuche habe ich an den besten tagen zwischenzeitlich. 500 in 24-stunden rhythmus sind schon normal.

zwischenzeitlich weiss mein ganzes umfeld, dass ich über das urbane leben blogge, manchmal um das neue zu zeigen, manchmal auch um es im ruralen zu spiegeln. ich habe damit gerechnet, dass gegenwartserlebnisse mit promis ziehen, und kritischen einwürfe zur jetzt-zeit zählen, nicht aber, dass meine historischen exkurse einen solche zuspruch finden würden, buchbesprechungen genauestens beachtet werden, oder der stadtwanderer bis in fernsendungen ausstrahlen würden.

ich freue mich jedesmal, wenn ich auf den strassen berns, bisweilen auch anderswo, höre: “so, sind sie jetzt am stadtwandern.” oder: “toll, deine ferien im norden, ich war jeden tag dabei.” oder: “ich habe mir eben die metropolen des geistes gekauft.”

hier die laudatio für die top ten der schweizer blogger-szene gemäss “nlz”:

“Swiss-Miss.com: Der Blog von «Swiss Miss» Tina Roth Eisenberg, Schweizer Designerin in New York.
Leumund.ch: Der sehr beliebte Blog von «Leumund» Christan Leu mit verschiedensten Themen.
Bloggingtom.ch: Der umtriebige Vielblogger mit einer bunten Palette an Tests, Selbstversuchen, Tipps und Tricks. Überraschend!
Stadtwanderer.net: Unter dem Pseudonym «Stadtwanderer» schreibt der bekannte Meinungsforscher Claude Longchamp über urbane Erlebnisse. So
ambitioniert wie ausführlich.
Chic-und-schlau.ch: Dieser Lifestyle-Blog der 20-jährigen Mirjam Herms hat sich etabliert. Nicole Richie würde jubeln.
Apfelblog.ch: Ein Webdesigner berichtet über die neusten Entwicklungen rund um den angeknabberten Apfel. Der Blog der Apple-Aficionados.
Chliitierchnübler.ch: Eine Solothurner Tierärztin über ihre skurrilsten und spannendsten Fälle. Sehr herzlich, sehr privat.
Dieangelones.ch: Ein Blog über die kleinen Abenteuer der Secondofamilie Angelone. Untertitel: «Pasta, Fussball und Amore.»
Pixelfreund.ch: Ein «digitaler Nomade (O-Ton), der über das Internet bloggt. Eher für Experten.
Blogug.ch: Statistiken und Ranglisten zur Schweizer Blogosphäre.”

stadtwanderer

das wort, das geld und die macht

“der einzige mist, auf dem nichts wächst, ist der pessimist.” christoph neuhaus, zuständig für justiz, gemeinden und kirchen im berner regierungsrat, der dies mit amüsement sagte, sprach heute in lockerer form vor den teilnehmerInnen des ersten kurses für gemeindepolitikerInnen in seinem kanton.

P1010577regierungsrat christoph neuhaus, rechts, befragt im kurs für gemeinde- politikerInnen des berner zentrums für wirtschaft.

zahlreiche fragen aus dem kreis der teilnehmenden an den prominenten gast berührten fusionen, ja zwangsfusionen von gemeinden. der berner regierungsrat legte zuerst die zahlen offen. rund 100 gemeinden seinen in gesprächen über zusammenschlüsse. mal gehe es darum die vorteile aufzuloten, mal lege man die gemeindeverwaltungen zusammen. eher selten gehe es um die finanzen, mehr um die angst vor identitätsverlusten.

die berner regierung hofft, bis 2017 die zahl der gemeinden von heute 388 um rund einen viertel auf knapp 300 reduzieren zu können. erwartet wird, dass die verwaltung professionalisiert werden und dass so das nötige personal für die ämter gefunden werden. litten früher vor allem die kleinen gemeinden unter solche problemen, seien die schwierigkeiten heute in mittelgrossen gemeinden am grössten.

neuhaus machte keinen hehl daraus, dass er vom gesamtregierungsrat unter druck stehe, und dieser auf vorgaben aus dem grossen rat reagiere. fdp und sp seien die parteien, die in dieser frage vorausgingen, und die mehrheit bildeten. seine partei – wie auch er – hätten eher zu rückhaltung gemahnt. er akzeptiere die vorgaben, werde bei anwendung von zwang indessen vorsicht walten lassen. das entspreche nicht seinem verständnis von politik. vielmehr setze er auf überzeugungsarbeit, was ihm auch näher liege.

aus den reihen der interessierten zuhörerInnen reagierte man mit vorschlägen für einen dritten ansatz: mit anreizen, wie das andere kantone auch machen würde. denn das würde es befürworterInnen von kooperationsprojekten erleichtern, entsprechende projekte zu lancieren. von dieser anschubfinanzierung würden auf die dauer alle profitieren.

in der tat, füge ich, verantwortlich für politische theorie in diesem kurs bei: die macht, das geld und das wort gelten als die drei wichtigsten lenkungsgrössen in der politik. sie setzen auf kommunikation, an- und abreize sowie auf hierarchien, wenn es darum geht, entscheidungen, die getroffen worden sind, umzusetzen.

ach ja: ich habe die grundhaltung des regierungsrates durchaus geschätzt, denn er wirkte durchaus wie ein optimist. womit ich nicht gesagt habe, dass auch auf diesem mist nichts wächst!

stadtwanderer

über einen geistigen vater des bundesstaates in luzern referieren

eingeladen am lehrstuhl für politische philosophie an der universität luzern, hielt ich heute im rahmen des kurses “philosophie im management” einen gastvortrag zum thema “politik-öffentlichkeit-medien”. bei einigen schritten in der lauschigen reussstadt habe ich mich des einzigen lokalen politphilosophen erinnert, der wesentliches zum werden des bundesstaates von 1848 beigetragen hat: ignaz troxler.

220px-Troxler_Portrait_1830die jüngst erschienen biografie, verfasst von daniel furrer, nennt troxler einen “Mann mit Eigenschaften”. in der tat war troxler ein früher und führender liberaler, der überall, wo er auftrat, aneckte.

1780 in beromüster geboren, schloss er sich noch während seiner zeit als gymnasiast den patrioten der helvetischen republik an, und wirkte er in luzern als vermittler zwischen franzosen und dortigen gemeinden. angewidert vom opportunismus vieler seiner zeitgenossen, quittiert er jedoch schon im zweiten jahr seinen dienst, um nach jena, später auch göttingen zu gehen, wo er gleichzeitig ein studium in philosoph und medizin bewältigte. dabei lernte er namentlich friedrich schelling kennen, den führenden philosophen nach dem tode kants und vor dem aufstieg hegels, dem er sein leben lang mehr oder minder verbunden blieb.

nach seinen studien wirkte troxler in der schweiz, namentlich in beromüster und aarau als arzt und lehrer, heiratete er wilhelmine polborn, prangerte er die gesundheitszustände in seiner heimat an, wurde er ausgewiesen, erhielt er angebote für professuren in deutschland, schrieb er pamphlete gegen die herrschenden, wurde er gar gefangen genommen, und musste während seinem unsteten leben den tod zweier seiner kinder erleben, bevor sie ins erwachsenalter gekommen wären.

doch dann beginnt troxlers aufstieg als professor, wird er doch 1819 ans luzerner lyzeum berufen, und avanciert er zum präsidenten der helvetischen gesellschaft. den einheimischen konservativen viel zu liberal, macht man ihm jedoch schon bald den prozess, wird er bespitzelt, bis er nach aarau, später freiburg im breisgau wechselt. wo er sich zum politischen philosophen wandelt. er studiert die amerikanische verfassung und erkennt in ihr das vorbild für eine neuordnung der schweiz. eine grosse bundesreform mit kantonen in einer gemeinsamen nation ist sein neues ziel.

parallel dazu schreibt troxler wissenschaftlichen abhandlungen, die ihm den weg zu einer professur an der basler universität eröffnen. da wird er fast umgehend rektor, gleichzeitig aber verdächtigung laut werden, der anführer der aufständischen landschäftler zu sein. man verbietet ihm, die stadt zu verlassen, stellt ihn gar vor gericht, wo er jedoch mangels beweisen freigesprochen wird. sofort flüchtet er, verliert er dadurch aber auch seine anstellung. im aargauischen freiamt wird der umgehend gefeierter grossrat des kantons.

1834 gründet troxler den nationalverein, dessen satzungen er selber verfasst, und nimmt er den ruf als professor für philosophie an der neuen universität bern an, wo er sich namentlich mit dem wachsen der schweizerischen verfassungen beschäftigt. immer mehr überholt ihn jedoch die reale politik, und auch die studenten entfernen sich schritt für schritt vom ihm, denn seine parteinahme für die katholiken in der konfessionalisierung der inneren polarisierung wird ihm von den fortschrittlichen kräften nun schwer angelastet.

1848 erscheint troxlers wichtigste politische schrift, nun stark gemässigt, mit der er nochmals die verfassungen der vereinigten staaten von amerika zum vorbild für den schweizer bundesstaat propagiert. seine grosse idee findet nur wenige wochen nach erscheinen des bandesd ihren niederschlag in der ersten bundesverfassung der schweiz, mit der ein politischer kompromiss zwischen liberalen und konservativen ideen wenigstens institutionell gesucht und gefunden wird, der von dauer sein sollte.

einer der geisten väter, ignaz troxler, zieht sich bald danach aus dem öffentlichen leben zurück. als schelling, ebenso wie troxler vereinsamt, während einer kur in bad ragaz stirbt, organisiert er dessen letzte ruhe auf dem örtlichen friedhof. seine frau stirbt vor ihm, er selber ruht seit den ersten märztagung 1866 in aarau.

um troxler, dessen leben mit den wirren des übergangs vom ancien regime zum bundesstaat fast deckungsgleich ist, dessen wirken als arzt vor allem von rudolf steiner und den antroposophen aufgenommen wurde, wurde es danach sowohl in der philosophie, dem staatsrecht und der politik, die er alle mitgeprägt hatte, merkwürdig still. ich glaube, keiner der studierenden, wohl auch nicht der dozierenden, die mir heute in luzern zugehört, kannten die geistigen mitbegründer des schweizerischen bundesstaates wirklich. bingo!

stadtwanderer

mauluege …

eine komische stimmung war das heute über mittag im bundesbern. kurz vor der essenszeit macht in bern die runde, alle medienkonferenzen des bundes, die für morgen vormittag terminiert waren, seien abgesetzt worden. ein so unüblicher vorgang stellt die frage nach tieferen grund.

normanrockwell

spekulationen schossen bald schon ins kraut. mindestens drei sind mir bis zum zweiten expresso zu ohren gekommen.

die erste lautete: micheline calmy-rey erkläre heute ihre rücktritt. grund sei der libyenbericht der gpk, der wegen ihren forderungen zu militäreinsätzen für die linke aussenministerin sehr, sehr kritisch ausfalle. einer abrechnung namentlich durch fdp-kreise komme sie zuvor, indem sie klein beigebe. die sp habe gezögert, denn eine doppelvakanz berge risiken in sich; sie habe aber den vorteil, dass bei den anstehenden bundesratswahlen die kombinierte geschlechter/sprachregionen-vertretung getausch werden könne. inskünftig komme die frau aus der deutschsprachigen schweiz, der man aus der französischsprachigen.

die zweite ging so: die ausgelöste dynamik im bundesrat habe zur frage der neuen departementsverteilung geführt. eine einvernehmliche lösung zeichne sich nicht ab, weshalb man über die departementsgliederung diskutiert habe. neu werde es ein bildungsdepartement geben, während das justiz- und polizeidepartement ganz aufgelöst werden solle. die polizei gehe an ein neues sicherheitsdepartement, während die justiz zum inneren wechsle, das den ganzen bildungskomplex verliere. treibende kraft sie eveline widmer-schlumpf, die so zwangsläufig wechseln müsse und am liebsten die finanzen übernehmen würde.

die dritte hiess: dem bundesrat liege ein antrag zur europaklausur von heute vor, das ende des bilateralen weges festzustellen, weil die eu daran kein interesse habe. im sommer habe man erfahren, dass die bilateralen nur mit der bedingslosen übernahme des acqui communautaire aufrecht zu erhalten seien, ohne aber die veränderungen dem schweizer referendum unterstellen zu können. deshalb werde der bundesrat heute nüchtern blanzieren, das komme einer aushölung der direkten demokratie gleich, die man nur mit einer veränderten position in der europafrage umgehen könne. ein eu-beitritt komme nicht in frage, eine neuauflage der ewr-diskussion indessen schon.

vielleicht, sage ich da, ist das ausdruck der spannungen, die im sommer durch bundesratsrücktritte, regierungsreform und europadebatte entstanden sind. fährten gab es in letzter zeit für alle drei ausführungen. und der wunsch, in der brisanten zeit noch etwas anzuheizen, mag die stimmung erzeugt haben.

mauluege füge ich bei, denn spätestens morgen wissen wir mehr …

stadtwanderer

musikalische fröhlichkeit auf hartem pflaster

bern ist entspannt, lebendig und musikalisch – denn es ist buskerszeit.

P1010565
der auftritt von hudaki village band am berner buskersfest von oben …(foto: stadtwanderer)

selten sieht man so viele schöne menschen zwischen dem zytgloggenturm und der kreuzgasse, wie wenn – seit 2004 immer mitte august – das berner buskersfest den übergang zum hoch- zum spätsommer markiert.

denn zahlreiche stadtbewohnerInnen und fans von bern sind aus den sommerferien zurück, etwas braun gebrannt vielleicht, anders gekleidet und in die alte liebe verliebt – wie ich! und so flanieren sie, wie bärbi und ich, entspannt in berns gassen. da wird man gegrüsst, hier schwatzt man ein wenig, während andere sich scheu, aber sichtbar aus der ferne fragen, ob man wirklich der oder die sei wie man meine.

viel zum ausgelassenen ambiente trägt die musik bei. bisweilen so laut, das man sein wort nicht mehr versteht, bisweilen so eintönig, dass man nicht stehen bleibt. weder das eine noch das andere ist indes bei der hudaki village band der fall, unseren favoriten des abends. am unteren eingangstor zum berner rathaus haben sie sich aufgestellt: 4 musiker, alle länglich-schlank und 2 sängerinnen, eine fesch, die andere käch aus nischnje selischtsche in den ukrainischen karpaten bilden die truppe. wenn sie loslegt, sammeln sich die interessierten zu einer menschentraube im halbrund, wie wir von oben auf der treppe zum rathaus beobachten können. die vorderste reihe sitz schon mal am boden, hat die schuhe ausgezogen, während man im zweiten glied klappstühle und ein risotto vom stand nebenan mampft. in den hintern reihe recken sich die körper, den man will nicht nur hören, man will auch sehen, was und wer da spielt.

wenn die gruppe zu musizieren anfängt, ist es, wie wenn sich ein auto in einem schlag von null auf hundert steigert – nur viel sinnlicher. bald schon wird man teil des rhythmus’, den einen ostwärts trägt, aufs land hinaus verführt. szenen einer bauernhochzeit werden wach,man erlebt die geburt eines kindes in die dorfgemeinschaft mit, oder spürt die trauer, wenn sich ein mensch für immer vom irdischen leben verabschiedet hat. freude und trauer mischen sich in elementarer weise, wenn das cimbal zirpt, die geige klagt, die klarinette kitzelt, die paucke dröhnt. bisweilen spielen sie zusamme-allein, bisweilen singt frau dazu, und hie und da hallen die stimmen der musikerInnen ganz ohne unterstützung durch die stadträume.

wir haben es genossen, die vielen stände mit leckereien aus dem tibet, thailand, südamerika, der karibik oder afrika zu beschnuppern. wir haben die szenenkünstler bestaunt, die uns auf dem müsterplatz die zukunft vorhersagen oder uns den panarchismus näherbringen wollten. und wir haben alle geklatscht, als bauersleute einen traktor bestiegen, den anhänger mit sich und die gassen mit ihrer musikalischen überschwänglichkeit füllten.

denn an diesem abend wurden alle zu fröhlichen gemeinschaft auf dem sonst so harten pflaster berns.

stadtwanderer

das warten hat lange gedauert – doch ist der genuss umso grösser

worüber soll ich zuerst schreiben? – über das langsame pils im berner “della casa” oder über das neueste buch von regula stämpfli? am besten schreib ich gleich über beides.

P1010548aein doppelter genuss … (foto stadtwanderer)

“Aussen Prada – innen leer?” heisst das neueste buch regula stämpfli (wort) und friedel ammann (bild). ihr thema in wort und bild ist die moderne sklaverei, welche die konsumgesellschaft erzeugt, die werbung steigert und das design perfektioniert. denn all das schafft zwänge und kreiiert illusionen, die das leben normieren, die menschen bornieren, bis sie tot sind. insbesondere die männer und pamela anderson.

reden kann regula stämpfli. selbst rhetoriklehrer nehmen sie mittlerweile zum vorbild. das schreiben liegt ihr auch, ihre göttlichen einwürfe in radio-sendungen, tv-talks und zeitungsspalten finden regelmässig ihr publikum.

gut, bisweilen textet sie auch. fast wie eine werberin, möchte ich sagen. nur besser, würde sie postwendend erwidern und lachen.

denn an selbstbewusstsein mangelt es ihr nicht. weshalb sie ihr büchlein für den nachttisch auch “Ein philospohisches Kaleidoskop” nennt. mit letzterem bin einverstanden, mit ersterem nicht. selbst wenn ein literaturverzeichnis mit geistesgrössen von hannah arendt bis paul watzlawik als referenzen angefügt sind. immerhin, ihre gesammelten kolumnen lesen sich, auf 100 seiten zusammengefasst, klar besser als die 38 bände der gesammelten werke von marx und engels.

am besten finde ich das buch, wenn die “nervensäge aus brüssel” (nzz), seit neuestem auch “kommunikatorin des monats” (schweizer werbung) provoziert und nicht doziert. dann ist sie nämlich nicht einfach gescheit, sondern einfach echt. ihr grosses herz wider ungerechtigkeiten schlägt dann in jeder ader ihrer ganzen subjektivität, während ihr kopf mit der objektivität offensichtlich auf kriegsfuss steht.

so kommt ihre ironie kommt denn auch bei den fachkollegInnen in geschichte, politologie und philosophie mehrheitlich nicht gut an. derweil ihr witz im polemischen journalismus hoch im kurs ist. obwohl sie nicht selten genau den zerfall der politischen berichterstattung geisselt.

möglicherweise bin ich pate gestanden für die (nicht ganz neue) glosse über den “fleischgewordenen teleprompter”. denn da zieht sie über die demoskopie-demokratie mit ihren tabellen, kuchengrafiken und kurzkommentaren so wild vom leder, dass sich selbst kulturkritiker moritz leuenberger eine grosse scheibe davon abschneiden könnte.

von stämpfli selber sind die dem buch beigefügten aphorismen unterschiedlicher qualität. gefallen hat mir “Prominenz erschlägt Kompetenz auf jeden Fall”, den die medienfachfrau die ja selber eine medienfrau ist, scheint zu ahnen, wovon auch sie lebt. weniger gefallen dürfte den vereinigten akademien von europa ihr bonmont: “Ein Klischee ist doof, Hundert ergreifend, Tausend wissenschaftlich.” denn man wir einmal mehr unzulässige vereinfachung und anpassung an die medienerwartungen entgegenschmettern. hübsch ist wieder, “Der Ausdruck Medien-Demokratie erinnert mich an ein Krokodil, das Vegiburger frisst”. Die drei jungs der mutter, die ihren mann längst stellt, werden ihr die das sinnbild danken.

gedankt hat stämpfli sicher auch illustrator ammann, der keine einfache aufgabe hatte, den berg an einfällen in den meist einseitigen texten in klar begreifbare weltanschauungen zu übersetzen.

“Aussen Prada”, höre ich regula an dieser stelle ausrufen! ist das wieder alles, was dir männchen von der lektüre bleibt?

“Innen leer?” ist das buch wirklich nicht, kann man erwidern. am schönsten beobachtet ist die geschichte zur “Autowerdung des Menschen”, wo es um renault-werbung geht, die sie wörtlicher und bildlicher nimmt als die hersteller und ihre propagansten. denn “auto” ist das “selbst”, das da schon mal kauft wird, und die menschen sind die teilchen, die sich in die maschine zu fügen haben. toll entlarvend ist auch, wie sie unter dem titel “geistesblitz eines toten fisches” über pseudoexperimente berichtet, mit denen mediziner in postmodernen beliebigkeit etwas belegen können, das gar nicht sein kann, ohne dass ihnen jemand widerspricht. denn in solche erzählungen trifft sie nicht nur den zeitgeist, sie diskreditiert auch die oberflächen der permanenten stimmungmache. am prägnantesten zusammengefasst hat sie das im artikel, der dem buch auch den titel gab.

und so kann ich nur einen schluss ziehen: auf dieses buch von regula stämpfli hat man lange warten müssen, doch es hat sich gelohnt. genauso wie mein warten auf das langsame pils, das ich dann beim lesen getrunken habe und mir diesmal ein besonderer genuss war!

stadtwanderer

gegen die sonntägliche tote-hose-stimmung in der berner altstadt

ein mittagsgespräch – aus unverhofftem anlass – zu meiner grössten überraschung des berner politsommers.

bern1berner altstadt: tolle umgebung, verkehrsberuhigte strassen, sonntags aber häufig menschenleer

die begegnung war überraschend. ich war nach den ferien erstmals wieder am bärenpark, um finn, björk, urs und bern(a) zu sehen. das tut meiner stimmung immer gut!
getroffen habe ich gestern über mittag jedoch reto nause, dessen sommerliche ferienstimmung wegen dem (glimpflich verlaufenen) umfall am spazierweg entlang der aare unterhalb des bärenparks getrübt war. eben erst hatte er radio und fernsehen auskunft geben müssen, gesagt, dass er einen zaun von einem meter höhe errichten lasse. wer sich unvernünftig verhalte, müsse leider vor sich selber geschützt werden! bei 1,7 millionen besucherInnen des bärenparks seit der eröffnung seien ein paar irrläuferInnen wohl auch inskünftig unvermeidlich. doch sehe er die leserbriefe schon auf sich zukommen, zuerst würde er nicht und dann zu heftig reagieren. wahrlich, eine lose-lose-situation!

ich versuchte den gemeinderat aufzuheitern, wechselte das thema umgehend auf die altstadt, wo es das umgekehrte problem gibt: statt zuviele hat es sonntag keine leute. die fraktion von nause, jene der cvp/bdp, hatte vorgebracht, man solle den läden erlauben, auch am sonntag offen zu haben. der widerstand bei den strengen katholiker war wohl grösser als im gemeinderat, denn man drang man in der stadtregierung schon mal durch. doch kann die nicht alleine handeln kann. denn das erfordert, dass der kanton bern die untere altstadt zur tourismusregion erklären würde.

“super wäre das”, meinte reto, “denn an sonntagen sei tote-hose-stimmung in der altstadt.” und, ich müsse an so einem tag nur mal stadtwandern gehen.
ich nickte, denn ich kenne das.
bern an sonntagen besteht aus bahnhof und bärenpark. oberhalb der altstadt ist was los und unterhalb. ein belebungsprogramm dazwischen würde nicht schaden.
dennoch hielt ich dem angestachelten lokalpolitiker einen einwand entgegen: wenn die altstadt-restaurants in bern an sonntagen auch nur abwechslungsweise offen hätten, würde das einiges in gang bringen. doch die hätten gar kein interesse an einem mehrumsatz. geklagt werde nur unter der woche, am sonntag ruhe auch das, obwohl es nicht den auflagen unterliege, zur tourismusregion erklärt zu werden.
jetzt nickt mein gegenüber, nicht ohne seinen kommentar abzugeben.
“natürlich müssten die mitziehen”, erfuhr ich aus berufenem munde. und: “das interesse würde sicher steigen, wenn die läden offen hätten, die touristInnen in die altstadt kämen.

so hoffe ich mit dem berner gemeinderat auf eine positive veränderung. denn eines ist sicher. wenn sich weiterhin so viele leute unten am bärenpark tummeln, dass die erst aus unachtsamkeit in die aare fallen, ist das grund genug, mit einem attraktiven angebot am weg dorthin, für eine bessere verteilung der aufmerksamkeiten zu sorgen.

offene läden, offene restaurants würden einem offenen altstadtgeist sicher gut tun! und vielleicht den einen oder andern davon abhalten, dummheiten an der aare zu machen.

stadtwanderer

auf den spuren der metropolen des geistes

was ist eine metropole? und was eine solche des geistes? hat die schweiz metropolen des geistes? und wenn ja, ist bern eine solche? fragen, die ich mir bei der sommerlichen lektüre eines anregenden buches theoretisch stellte, und sie, bevor ich sie in bern empirisch prüfen werde, meinen stadtwanderer-leserschaft stellen möchte.

de1afaa88fgleich zu beginn des buches “metropolen des geistes” distanzieren sich die münchner herausgeber des bandes, der philologe martin hose und der theologe christoph levin, von den gängigen definitionen zu metropolen. denn ein mehr an bevölkerung, ressourcen, kraft, aufmerksamkeit und diversität reiche zwar, um die wahrscheinlichkeit einer stadt als laboratorium der moderne zu bestimmen. all das schliesst aber auch riesenstädte mit ein, wie sie im 20. jahrhundert in asien und afrika rasch entstanden seien, die indessen eher einem mit sich selber beschäftigten moloch glichen als einem zentrum mit ausstrahlung.

definitionen
die editoren einer vortragsreihe an der uni münchen, die zum sammelband von aufsätzen über metropolen des geistes anwuchs und sinnigerweise im inselverlag erschien, ziehen die begriffsverwendung der alten griechen vor: metropolen waren damals mutterstädte, die nicht nur gross wurden und um sich herum staaten bildeten, sondern via kolonisationen pflanzstädte gründeten, über die man nicht nur politisch und wirtschaftlich herrschte, sondern für sie auch kulturelles vorbild war.

im übertragenen sinne gilt das, wenn grossstädte mit ihrer religion, ihrer philosophie, ihrer architektur oder ihrer kunst auf die entwicklung anderer städte nehmen. notwendig ist, dass die zentren jene literatur hervor bringen, die mehr als nur an ihrem ursprungsort wirkung bei priestern, philosophen, künstlern wirkungen entfaltet, die auf politikerInnen und ihr administratives oder wirtschaftlichen umfeld ausstrahlt.

vorbilder
mit diesem originellen ansatz beschäftigen sich im genannten lesebuch 9 autoren mit 8 euroasiatischen grossstädten. konstantinopel ist die jüngste unter ihnen, die selber metropolitanen vorbildern wie rom, jerusalem oder athen folgte. deren wirkungen wiederum ist nicht ohne einflüsse aus babylon, alexandria und theben. nur ch’ang-an passt nicht in diese kette, erlaubt aber einen interkulturellen vergleich von alten metropolen.

die auswahl begründen die herausgeber damit, dass man metropolen des geistes erst an ihrer überragenden und anhaltenden wirkung erkenne. den sprung dazu, machen viele. die landung ist aber nicht immer von erfolg gekrönt. anlass für den take-off zur metropolenbildung im geistigen sinne sind neugründungen wie die von alexandria, ch’ang-an oder konstantinopel, oder es lassen sich katastrophen benennen, wie die zerstörung des tempels in jerusalem, die bürgerkriege in rom, die eroberung von babylon, die angriffe auf theben und selbstverständlich die perserkriege für athen. dies alles muss ganzheitlich bewältigt werden. voraussetzungen dafür sind bibliotheken, museen und galerien, die davon leben, das sich politik und wirtschaft aus dem reichtum, der in ihnen steckt, erneuern wollen.

so ist die these des buches, dass wirkliche metropolen den geist ebenso brauchen, wie der geist auf metropolen angewiesen ist. politische macht, administrative verfügungsmöglichkeiten oder einflussnahmen über handel alleine reichen nicht, auch wenn sie voraussetzungen sind. denn nötig ist, dass der geist, der eine metropole erst zu einem unverwechselbaren zentrum macht, in grossen, mächtigen und einflussreichen städten gedeihen kann.

beispiele aus dem gebiet der schweiz
wenn das alles stimmt, muss die these auf der suche nach weiteren metropolen erhellend wirken. und so fragt man sich, wie die synthese gelautet hätte, hätten sie schweizer, nicht bayrische wissenschafter verfasst.

klar, das alterum mit aventicum als einziger nennenswerter stadt wäre nicht ergiebig gewesen. sie war eine typische pflanzstadt roms. auch das mittelalter wäre, selbst wenn die zahl der städte wuchs, wenig ergiebig gewesen; zu klar waren die städte damals pflanzen in klostergärten oder vorhöfe der adelssitze. erst mit der renaissance, dem humanismus und der reformation entstehen auf schweizerischem boden jene urbanen zentren, welche in der vormaligen peripherie mit durchgangswegen die soziologischen voraussetzungen für metropolen des geistes schufen.

basel, genf, vielleicht auch zürich
basel mit erasmus von rotterdam, aber auch genf mit jean calvin gehören ohne zweifel zu metropolen des geistes in der frühen neuzeit, die vom buchdruck profitierten, universitäten oder akadamien hatten, welche auf die politik ausstrahlten und auf die naturwissenschaften im einen, die religion im andern fall einwirkten. der humanismus aus basel wurde so zum europäischen, der calvinismus interkontinentalen phänomen, der insbesondere auch in der neuen welt fuss fasste.

zürich wirkt da in der frühen neuzeit trotz reformation ausgesprochen provinziell, hebt aber mit der industrialisierung, dem bankenwesen, dem liberalismus und dem ausbau der infrastrukturen im 19. jahrhundert ab, und wird, so könnte man sagen, über wissenschaft, technik, aber auch über das kulturelle schaffen zu einer kleinen metropole des geistes.

und bern?
so bleibt nur noch die bange frage bleibt, ob denn auch bern bern eine metropole, ja eine metropole des geistes war, ist oder auch werden könnte? – spontan denkt man an albrecht von haller, der jedoch gerade in bern kaum wirkungen erzielte. zufriedenstellend ist das nicht. deshalb mein aufruf: sachdienliche hinweise bitte an den stadtwanderer, der sich bald wieder mit verve auf die fährten der geschichte, der kultur, der religion und der politik im genannten stadtraum machen wird!

stadtwanderer

die neuen schuhe des stadtwanderers

nun bin ich wieder in bern. die pflastersteine haben mich wieder. sie tönen nicht schlecht, wenn man sie begeht. doch sind sie hart. sodass man weiche schuhe braucht. die kaufe ich selbstverständlich bei markus ryffel.

Ryffel_Markus_mitte_2205000 m finale in los angeles eine runde vor schluss: noch führt leitao vor aouita und ryffel.

als erstes habe ich mir heute in bern neue stadtwanderer-schuhe gekauft – bei ryffel running, an der kramgasse. markus, der berühmte geschäftsführer, war auch da. bedient hat mich stephan, sein jüngster sohn.

der einkauf ist gleichzeitig eine erinnerung an meine eigene zeit als leichtathlet. so gut wie markus war ich natürlich nie, der war ja silbermedaillengewinner über 5000 an den olympischen spielen in los angeles. noch heute hält er den schweizer rekord über diese distanz. gut 13 minuten brauchte er für die berühmten zwölfeinhalb stadionrunden.

zu gerne wäre auch ich ein guter langstreckenläufer geworden. die ausdauer dafür hatte ich als schulbub schon mal. doch machten die atemwege nicht mit. das rennen im winter war für sie zu kalt. nach dem training hatte ich bisweilen atemnot. so bleibt mir eine medaille als crossläufer. danach wechselte ich im winter in die halle, wo es wärmer war. und da war sprinten angesagt. über 100 und 200 meter reüssierte ich in der sommersaison leidlich, einige medaillen an meisterschaften gab’s schon. am liebsten rannte ich in der 4 mal 100 meter staffel die zweite kurve. wenn du den stab übergeben hast, kannst du bis ins ziel auslaufen lassen – und gewinnst manchmal trotzdem! doch dann traf mich eine herbe verletzung, eine übernutzung der aufkommenden tartanbahnen liess die muskeln im oberschenkel reissen. das war dann das ende des leichtathlektik-juniors.

markus ryffel, unwesentlich älter als ich, war stets ein wahrer sportsmann. bescheiden, ausdauernd – und im richtigen moment schnell. sein lauf wirkte leicht, seine schritte waren rhytmisch. der schlanke körper mit dem damals üblichen, leicht üppigen haar verstärkte den eindruck eine normalos. bis er angriff. dann rannte vor allem sein kämpferherz, das stark war und leiden konnte. ich erinnere mich gut, wie er seinen grössten erfolg feierte. das tempo hatte der schnauzbärtige portugiese leitao gemacht. vor der letzten runde sah der schon wie der sichere sieger aus. doch dann attackierte said aouita, der marokkaner, der auch ein bekannter mittelstreckler war, besser spurten konnte und schliesslich auch gewann. in seinem windschatten schaffte es ryffel, sich an die zweite stelle zu schieben und das silber abzuholen. mein herz rannte mit ihm, und meine freude am zweiten platz war gross. denn das alles kam unerwartet, weil es markus immer wieder an endschnelligkeit gefehlt hatte.

zwischenzeitlich ist markus ryffel ein gefragter sportsgeschäftsmann. mit seinem bruder führt er die ryffel running ag in bern und uster. die plastiksäcke für den einkauf verweisen auf ein vierteljahrhundert des erfolgreich geschäftsgangs. alles, was es fürs rennen, walken und laufen braucht, gibt es bei ryffel zu haben. seine verkaufsfachleute setzen ganz auf beratung, wollen genau wissen, für welche bewegungsart man schuhe sucht, kontrollieren die füsse und machen vorschläge, was es sein könnte. wenn man dann von einem modell vorläufig überzeugt ist, gibt es die fast schon obligaten schrittversuche unter den lauben an der müstergasse. dann weiss man, ob der schuh sitzt oder nicht.

das marketing der ryffel running ist perfekt. es lebt voll und ganz von der aura des ehemaligen langstreckenläufers. wenn der chef vor ort sein kann, unterhält er sich gerne mit der kundschaft. das schafft die atmosphäre, in der man vielleicht auch das anspruchsvollere modell nimmt. schliesslich will man das vorbild von damals im eifer, es nachzuahmen, bis heute nicht enttäuschen und wenn er nicht anwesend ist, rennt sein geist durch die verkaufräumlichkeiten voraus, nicht zuletzt via bücher, die er zusammen mit dem deutschen rennkollegen thomas wessinghage von damals über nordic walking oder sportverletzungen geschrieben hat.

genau so habe ich heute denn auch zugeschlagen. auf der ziellinie der entscheidung schwang das nike-modell für stadtläufe oben aus. es istfest und leicht zugleich. dank kundenkarte sind sie nicht ganz so teuer, wie man anfänglich meint.

obwohl ich eigentlich wissen müsste, dass der preis für alles sportliche immer hoch ist.

stadtwanderer

ganz frisch

letzter zwischenhalt auf der rückreise in die schweiz ist, fast schon traditionsgemäss, das moccacino in ekshärad. wo wir uns mit frischem essen in den sommerferien gerne erfrischten.

P8060401der lastwagen ist enorm, fast so gross, als wollte er das café gleich verschlucken. doch die absicht ist umgekehrt, denn der beves-riese ist da, um das “moccacino” im zentrum von ekshärad mit frischen lebenmitteln zu versorgen.

in ekshärad, der kleinstadt im klarälvtal, müssen wir die letzten erledigung vor der rückreise machen. das mietauto will zurückgegeben sein. die kollegInnen im büro erwarten sicher haferguetzli, und die schwierigsten postkarten müssen noch getextet werden.

da ist das moccacino der ideale dreh- und angelpunkt. so sind wir zum letzten mal bei ralf und jacqueline, den eingewanderten deutschen, gerade richtig. neuen schwung haben sie dem kaffeeumsatz vor ort verliehen, und ihre kleingerichte haben sich weit herumgesprochen.

ekshärad ist einer der orte, die durch die jüngsten kommunereformen verloren haben. der zentrale platz beherbergt zwar noch kirche, konsum und kaffeehaus. mit der abwanderung der politischen administration ins benachbarte, grössere hagfors ist sind aber auch die kleinbanken ganz aus dem ort verschwunden. der ersatz ist schäbig, denn der einzige bancomat am platz steht im ruf, nie zu funktionieren. das alles ist typisch.

von diesem niedergang setzt sich das moccacino vorteilhaft ab. es hat das ehemalige touristenbüro zum wirklichen treffpunkt umgestaltet. bestellt wird direkt an der theke, was gut ist. denn so bekommt man das eine oder andere über das leben am ort mit. der service ist immer zuvorkommend. auch das ist bei den vielen enttäuschten schweden im gstgewerbe nicht überall so.

zum eigentlichen markenzeichen im moccacino haben sich aber die stets frischen waren herungesprochen. was mit beves um 11 geliefert wurde, ist um 12 schon auf dem teller! stroganov mit rösti und salad ist der letzte tageshit, den wir in diesem jahr geniesen.

“man sieht sich”, heisst es zum schluss, wohl aber erst im nächsten jahr. deshalb wünscht uns jacqueline schon mal frohe weihnachten, der zeit, in der sie sich mit ralf erholen will, während wir uns ganz frisch endgültig auf den rückweg aus den sommerferien machen.

stadtwanderer

zum roten krug

nichts geht über morgendlichem kaffee. den braut fast immer bärbi, die vor mir wach ist. dann duften es aus dem roten krug so herrlich, dass man die träume der nacht nochmals revue passieren lassen kann.

P8060398a(foto: bärbi)

die meisten träume während den sommerferien sind privatsache. der von heute, unserem reisetag, passt auch in einen blog. denn er resümiert wohl die lage der nation schweiz, wie ich sie während meiner zeit in holzhausen mitbekommen habe. hier der bericht aus dem roten krug:

„ich bin in italien. wir sind eine reisegruppe. es sind alles schweizerInnen. auf der priazza der provinzstadt hat es mässig leute, denn der zug aus dem norden ist eben angekommen.

unser stadtführer lobt alle über den klee. in der lokalen politik mache man es wie in der schweiz. man identifiziere probleme und löse sie. die ganz grossen probleme seien nicht lösbar, deshalb rede man hier auch nicht darüber. das sei in der eu ganz anders. jüngst habe man über justizskandale gesprochen – und auch nichts erreicht. die meisten aus unserer gruppe nicken.

derweil sind wir in einem grossen haus angekommen. das erdgeschoss sieht wie ein grosser essaal in einem kloster aus. oben sind kleine kammern, wohl für die braven mönche. wir werden angewiesen, dort unsere reisetaschen zu platzieren.

ich komme verspätet in den essraum zurück. es hat nur noch an der hintersten bank in der hintersten ecke platz. dafür hat man hier einen guten überblick über die gesellschaft. meine nachbarn sind in eine gespräch vertieft. sie sind erbost, wegen der beleidigenden anspielung auf die justizskandale. solche gäbe es in der schweiz nicht, sagen sie, und geben sich als svp-sympathisanten zu erkennen.

sie wollen das eveline widmer-schlumpf eine richtigstellung verlese. doch sie getrauen sich nicht von der abgefallen justizministerin etwas zu erbitten. sie fragen mich, ob ich es machen würde. ich zögere …

da tritt ein mann in den saal. er ist aufgeregt. draussen auf der piazza spreche christoph blocher. es gehe um die schweiz, den 1. august und um die reinen sitten im lande. da haben wir’s doch, denke ich.

doch unsere gesellschaft löst sich auf. die einen gehen in die ferien, wollen von allem dem nichts mehr wissen. die anderen stürmen zur rede, die alles klarstellt. ich mag mich weder dem einen noch dem andern anschliessen und entscheide mich, auf eigene faust in die stadt zu gehen.

doch das ist alles weniger friedlich, als man uns verheissen hatte. denn es tobt ein wahrer strassenkampf. jeder verfolgt jeden! die fussgänger werden von den velofahrern gejagt, und denen sitzen die autofahrer im nacken. darwinismus pur!

ich flüchte in ein taxi, erwarte da schutz. dem fahrer bedeute ich, er solle mich in die nächste stadt bringen. die hier sei mir definitiv zu unsicher.

am ende der strasse muss er an einer ampel halten. merkwürdigerweise warten aber alle wagen, egal von wo sie kommen. das ganze wirkt wie blockiert. wir sehen, wie der fahrer im wagen gegenüber wütend wird. er schreit, das seien die sozis gewesen. die müsse man überfahren wie die kleinen katzen.

dann wächst sein wagen mächtig an. die scheinwerfer werden zu mäulern mit zähnen. mir wird unheimlich.

der fahrer sagt, das sei nur drohkulisse. er bleibe da am liebsten ruhig, nur wenn der andere agiere, regiere er. ich zweifle, denn der wagen fährt schon bald mit bedrohlichem geheul los. das taxi beschleunigt ebenfalls, weicht nach links aus, will den feind leer laufen lassen.

da kracht es laut. seitenkollission! mein fahrer ist sofort tot. merkwürdigerweise wirkt er nicht unglücklich. er sieht aus, als hätte er seine erfüllung gefunden. die zigarettenkippe steckt immer noch mund.

aus dem anderen wagen sind laute hilferufe zu hören. ich weiss nicht, ob ich helfen oder weiter gehen soll. immerhin hat mich der fahrer eben bedroht, und doch ist auch er ein mensch. so ist politik.“

ich muss ein wenig lachen, als ich das bärbi erzähle, während ich die pizza anschneide, die an jedem letzten ferientag bei uns zum frühstück verspiesen wird.

stadtwanderer

die einsteiger vom lamagard

in deutschland sind die benschings aussteiger, in schweden einsteiger.

P8040346holger entschuldigte sich, dass er nur mit verspätung auf unser klopfen an der hoftüre reagiert hatte, denn er war mit dem handy beschäftigt. beim nachgereichten kaffee erklärte er, eine kupplung an seinem traktor sei in brüche gegangen, die nicht mehr produziert werde. nun müsse er sich mit seinen kumpels selber helfen, sonst sei die ernte im eimer.

sechs kindern hat holgers ehefrau antonia das leben geschenkt. drei davon sind bereits ausgeflogen, die jüngeren leben mit den eltern auf dem berghof in östra näsberget. doch sie sind bei weitem nicht alleine. denn der lebenstraum der benschings ist und war es, gemeinsam mit tieren eine familie zu haben.

wie viele tiere es auf ihrem hof hat, weiss ich nicht. ich weiss nur, dass ich beim warten auf holger lamas, alpackas, hühner, ein pferd, ziegen, enten, gänse, kühe, hunde und pfauen entdeckt habe. wie die nandus, straussenähnliche tiere, heissen, musste ich schon mal nachfragen. und die schafe im dorf hätte ich gar nicht zählen können.

kennen gelernt habe ich die benschings über den „stadtwanderer“. antonia kommentierte mal einen meiner beiträge über schweden und führte mich so auf die webseite des lamagards. dann besuchten wir aus neugier den unüblichen hof in den bergen dalarnas, und seither kommen wir an den kulturtagen im tiomilaskogen (und auch sonst) gerne mal vorbei, um in der butik mit lamaprodukten einzukaufen, auf der veranda ein paar würste vom hofeigenen fleisch zu speisen, und zu mit den bauersleuten die aussicht über wälder und berge zu geniessen und beim kaffee zu plaudern.

dieses jahr wirkte antonia weniger gelassen als auch auch schon. sie ist des wetters wegens aufgebracht. es ist der dritte durchwachsene sommer in folge. das kann das tierprojekt in der wildnis schon mal ins wanken bringen, denn die eigenen futtervorräte reichen so nur für den halben winter. und für die restliche zeit muss man dazukaufen. die preise können in der notzeit schon mal auf das dreifache des üblichen steigen, was das haushaltsbudget belastet.

schafe und ziegen werden ende saison deshalb deutlich weniger. und der lamahengst wurde jüngst kastriert. 19 der edlen tiere aus südamerika sind definitiv genug. jetzt sollen für ausritte mit familien und schulen trainiert werden. das interesse aus der region ist intakt. 4 von 5 besucherInnen kommen jetzt schon aus der lokalen nachbarschaft. die agrarbürokratie dagegen reagiert mit zurückhaltung auf die neuerung. dass lamas auch nutztiere sind, kann man sich da nicht vorstellen. deshalb will auch keine eu-subventionen bereitstellen. so wird holger auf einer nahe gelegenen feriensiedlung nahe holzhausen einen halbtagsjob als abwart annehmen.

zu viele lebensenergien hat man in das projekt investiert, um es wegen ökonomischen herausforderungen fallen zu lassen. denn die ideale sind unverändert vorhanden. so will man in bewegung bleiben, sagt antonia, wenn auch gemächlich. denn die buchändlerin und der sozialarbeiter aus dem südwesten haben deutschland des stresses wegen verlassen. zurück in die gesetze der konsumgesellschaft geht’s ganz sicher nicht.

so lässt sich antonia auch nicht aus der fassung bringen, als die kinder betteln, um picknicken gehen zu können. chips und süsswasser sind bei den jungen gefragt. nora, die ältere hündin auf dem hof, die auf meinen beinen ruht und sich in aller ruhe streicheln lässt, kann dem plan gar nichts abgewinnen. ganz anders ist viola, die jüngere hündin, die sofort freudig herumspringt, als die decken mit essen und trinken gepackt und auf die weide verfrachtet werden.

die unterschiedlichen reaktionen der beiden hunde sind typisch für das leben der benschings in östra näsberget. in deutschland gehen sie als aussteiger durch, in schweden sind sie einsteiger. selbst das lokale unternehmerblatt hat die prioniere jüngst anerkennend porträtiert, was im schwäbischen wegen der kritischen lebensphilosophie kaum denkbar gewesen wäre.

bevor wir gehen, umarmen wir antonia und wünschen viel kraft. holger, der schon beim melken ist, schicken wir auf diesem weg viel glück beim schweissen des ersatzstückes für den traktor, das für die ernte so wichtig ist.

stadtwanderer

vergesst, vergesst alles!

erinnern ist das geschäft der historiker. christian meier, einer der renommiertesten geschichtsprofessoren deutschlands hält neuerdings dagegen und spricht vom gebot des vergessens. in einem gleichzeitig grundsätzlichen wie auch oberflächlichen gespräch, das romain leick und henryk m. broder für den spiegel mit meier führten, standen mir die haare zu berge!

pam_011provoziert gerne: pensionär christian meier, weiland professor für antike geschichte in münchen, hält das vergessen schlimmer vergangenheiten für angebracht.

geschichte ist sowohl das geschehene in der vergangenheit, wie auch der bericht darüber in der gegenwart. wo diese unproblematisch ist, verschwindet das interesse an geschichte bisweilen. doch wo sie reich an konflikten ist, ist auch die historie gefragt. genau deshalb ist auch geschichte konfliktreich.

christian maier, emeritierter professor für die antike, einer der bekanntesten historiker deutschlands, ist dabei nicht mehr wohl. sein jüngstes buch („Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns“) hat er seinem unbehagen gewidmet.

zunächst scheint alles klar. zurecht verweist meier auf die hohe wirkung, die friedensschlüsse auf die geschichtsschreibung haben. denn mit ihnen beginnt, mindestens unter den vertragspartnern, die arbeit der versöhnung. doch an das schliesst nach meier nicht etwa die kritik defür begangenen fehler, sondern direkt das vergessen an.

die heutige erinnerungsarbeit an den zweiten weltkrieg – den nazismus und die gräueltaten – widert meier gar an, wie er freimütig bekennt. zum ritual sei sie verkommen, das die heutige generation nicht mehr erreiche. damit hat er nicht unrecht, wenn auch der 81jährige kaum mehr für die jungen leute sprechen kann.

seine begründung ist scheinbar professioneller natur: keine erinnerungsarbeit habe spätere verbrechen verhindert. denn zwischen dem wunsch, aus der geschichte zu lernen, und dem willen, es zu auch tun, bestehe eine grosse diskrepanz. mehr noch, es lasse sich bezweifeln, dass erinnerungsarbeit über das notwendige hinaus irgendeinen gewinn bringe. vielmehr zeigt er sich überzeugt, dass die erinnerung an schlimmes, dieses erzeugen könne, wenn es zu rache und wiederrache anstiften.

„Erinnern, erinnern und nicht vergessen!“ diesem slogan der aufklärer nach dem zweiten weltkrieg widerspricht christian meier direkt. und die beiden spiegel-redakteure romain leick und henryk m. broder halten kaum dagegen, denn sie freuen sich (wie viele journalisten) am tabubruch des prominenten kritikers.

am heftigste geschüttelt hat es mich während der lektüre bei der aussage, wir unterlägen einem trügerischen focuswechsel, denn statt mit tätern, die vormals zu helden geworden seien, sagt der caesar-biograf meier, beschäftige man sich heute mit den opfern und ihren vorkämpfern, die zu den helden gemacht würden. zurecht!, füge ich an.

meier hingegen sagt wörtlich, vergessen könne zwar eine zweite verletzung und damit eine demütigung sein, aber es gäbe fälle, wo man ihnen das zumuten müsse. das halte ich für den grössten stuss, den ich zum thema geschichte je gelesen habe.

so halte ich es mit tacitus, dem römische historiker über die germanen: zum moralischen kern des geschäfts mit der vergangenheit schrieb er, der historiker müsse zwischen gut und böse unterscheiden können, dürfe nicht zum positionslosen chronisten verkommen. politiker sind da allenfalls pragmatischer. politisierende historiker offensichtlich auch!

stadtwanderer