religion ist gerade im säkularen zeitalter angesagt

bald sind ferien angesagt. zu den büchern, die ich mir hierfür aufgespart habe, gehört das monumentale buch “Ein säkulares Zeitalter” von charles taylor. der tages-anzeiger und andere bringen heute eine vorschau, was mich erwartet.

charles_taylorcharles taylor, 2008 mit dem “nobelpreis” für philosophie ausgezeichnet, wird mich in die ferien begleiten – wenigstens in buchform.

der kanadier charles taylor gilt als einer der markantesten philosophen der gegenwart. er forschte und lehre sein leben lang als politologe über westliche identität, den kapitalismus, die multikulturelle gesellschaft und die moralphilosophie. der beinahe 80jährige wurde dafür mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem kyoto-preis, dem “nobelpreis” für philosophie.

anders als in der besprechung seiner werke, die der wiener korrespondenten guido kalberer für das zürcher publikum vornimmt, empfinde ich taylors gedankengänge nicht immer klar, wohl aber vielfältig. denn es geht ihm um den stellenwert der religion in der säkularisierten welt.

diese sieht er als spezielle entwicklung, bestimmt durch reformation, aufklärung und kapitalismus. sie hat die anti-magie, die anti-religion und das anti-kollektiv entstehen lassen. der mensch wird als individuum verstanden, das seinen nutzen maximiere, als vernunftwesen, das sich nach nichts anderem richte als der ratio, und zum subjekt, das allen ritualen ablehnend gegenüber stehe.

genau das sei global gesehen nicht die norm, nicht einmal in der christlichen welt. deshalb würden säkularisierte kulturen die religiosität generell unterschätzen. immer weniger menschen glauben an gott, doch verringere sich die zahl nicht, welche von der kraft des glaubens überzeugt seien, sagt der gläubige katholik. seiner eigenen kirche wirft er vor, das bedürfnis der menschen nach spiritualität zu unterschätzen und zu verkennen.

soweit verstehe ich die analyse gut. doch dann beginnen meine fragen. etwa dann wenn taylor behauptet, die demokratie sei an sich kein bollwerk gegen die unvernunft. erst die christlich fundierte demokratie garantiere dies. denn menschenrechte seien unabdingbar, und die solidarität unter einander auch. und die seien aus dem christentum entstanden.

da zucke ich irritiert zusammen. ist das alles humbug, was ich bei den aufklärern gelesen habe? die waren viel religionskritischer. mehr noch: ist es richtig, dass man neuerdings fordert, es brauche christliche grundwerte, um fundiert politisieren zu könnnen? für mich ist das ein wenig wie vor der aufklärung.

ich weiss, charles taylor ist kein vereinfacher. ihm geht es um synthesen. nichts fürchtet er so, wie wenn atheistInnen und fundamentalistInnen aufeinander prallen. er fordert integration, nicht ausgrenzung. denn gesellschaftliche entwicklung ergebe es nur, wenn man sich achte, austausche und mische.

doch bin ich gespannt, ob er mich in den ferien von seinem christentum überzeugen wird – oder mir jemand aus der leserschaft aktuelle moralphilosophie beibringt.

stadtwanderer

ärger im märchenland

eine sonntagswanderung, bei der man das eine oder andere aus den zeitungen aufschnappt, und dabei unversehens eine geschichte zu erzählen beginnt.

brquelle: silvan wegmann/sonntag.

es waren einmal sieben zwerge. sie regierten ein kleines land in den bergen. in urzeiten hatte man entschieden, dass sie ein kollegium bildeten. keiner trug die verantwortung alleine, und kein parlament konnte mit seiner mehrheit drohen. jede und jeder der regierungszwerge vertrat ein sippe, grosse sippen hat gar zwei zwerge zu gute.

doch die sippen vermehrten sich ungleich schnell. die cleverste unter ihnen begann bedingungen zu stellen. nur der, und kein anderer dürfe sie vertreten. die anderen sippen gaben nach, selbst als eine der zwergfrauen dafür in die wüste geschickt werden musste. nach einer weile widersetzen sich aber die kleinen sippen gegenüber der grossen sippe, und schickten ihrerseits ihren vertreter nach hause. der jedoch gab nicht klein bei, streute sand ins getriebe der anderen sippen und der regierung. am ende war soviel drin, dass alles stockte.

aufmerksam auf das land der zwerge wurde ein wüstensohn aus entfernten landen. er forderte seinen ganzen sand zurück. der sohn des wüstensohns, der sich gerne im lande der zwerge aufhielt, ohne sich an die dortigen sitten zu halten, wurde dafür arretiert. das gefiel dem wüstensohn ganz und gar nicht, und er liess einige söhne aus den zwergensippen, die gerade in seiner nähe waren, in sein verlies werfen.

nun waren auch die sieben zwerge aufgebracht! sie schickten ihre unterhändler zum wüstensohn, um die zwergensöhne frei zu bekommen. als das nichts fruchtete, setzte sich der wichtigste der zwergenregierung in ein flugzeug, um selber mit dem wüstensohn zu sprechen. doch der liess ihn in der wüste stehen, bis er unverrichteter dinge wieder ging. im bergland war man mächtiger erstaunt, ihn alleine zurückkehren zu sehen. man fand, er habe versagt, und übergab die sache nicht der wichtigsten in der zwergenregierung, aber der grössten. die nutzte ihre verbindungen in die halbe welt, bis es schliesslich gelang, auch den letzten der arretierten zwergensöhne glücklich nach hause zu bringen.

im bergland waren man im fussvolk glücklich über die rückführung der eigenen söhne. doch in der regierung gab es spannungen. einige der kollegInnen hätten die grösste unter ihen am liebsten gleich selber in die wüste spediert. als das nicht ging, legte man feuer rund um sie herum. die staunenden untertanen der zwerge erfuhren per indiskretion aus dem regierungspalast, dass sie nicht nur geschickt verhandeln konnte, sondern auch daran dachte, die geiseln im fernen gefängnis selber zu befreien.

das passte zum urteil des weisesten im völkerrat der zwerge, die sagten, im regierungskollegium regierten nicht die zwerge, sondern das misstrauen. flugs sprachen alle drüber, und die meldeläufer der regierung und der opposition hatten alle hände voll zu tun, das volk und die regierung über den neuesten stand der dinge zu informieren.

so beklagte sich der vormals wichtigste unter den zwergen, nichts von der befreiungsaktion gewusst und in lebensgefahr vermittelt zu haben. lange hielt sich diese behauptung aber nicht halten. die neuerdings wichtigste in der zwergenregierung wiederum heizte die schlechte stimmung an, und sprach von einem einsatzbefehl, den man habe zurücknehmen müssen, um schlimmeres zu vermeiden. auch das hat nur kurze beine. genauso wie die aussage der grössten unter den zwergen, es seinen nur planspiele gemacht worden, bei denen man sich genau an das gesetz gehalten habe.

nun war die stunde der grössten sippe gekommen. um interne zwistigkeiten zu beseitigen, ging man zum angriff über und forderte den kopf der grössten unter den kleinen. der zoff war perfekt: im zwergenland geschah, was bisher nie geschehen war. der ältestenrat, bestehend aus den ehemaligen regierungszwergen, der sich regelmässig traf, aber nie etwas verlauten liess, äusserte sich zu lage der zwergennation. einige von ihnen traten zwar nicht selber vor das zwergenvolk, doch liessen sie ihre bilder vorführen und texte verlesen, die nichts gutes verhiessen: zurücktreten solle die zwergenregierung, denn das angerichtete unheil sei so gross, dass es für eine reform der zwergenregierung der falsche moment sei. besser sei es, gleich das ganze team auszuwechseln.

der wüstensohn hatte was er wollte, und der stadtwanderer suchte vergebens nach einer erklärung der zwergenregierung, in der sie sich freute, ihre söhne zurück zu haben. dafür schwärzen sich ihre mitglieder in allen öffentlich an, um den schwarzen peter oder die schwarze petra zu finden, die das feld räumen muss.

wahrlich, es herrscht ein tiefer ärger im märchenland.

stadtwanderer

meine gegenwärtige work/work-balance

uff, das war eine harte woche. fünf tage unterwegs, beruflich, jeden tag an einem anderen ort, irgendwo zwischen bern, zürich und lugano. im rückblick gibt es nur eine bilanz: meine work/life-balance ist drunter und drüber geraten!

work-life-balance2dahinter muss ich mich machen: trotz spannender arbeit wieder mehr freie hand zu haben, mich um mich, andere und das universum zu kümmern.

zum stadtwandern fand ich diese woche keine zeit. seit vielen, vielen wochen war das das erste mal. auch zum bloggen kam ich nur sporadisch. wenigstens auf dem stadtwanderer. immerhin, für ein paar beiträge auf dem zoonpoliticon reichten die pausen.

einspannt war ich durch präsentationen zu forschungsprojekten, besprechungen im verwaltungsrat, videoaufnahmen für eine neue firmenwebsite, eine medienkonferenz zum “bevölkerung und managed care” und einen vortrag über den “zorn der zeit”.

am wochenende ist hausputz angesagt, denn bald sind ferien. nächste woche wird nochmals eng: mein letzter auftritt vor den halbjahresbilanzen, dann dossierübergabe, büro räumen, und dann ferien. vorher sind noch zwei offizielle stadtwanderungen angesagt: für die public affairs abteilung der credit suisse und für die arena-redaktion von sf.

in einer woche reise ich dann nach ins bündnerische stampa, wo ich, gemeinsam mit roger de weck und thomas maissen, vier weitere folgen der tv sendung “sternstunde geschichte” produziere, die dann im herbst 2010 ausgestrahlt werden. das heisst dann schon mal ferien, faktisch wird es der übergang sein von der arbeit in die ferien. die verbringe ich ab übernächstem samstag wie immer in holzhausen – mitten in den schwedischen wälder. zurück werde ich erst anfgans august sein.

ich freue mich jetzt schon auf den see, das haus davor und die sauna dazwischen. die ersten tage werde ich wohl nur ausschlafen, mich erholen, pflegen und neu sammeln. ein grosser geburtstag steht an, das waldhaus muss wieder in stand gestellt werden, und ein paar besuche in der weiteren umgebung sind auch angesagt.

vor allem aber hoffe ich, die natur geniessen zu können, ein paar wärmende sonnenstrahlen erheischen zu dürfen, baden zu können, mit dem boot in die einsamkeit zu rudern. vielleicht fange ich ein paar fische, wahrscheinlich gibts die ersten blaubeeren zum frühstück pfifferlinge zum abendbrot, und wer weiss, am ende begegnen wir wieder einmal einigen elchen. ruhe habe und ruhe finden sind hierfür voraussetzung.

und sollte es dann und wann regnen, habe ich einige bücher dabei – und mein neuestes spielzeug, ein netbook, ein kilo schwer, genauso gross wie zwei hände, versehen mit einem bildschirm, um überall um dem internetuniversum verbunden zu bleiben.

dann, bin ich überzeugt, wird sich meine life/life-balance, schnell einstellen, um der work/work-balance das nötige gegenüber zu stehen.

ich frage mich nur, ob ich es auch einmal schaffen, die work/life-balance zu meistern.

stadtwanderer

es spricht der überraschungsgast, filippo lombardi

lugano, ja, nochmals lugano! und wieder geht es um die cvp, aber nicht die von financier tettamanti. vielmehr um die staatstragende cvp von filippo lombardi.

P6241463filippo lombardi, tessiner ständerat, und überraschungsgast an unserem seminar

unsere gesellschaft ist im luganeser “bellevue au lac” untergebracht. der name ist programm. die sicht über den see aus dem fünften hotelstock ist schlicht spektakulär.

am abend ist ein ausflug auf dem see angesagt. das schiff schwankt, als die 30 leute es besteigen. erst als alle drauf sind, stabilisiert sich der kahn.

der überraschungsgast im grotto auf der anderen seite kommt mit einem separaten schiff. es ist der tessiner ständerat filippo lombardi. einst war er journalist, röm.-kath., herr über kirchennahe fernseh- und radiostationen. dann katapultierten ihn die papsttreuen in die nationale politik. um die staatstragende christianita der italienischsprachigen schweiz in bern zu vertreten. und die auslandschweizerInnen. das macht er erfolgreich.

charisma hat er, auch schalk spricht aus seinem gesicht. doch schwankt er gelegentlich auch. nicht eigentlich politisch, eher wegen des alkohols. doch ist einige zeit her, und es wurde auf tessiner art geregelt. der sekundenschlaf rettete ihn vor einer verurteilung und dem rücktritt aus der kleinen kammer des bundes.

in seinem vortrag vor verbandsspitzen der schweizer wirtschaft bewies lombardi standfestigkeit. keine sekunde setzt er aus, um für das tessin zu werben.

lombardis thema ist, wie könnte es auch anders sein, das tessin.

letztes jahr habe man sich alleine gelassen gefühlt, als italien den finanzplatz der schweiz italienischer sprache angriff, sagt er. das habe sich zwischenzeitlich wieder gebessert. gestern war der bundesrat in bellinzona, und morgen tag die fdp, der politische konkurrent im süden der schweiz.

“gott sei dank!”, fügt der tessiner kantonsvertreter in bern, denn die tessinerInnen seien treue eidgenossen. man halte zur schweiz, vor allem, wenn sie zu sich halte.

im tessin erwarte man aber auch einiges von der schweiz, berichtet der tischredner. die infrastrukturelle erschliessung des tessins sei eine eidgenössische frage, steigert er sich. denn sonst gäbe es keinen transit zwischen der basel und como – zum nachteil aller, die tessinerInnen und die schweizerInnen.

den gotthard-tunnel werde man bald revidieren müssen. drei jahre könnte er gesperrt sein. um ein verkehrschaos im herzen europas zu vermeiden, brauche es vorher eine zweite röhre, durch den berg der berge, mitten in der schweiz. gut, 10 milliarden könne das schon mal kosten. doch rechne sich das, wenn man an die kosten ohne ersatz denke.

so geht es im munter reigen zwischen vergangenheit, gegenwart und zukunft weiter – zwischen dem salat und dem osso buco. doch unsere gesellschaft staunt. denn an diesem abend sprach kein unternehmer nicht; vielmehr wurde man von einem subventionsjäger unterhalten.

unsympathisch macht lombardi das nicht, denn charme hat er. doch der ist ganz schön teuer, und das scheint ihn nicht zu stören!

ein wenig irritiert ist man schon, als die sonne über italien untergeht. kein wort über die wirtschaftskraft des kantons, seine eigenverantwortung für das wohlergehen der italienischen schweiz und den beitrag zur wohlstandsinsel schweiz, hat man an diesem abend gehört.

klagen auf sehr hohem niveau, wift einer an unserem tisch ein. und so bleibt die frage: ist das die eidgenössische solidarität, von der man gerne spricht, ohne viel davon zu verstehen?

stadtwanderer

tito tettamantis streitkultur

bereits mit 28 Jahren war tito tettamanti tessiner cvp-regierungsrat. dann wurde er als baulöwe reich und als financier gefürchtet. 2002 stieg er ins mediengeschäft, in dem er half, die weltwoche, das streitorgan der ordoliberalen und nationalkonservativen auf den schweizer markt zu bringen. ein kurzporträt des 80jährigen, der geld und geist in sich vereint, um die streitkultur in der schweiz zu fördern.

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tito tettamanti gibt im der heutigen soz seine lebensprinzipien als leitbilder der schweiz durch

im grossen interview mit der heutigen sonntagszeitung beschreibt tito tettamanti seine erziehung im geiste des katholizismus. doch habe er den glauben von damals verloren, denn gott könne man nicht rational begründen.

das ist beim geld anders. der tessiner jurist lobt es als die beste erfindung, die der menschliche geist hervorgebracht habe. nicht einmal der geldbesitz treibe ihn an. mehr sei es die frage, was man mit geld alles machen könne, gesteht er der sonntäglichen leserschaft.

im äusserlichen stets geschliffen, kann “tt” ganz schön direkt werden. vielleicht liegt das an seiner kleinbürgerlichen herkunft. die arbeiter seiner zeit seien stolz auf ihre kollektive identität gewesen. das habe man in seinem milieu nicht gekannt, weshalb man mühe gehabt habe, fassung zu bewahren.

das merkt man, wenn er politisiert: die schweiz befinde sich in einer notlage, was die zusammenarbeit der besten köpfe erfordere. als couchepin demissioniert habe, wären drei weitere rücktritte fällig gewesen. die fdp- und sp-delegationen hätte er am liebsten in globo nach hause geschickt. dafür hätten die medien kämpfen, ja, eine kampagne machen sollen; doch hätten sie jämmerlich versagt.

mehr als versagt, ja schuld trage die politik an der finanzkrise. die elektoralen absichten clintons seien die ursache, weiss er. jedem amerikaner sein eigenheim zu ermöglichen, habe die spirale in gang gesetzt. diese hätten die banker mit ihren betrügerischen spielchen nur beschleunigt. am schluss seien noch die deppen aufgesprungen, zum beispiel die von der ubs, die dann viel geld verloren hätten.

wahrlich, zum establishment gehört einer, der so spricht, nicht. vielmehr identifiziert sich individualist tettamanti, wie so oft unter kleinbürgerlich sozialisierten, mit dem populisten. zu recht, sagt er, der halbe milliardär, ärgere es sich über die banken, die sich alles leisten könnten, ohne verantwortung tragen zu müssen. verkleinern will er die schweizer banken im interesse der unternehmen nicht. eine erhöhung des eigenkapital befürwortet er aber, auch um die horrenden boni zu senken.

das rezept des luganesen für sein land ist einfach: die eu brauche es nicht; auf sich selber hören solle es. am besten sei es, “wenn sich Politiker, Wirtschaftsvertreter und Intellektuelle in den Haaren liegen”. streitkultur nennt man das, und das ist es, was er der schweiz verordnet.

mit george soros will tt übrigens nicht verglichen werden. der sei philosoph und leite ein globales investmentimperium. er wolle die welt nicht verbessern; daran hindere ihn sein zynismus. immerhin, auch er hat ein buch geschrieben, eine geistreiche verteidigung des wirtschaftsliberalismus’ wie sie ein mainstreamler nicht hätte verfassen können. “aus gesellschaftlicher eitelkeit” habe er das getan, bekennt er heute in der sonntagspresse.

investiert hat der financier sein so erworbenes gesellschaftlichen eigenkapital in den “verein zivilgesellschaft“, dem ich zwischenzeitlich auch angehöre und aus dem ich gelegentlich ideen ziehe. der club denkt regelmässig über vorteile der schweizer eigenarten nach, zum beispiel über eidgenössische solidarität, über direkte demokratie und den föderalismus.

genau dieses schweiz-bild liess ihn anfangs jahr auch zu meiner überraschung die basler-zeitung kaufen. denn eine echt nationale zeitung werde es in der Schweiz nie geben. soviel zur zukunft der regionalpresse!

das alles tönt, wie könnte es anders sein, korrekt liberal, bewusst national und kohärent rational. doch dann öffnet sich im interview mit philipp löpfe auch die andere Seite des tessiner katholiken, überzeugten föderalisten und diskreten machtmenschen: auf jeden fall habe er mit dem gang ans rheinknie verhindern wollen, dass ein zürcher verleger den zuschlag erhalten habe.

in deren kreisen wiederum hält sich hartnäckig das gerücht, beim jüngsten deal am bodensee hätten nicht nur nzz und tamedia mitgemischt, sondern auch ein unbekannter dritter, der ganz gerne gezeigt hätte, was man mit geld so alles machen könne …

stadtwanderer

ausverkauf der intellektuellen

vor einer woche schrieb ich über jakob tanners vortrag “switzerland for sale“. jetzt kontern urs paul engeler und markus somm in der “weltwoche“. kein ausverkauf der schweiz habe stattgefunden, behaupten sie. dafür rufen sie zum ihrer meinung nach längst fälligen ausverkauf der schweizer intellektuellen auf.

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jakob schaffner, basler schriftsteller, verherrlicher des dritten reiches, wird in der weltwoche zum vermeintlichen urvater aller intellektuellen schweiz-kritiker stilisiert, zu denen allen voran die schriftsteller friedrich dürrenmatt (“Altfaschist”), max frisch (“Geissler der Schweiz”), adolf muschg (“Epigone Frischs”), walter matthias diggelmann und klara obermüller (“Sehnsucht nach dem sozialistischen Paradies”) gezählt werden.

an allem schuld sei jakob schaffner, analysieren engeler und somm. der basler schriftsteller habe in seiner vielbeachteten “geschichte der schweizerischen eidgenossenschaft” in der zwischenkriegszeit den samen der politisch inspirierten schweiz-kritik gelegt. denn seinem eigenen land warf er vor, sich hinter der neutralität zu verstecken, keinen beitrag zur sicherheit und zum fortschritt der welt zu leisten, und einzig dem eigenen nutzen nachzurennen.

die weltwoche-autoren werfen schaffner ihrerseits vor, die schweiz mustergültig verraten zu haben, allerdings ohne erfolg: 1944 starb der schweizer nazi im deutsch-besetzten strassburg, als es von den allierten bombardiert wurde.

doch der intellektuelle schweiz-verrat ist, so die these des artikels, nicht verschwunden. vielmehr zieht er sich seither wie ein roter faden durch das wirken herausragender denker der schweiz. politisch fehlgeleitet, seien sie, denn sie würden nursippenartige nestbeschmutzung zugunsten einer falschen sache betreiben. das ist das kollektiv gültige urteil, das selbstredend auch jakob tanner miteinschliesst.

“Woran liegt es, dass seit Jahrzehnten so viele intelligente, gut gestellte Leute, die ihrer Heimat so viel zu verdanken haben, dauern deren Ende herbeischreiben?”, fragen sich engeler und somm, um zu einer eigentlichen psychoanalyse der schweizer intellektuellen zu gelangen:

ihnen mangle es, erstens, an realismus, weil sie, seit 1798, dem einmarsch der franzosen in der schweiz, keine beziehung zur tradition, nur zum reformismus hätten.

sie litten, zweitens, an der provinz, die vermeintliche schuld trage, dass man auf der internationalen bühne nicht bestehen könne.

und sie neigten, drittens, zu elitärer überheblichkeit gegenüber dem schweizerischen gemeinsinn in der referendumsdemokratie, weil dieser weiser sei als einzelne das sein könnte.

gegen ein naheliegendes argument, hiermit bünzligen antiintellektualismus zu betreiben, wehren sich die autoren präventiv. und hauen gleich noch einen drauf: denn, was intellektuelle so gerne als “enge” bezeichnen würden, sei, in der tat, “weite”, die durch die ausdehnung gleicher rechte von wenigen auf alle entstanden sei.

ein wenig kommt es mir das alles vor, dass intellektuelle für die wewo-schreiber maximal eingebildete kranke sein könnten. öffentliche psychologisierung sind an sich bedenklich. und in dieem fall auch sachlich falsch:

gerade die ökonomen unter den intellektuellen tragen zum realitätssinn des landes bei, wenn sie, wie etwa bruno s. frey, politisch-mediale mythenbildung mit ihren nüchternen analysen kritisch hinterfragen.

gerade eigenwillige theologen wie hans küng beweisen, dass man auch als schweizer auf der ganzen welt gehört werden kann.

und schliesslich haben gerade politische denker wie jean ziegler und rudolf strahm nicht nur als buchautoren erfolge im in- und ausland gefeiert, sondern sind sie, gerade als vertreter des kleinen mannes, wiederholt als volksvertreter ins parlament gewählt worden.

bitte, mehr argumente zur sache, beispielsweise zum beklagten ausverkauf der schweiz! auf polemiken gegen personen, die etwas zu grundsatzfragen etwas zu sagen haben, ohne das man mit ihnen übereinstimmen muss, kann ich gerne verzichten!

denn intellektuelle sind kein feindbild in der demokratie, sondern das salz in der suppe der öffentlichkeit, denn sie können intervenieren und stören deshalb für heil gehaltene welten. sie pauschal zu diskredieren, um sie am besten gleich los zu werden, ist keine gute maxime. weder ist sie das heute, noch war sie das gestern.

stadtwanderer
(der im diagonal die neuste weltwoche erkundet hat)

direct-democracy-tour in switzerland

unsere amerikanischen gäste sind auf dem rückflug. bruno kaufmann, ihr tourleiter von iri europe, hielt eben rückschau auf eine erfolgreiche tour zur zukunft der direkten demokratie, von der ich schon berichtet habe.

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michael fritsche, der leiter des berner käfigturms, beim empfang der gäste aus den us.

14 delegierte aus den vereinigten staaten waren fünf tage in der schweiz, um sich vor ort über die direkte demokratie in unserem lande zu unterhalten. sie haben zahlreiche prominente getroffen, so corina casanova, die schweizer bundeskanzlerin, aber auch michael reiterer, den eu-botschafter in der schweiz. viel gesehen, viel gelernt, und viel diskutiert, ist ihre bilanz.

johanna herman, die für ballotpedia, dem wiki für volksabstimmungen in den usa, mit dabei war, zeigte sich von der umnutzung der berner käfigturms beeindruckt. einst ein gefängnis, dient es heute als begegnungszentrum für politikerInnen und bürgerInnen, die sich mit politischen grundsatzfragen auseinandersetzen wollen. so auch für die diskussionen, die unsere gäste aus den usa hatten.

faszIniert zeigte sich herman auch, dass die eu an der einführung eines bürgerbegehrens arbeitet und dafür auch schweizer erfahrungen und experten beizieht. für sie ist in diesen tagen klar geworden, dass das instrument weicher sein wird, als man es in der schweiz kennt; als schritt zur demokratisierung der eu begrüsst sie es aber.

john fund, einer der führenden journalisten beim wall street journal, der die amerikanischen aktivistInnen begleitete, war ebenfalls hoch erfreut. am ende des trips durch die schweiz war es so voll von eindrücken, dass er anregte, eine arbeitsgruppe zu bilden, um reformvorschläge für die direkte demokratie in kalifornien auszuarbeiten. diskutiert werden sollen sie am globalen forum für moderne direkte demokratie, das ende juni am hastings college of law in san francisco stattfinden wird.

leider, füge ich bei, werde ich da nicht dabei sein. denn es fällt mitten in meine sommerferien, die mit heilig sind, und ich wiederum in schweden verbringen werden. was aus den diskussion in der schweiz und bern für die globale zukunft der direkten demokratie geworden ist, werde ich aber sicher verfolgen.

stadtwanderer

konsens-, diskurs- und streitkultur in der schweiz

gestern nachmittag: stadtwanderung mit einer gruppe aus den vereinigten staaten. allesamt spezialistInnen der direkten demokratie. eine gute gelegenheit, über eigenarten unserer politkultur, ihre veränderungen und den stand der entwicklung nachzudenken.

400000000000000129687_s4in meiner einleitung vor dem hotel bern, dem arbeitswohnsitz unserer momentan viel gefragten aussenministerin micheline calmy-rey, komme ich auf den niederländisch-amerikanischen politikwissenschafter arend lijphart zu sprechen, bis 2001 professor an der university of california in san diego.

sofort sind meine zuhörerinnen bei der sache, denn für mehrere ist der name ein begriff. lijphart hat zahlreiche demokratien der gegenwart untersucht, sie miteinander verglichen, und dann eine neue typologie mit gemeinsamkeiten und unterschieden entwickelt.

pattern of democracies” heisst sein hauptwerk. demokratie-muster könnte man es übersetzen. mit diesem ansatz gelingt es, die angelsächsisch dominierte demokratiedefinition zu überwinden. demnach sind die britische oder amerikanische demokratien nicht mehr die normalfälle für parlamentarische oder präsidentielle politische systeme, vielmehr erscheinen sie als spezialfälle unter den 36 untersuchten fallbeispielen.

beiden gemeinsam ist, dass sie stark auf dem parteienwettbewerb aufbauen. in grossbritannien ist vor allem die übergeordnete staatsebene entscheidend, während in den vereinigten staaten das förderalistische staatsgefüge als ganzes massgeblich ist.

die kennzeichnen der schweiz sieht lijphart ziemlich anders:

erstens, (gemeinsam mit der usa) kennt die schweiz ein ausgeprägtes föderalismusverständnis,
zweitens, (anders als gb und den usa) ist in der schweiz der exekutive bereich entscheidend, wobei die stabilere verwaltung fast wichtiger ist als die variablere regierung,
drittens, (anders als in gb und den usa) leitet sich die politische kultur nicht aus dem wettbewerbsgedanken, sondern aus jedem der kooperation ab, und
viertens; (anders vor allem als gb) kennt die schweiz das ausgebauteste system der direktdemokratischen mitsprache bei politischen entscheidungen.

adrian vatter, politologie-professor in bern, hat die befunde lijpharts, die auf den merkmalen den 90er jahren basieren, für die jetzt-zeit untersucht. er kommt zu leicht anderen gewichtungen, vor allem im dritten, beschränkt auch im zweiten punkt. seiner meinung nach verändert sich die schweiz am stärksten weg von der konsenskultur, ohne beim gegenstück, der streitkultur schon angekommen zu sein.

meinen gästen aus kalifornien und einigen anderen bundesstaaten der usa war gerade dieser für die schweiz wichtige punkt neu. denn für sie ist klar, dass demokratien wie märkte funktionieren, wo sich verschiedene akteure mit ihren diensten anbieten, und wo der erfolg hat, der dafür käufer findet.

was sachbezogene kooperation über ideologie- und parteigrenzen hinweg ist, musste ich meinen gästen noch etwas näher bringen. von konsens spreche ich nicht mehr, aber, wie es der zürcher politphilosoph vorschlägt, von beweglichen diskursen der mitte nach rechts oder links, um in einer variablen geometrie der politischen kräfte auf die dauer mehrheitsfähig zu sein.

die guten beispiele aus der aktualität waren die ergebnisse bei den bündner regierungsratswahlen und der staatsvertrag mit den usa. im ersten fall zeigt sich, dass der konfliktstil der nationalen svp, verbunden mit amerikanisierten wahlkampagnen gar nicht gut ankam und die partei in der auf konkordanz ausgerichteten regierung aussen vor blieb. im zweiten wurde klar, dass der machtpoker ums ganze flexibilität vermissen lässt und wohl nur noch für das steht, was man streit nennen muss.

stadtwanderer

der damalige savoyer handel

die schweizerische eidgenossenschaft war 1859 erst 11 jahre alt, als sie beinahe einen krieg gegen frankreich und sardinien provozierte, der durchaus die existenz des jungen bundesstaates durchaus hätte gefährden können. ein rückblick auf den savoyer handel, auch als kleine geschichtslektion an die adresse der svp-expansionsabsichten gedacht.

Chambery-Savoyensavoyen, das waren stets streng gläubige katholiken, kaisertreue monarchisten oder royalisten. heute sind es gemütliche nachbarn, mit reichem kulturellem erbe.

savoyens aufstieg
im 11. jahrhundert nahmen die burgundische grafen im heute champéry platz, um die pässe über die westalpen wie den mont cenis zu kontrollieren. 1415 stiegen sie dank kaiserlicher hilfe zu herzögen von savoyen auf, hatten jetzt besitzungen dies- und jenseits des gebirges.

regelmässige gegenspieler der savoyer wurden mit der territorialbildung frankreichs seit dem 15. jahrhundert dessen könige, die mit den bernern koaliserten, um savoyen zu schwächen. sie erlaubten den bernern und freiburgern 1536, die savoyischen gebiete rund um den genfer see zu besetzen. das war gleichbedeutend mit dem aufstieg bern zu regionalen grossmacht. die waadt konnten die eidgenossen dauerhaft behalten, derweil das chablais und faucigny, an südlichen gestaden des lac léman gelegen, an savoyen zurück gegeben werden musste.

deren herzöge hatten zwischenzeitlich ganz auf die italienische seite gewechselt. turin war ihr neues zentrum. im vertrag von utrecht 1713 wurde das savoyischen gebiet gegen mailand hin erweitert, und um sizilien vergrössert. so wenig praktikabel, wie das war, vereinigte man nur 7 jahre später savoyen unter weglassung von sizilien mit sardinien, und machte man daraus ein könighaus piemont-sardinien.

zwischen frankreich, sardinien und der schweiz
gestürzt wurde der piemontesisch-sardinische könig 1792 von den revolutionären franzosen, doch nahm der wiener kongress 1815 savoyen dem abgesetzen kaiser weg. frankreich unterstützte in der folgen den könig von piemont-sardinien im italienischen einigungskampf und förderte deren erhebung zu königen von italien. im gegenzug erhielt man 1860 savoyen (und nizza) retour.

die eigenossen war in vielfacher hinsicht mit savoyen verbunden, zuerst als untertanen, denn die savoyischen gebiete reichten schon mal bis an die aare. das begründete eine bleibende polarität der interessen von savoyen und der aufstrebenden stadt bern. nach der reformation, welche die berner ins savoyische exportierten, kooperierten vor allem die katholischen innerschweizer regelmässig mit den savoyischen herzögen. 1815, als dieses wieder an sardinien-piemont ging, gewährte der wiener kongress den eidgenossen das recht, hochsavoyen oder das ehemalige chablais und foucigny zu besetzen, doch nur für den fall einer gefährdung der neutralität.

heissporn und coolman unter den eidgenossen
genau das wurde 1859/60 zum angelpunkt, der um haaresbreite zu einem unüberlegten grenzkrieg geführt hätte. denn der schweizer bundesrat berief sich 1859, als er das chalais besetzen wollte, auf diese möglichkeit. heisssporn in der regierung war der berner jakob stämpfli, der sich am liebsten gleich selber an die spitze der besatzungstruppen gestellt hätte. nur konnte er in seinem eifer nicht hinreichend begründen, dass mit dem wechsel savoyens zu frankreich die schweizerische neutralität gefährdet gewesen wäre. und so eskalierte der konflikt mit dem sardinischen könig, dann auch mit dem französischen kaiser stück für stück.

es ist der umsicht der wirtschaftsfreisinnigen rund um alfred escher zu verdanken, dass sie dem aufbau der schweizer ökonomie, insbesondere den eisenbahnen, viel grössere bedeutung beimassen, als der patriotische freischärlerei der brüder vom staatsfreisinn. denn dank ihnen fuhr der junge bundesrat eine seiner markantesten niederlagen des jungen bundessstaates ein, nach der die besetzung abgeblasen wurde und das ganze als unrühmlichere savoyer handel in die geschichte eingehen sollte.

volksabstimmung mit erdrückender mehrheit für frankreich
frankreich regelte den wechsel savoyen unter die kaiserkrone auf eine art, die napoléon III., einst flüchtling in der schweiz, im thurgauischen kennen gelernt hatte. er liess in savoyen eine volksabstimmung darüber befinden, zu wem man gehörden wollte und dafür im frühling 1860 die erwünschte zustimmung der savoyarden mit fast schon erdrückender mehrheit. die schweizer hatten das nachsehen, erreichten aber eine freihandelszone und eine neutralitätsgarantie von frankreich.

die lage blieb jedoch jahre danach so heikel, sodass sich selbst die friedenskonferenz von versaille 1919 mit dem grenzen am lac léman beschäftigten und auch der internationale gerichtshof in den haag bis 1934 mehrfach klärend eingreifen musste.

mein rat an die svp
und so bleibt mir nur der folgende rat an die svp: finger weg von anti-europäischen lockrufen an savoyen! schon einmal versuchten 150 verirrte hochsavoyen via boote über den genfer see zu befreien. mehr als eine peinlichkeit war das nicht, und grenzstreitigkeiten, die uns einen neuen savoyer handel einbrockem, können wir uns nicht leisten. einen privaten besuch in den herrlichen savoyischen städten empfehle ich allerdings allen leserInnen des

stadtwanderers

“machet den zun nid zu wit!”

das sprach ich im gefolge von urs altermatts abschiedsvorlesung von der “verschweizerung der schweiz – ohne die schweiz?” doch nun gibt die svp zurück. sie spricht von “einschweizerung der nachbarn – in die schweiz”. nur kann ich mir auch da einen kommentar nicht verkneifen.

topelement
die karte der neuen svp-schweiz, wie sie sich der tagi ausgemalt hat (die karte hier ist richtig eingefärbt, in der printausgabe ist bozen nicht bei italien, dafür bei österreich …

ausgelöst hat das ganze dominique baettig, svp-nationalrat aus dem kanton jura. ihm geht es um eine erleichterte integration grenznaher regionen in die schweiz – als kantone. demnach könnten das elsass (f), baden-württemberg (d), vorarlberg (ö), bozen, como, varese, aosta (i), savoyen, hochsavoyen, ain und jura (f) den beitritt zur schweiz beantragen. 26 fraktionsmitglieder der svp, darunter auch parteipräsident toni brunner, unterstützen ihren kollegen in dieser sache.

was wäre, wenn die motion überwiesen würde, der bundesrat das gutheissen sollte, die verfassung deswegen geändert würde und die beitrittskandidaten vom angebot profitieren sollten? – die schweiz hätte auf anhieb nicht mehr 7,5 mio einwohnerInnen, sondern etwa 22,5 mio. die quote der alten eidgenossen würde von heute 79 auf 27 prozent sinken. der rest wären dann in der überzahl nicht mehr ausländerInnen, sondern neu-eidgenossInnen.

nur vordergründig bereinigt würden so die frontarlier-debatte in genf, und die das pendent mit den deutsche in zürich. denn es gäbe keine grenzgängerInnen mehr, ausser die jetzigen einheimischen würden es wage, die alten landesgrenzen zu überschreiten, um zu sehen, von wo die mehrheit der neuen mitnbürgerInnen deutscher, französischer und italienischer zunge kommt.

zwei perspektiven sehe ich so auf die schweiz zukommen:

erstens, würde das alles ein wenig an die schweiz von 1513 erinnern, der bisher expansivesten phase in der geschichte unseres landes, als die eroberenden truppen in vor mailand und dijon standen. es liesse auch ein wenig von der stimmung aufkommen, die 1848 herrschte, als die aufmüpfigen freisinnigen durchaus daran dachten, baden und savoyen zum teil der freien schweiz zu machen. nicht auszuschliessen wäre aber, dass wie damals negative sanktionen angedroht, militärische niederlagen folgen, neutralisierung der schweiz beschlossen würden, oder die schweiz gleich ganz aufgeteilt würde, wie es ghadafi beliebt. das kann es, im landesinteresse!, nicht sein.

zweitens, möglich wäre auch, dass sich so eine lösung für die eu-beitrittsfrage ergäbe. denn das ständemehr, bisher die sicherste hürde gegen den beitritt zur union, müsste neu berechnet werden, hätten wir neue kantone. spätestens beim beitritt baden-württembergs würden dann die kleinen kanton mit 1, die grossen zurecht eher mit 10 gewichtet. nicht nur das volks- auch das ständemehr könnte in der volksabstimmung kippen, denn das bundesland unseres nördlichen nachbars prosperiert gerade unter den bedingungen der eu-wirtschaft und würde uns wohl mit in die eu reissen. ist das im interesse der svp?

eigentlich nein! uns so erscheint mir der vorstoss aus dem jura nicht unsympathisch, weil selbstbeweusst, aber zu wenig durchdacht. denn weder für die schweiz noch für die svp ist er letztlich interessant! und so bleibt mir nur zur besinnung aufzurufen: “macht den zun nicht zwiit”, wie es bruder klaus, den ich eben erst grad lobte, gesagt haben soll!

stadtwanderer

switzerland for sale

basel, vor einigen tagen: im theater referierte jakob tanner. geladen hatte “die zeit”, die in der serie “rede zeit” expertInnen zur frage stellung nehmen lässt, wohin die schweiz treibe. ob das gelungen ist, weiss ich nicht, denn man erhielt eher eine antwort auf die frage, wer die schweiz treibe, verbunden mit dem ratschlag an die regierenden, selber treibender zu werden, als getriebener zu bleiben.

tannerjakob tanner, professor für wirtschafts- und sozialgeschichte der neuzeit an der uni zürich, wählte für sein referat einen starken titel: “switzerland for sale: aufstieg und fall eines geschäftsmodells“. die rede strukturierend, setzte er ein zitat von bundesrat philipp etter ein: “Es ist doch etwas Grossartiges, etwas Monumentales, dass um den Gotthard, den Berg der Scheidung und den Pass der Verbindung (…) feiern durfte: die Idee einer geistigen Gemeinschaft der Völker und der abendländischen Kultur.”

die grundlage des geschäftsmodells, das auf den beiden bildern der scheidung und der verbindung basierte, wurde im ersten weltkrieg gelegt. nationale unternehmen schotteten sich gegen ausländische einflüsse ab, sodass die “festung schweiz” entstand. komplementär dazu entwickelt sich die “steueroase schweiz”, die sich dem kriegsverwüsteten europa offen anbot.

diese kombination wurdê erst in den 70er jahren des 20. jahrhunderts mit der wirtschaftskrise erschüttert. seither ist in der bürgerlichen politik sparen beim staat angesagt, und in der wirtschaft ist das rücksichtslose gewinndenken unter den aktionären zur maxime geworden.

das herkömmliche geschäftsmodell schweiz erodierte so. neu setzte man auf steuerflüchtlinge, die den speziellen schutz von mutter helvetia geniessen. zwar rechnete man mit kritik aus dem ausland, nicht aber damit, dass die ausländischen eliten, die gleichzeitig regieren und ihr eigenes geld in die flucht jagen, das huhn, das goldene eier legt, schlachten würden.

doch es kam anders! das ist tanners auffassung zum ende des schweizerischen geschäftsmodells. denn als die kritik mit handfesten sanktionsdrohung angereichert wurde, gerit der bundesrat in panik, und er änderte binnen 24 stunden die richtung um 180 grad. so geschehen am 13. märz 2009, als die nichtverhandelbarkeit des bankgeheimnisses durch die verhandelbarkeit ersetzt wurde.

jakob tanner glaubt nicht, dass die schweiz zur alten normalität zurückkehren könne. weder die steueroase noch die festung schweiz lassen sich seiner meinung nach retten. für das erstere ist der äussere meinungswandel verantwortlich, für das zweite der innere.

denn die restrukturierung der wirtschaft wurde in den 90er jahren zur vorübergehenden leitidee der finanzinvestoren. wer es sich leisten könnte, kaufte firmen, die man schlecht geredet hatte, für ein schnäppchen und machte zwei sachen daraus: der kernbereich reorganisierte man, und verkaufte, was blieb, ins ausland. noch gewinnbringender liessen sich aber die assets verhöckern, die in der bilanz als abgeschriebene posten versteckt waren und in kleine einheiten aufgeteilt bestens verkauft werden konnten.

tanner ist überzeugt: das fenster dieser möglichkeiten, das sich in den 90er jahren öffnete, ist wieder zu. exemplarisch für diese phase der geschichte erwähnte er das ende der alusuisse, einem flagschiff der schweizer wirtschaft. beobachter konstatierten am ende des 20. jahrhunderts einen verkaufsgewinn von 1 milliarde schweizer franken, aufgeteilt auf martin ebener und christoph blocher.

dieser christoph blocher investiert inzwischen als politischer unternehmer in die ruinen des schweizerischen geschichtsmythos’ und als unternehmerischer politiker in die politische propaganda der svp. beides macht er, so tanner, um in der kombination europhobe und fremdenfeindliche kampagnen auf gesicherter basis lancieren zu können.

in das leicht politische klagelied des historikers, der gelegentlich als marxist verschrien wird, mischt sich aber eine überraschende aussage: “Man kommt wohl nicht darum herum, das für schweizerische Binnenverhältnisse erstaunliche Phänomen des Aufstiegsder SVP zur landesstärksten Partei zu personalisieren. Blocher erklärt nicht alles, doch einiges.”

den regierende in der schweiz rät jakob tanner, nicht am alten festhalten zu wollen. denn die verteidigung eines solchen ansatzes führe nur noch von kommunikationspannen zu politpossen. es sei wohl nötig, die schweiz im ausland ungeschminkt zu erklären. dringend sei es aber, die schweiz im inland so zu sehen.

und an die geschichtsinteressierten im publikum wandte sich der historiker, der schon mal in der bergier-kommission hierfür sorgte: wer konfliktscheu ist, sollte nicht geschichte betreiben wollen!

heinrich heines geburtshaus

wer düsseldorf sagt, muss auch heinrich heine sagen. eine der bemerkenswertesten alleen ist nach dem sohn der stadt benannt, und auch die düsseldorfer universität wurde nach dem bekannten dichter umbenannt.

2997100097_68929d512cheinrich heine haus in düsseldorf (quelle: kolliope vorleserin)

dabei ist das verhältnis zwischen heine und der rheinstadt alles andere als ungetrübt. 1797 im hinterhof einer bäckerei in der altstadt geboren, wächst heine bei seinen jüdischen eltern auf. 1806 bekommt die familie dank den franzosen die gleichen rechte wie die christlichen bürgerInnen. doch bleibt sie gesellschaftlich ausgeschlossen. harry, wie der junge von seinen eltern genannt wird, entscheidet sich 1825, nach abschluss des studiums, lutherisch taufen zu lassen, nennt sich fortan heinrich, und strebt so verändert eine akademische karriere als jurist an.

doch auch daraus wird nichts. 1831, kurz nach der zweiten französischen revolution, entscheidet sich heinrich heine nach paris auszuwandern. zuvor hatte er england, bayern und die toscana besucht, angefangen reiseberichte zu schreiben, wie es goethe vorgemacht hatte. in frankreichs hauptstadt findet sein unruhiges leben in künstlerkreisen statt, wo er im monmatrequartier dichtet, trinkt und hurt, bevor er mathilde mirat, seine spätere frau, kennen lernt, die ihm halt gibt.

heine schliesst schliesst sich 1841 den frühssozialisten um st. simon an, lernt in paris auch karl marx kennen, und verfasst er journalistische wie auch lyrische texte. “deutschland, ein wintermärchen” entsteht hier beispielsweise, doch werden seine schriften in der alten heimat nicht toleriert.

heines leben in paris wird mit der 1848er revolution wieder unstetig. er erkrankt, widerruft seinen zwischenzeitlichen atheismus, auch seine politische haltung, bevor er 1856, keine 60 jahre alt, verstirbt und auf dem monmatre begraben wird.

in düsseldorf ist sein geburtshaus nun eine renommierte buchhandlung für literatur aus den germanischen und romanischen sprachbereichen. das ist ganz sinnvoll, bewegte sich doch heines leben zwischen beiden kulturen entlang dem rhein. selbst ein literaturcafe findet sich heute im heine haus. nur die bäckerei ist nicht mehr, von der der dichter sagte, es hätte da die besten erdbeertörtchen der welt gegeben.

stadtwanderer
(in düdorf)

schneider wibbel und der code civil

das quartier rund um die düsseldorfer bolkerstrasse gilt als die grösste theke der welt. 260 wirtschaften drängen sich auf weniger als einem kilometer strassenstück. da wir schon mal einiges erzählt – und hinzu erfunden!

schneider-wibbel-gasse
die schneider-wibbel-gasse, mit einem der vielen restaurants in düsseldorfs grösster theke.

keine stadtführung ohne napoléon. das ist keine bilanz meiner eigenen stadtwanderungen. sondern die zusammenfassung einer stadtführung, die ich eben in düsseldorf gemacht habe.

die geschichte, die uns eine kundige führerin auf der bolkenstrasse erzählte, geht so: 1806 kam düsseldorf zu frankreich. freud und leid mischten sich in die erfahrungen.

einer der klagenden darüber war schneider wibbel. als kaiser napoléon 1811 für drei tag in düsseldorf war, nahm er sich ein herz, und beschwerte er sich vor dem empereur über den gang der geschäfte. zuvor trank er das eine oder andere glas bier, wie man das an der grössten theke bis heute macht.

nach der vorstellung wurde wibbel arrettiert, und ihm wurde majestätsbeleidigung vorgeworfen. darauf stand gefängnis. das kam schneidermeister gar nicht gelegen, und so schickte er seinen gesellen. unglücherweise starb der vor ende der haft, sodass schneider wibbel nun für tod gehalten wurde.

wibbels frau riet ihm, sich ins hinterland zurückziehen, wo man ihn nicht kenne. nach einer weile solle er dann wieder kommen, und sich als zwillingsbruder des schneidermeisters vorstellen und nach gebührender zeit um die hand der witwe anhalten, und so die eigene schneiderei erben.

an der bolkenstrasse findet sich eine tafel, welche den leichenzug zeigt, und das ehepaar wibbel hinter dem vorhang dazu. “welch schöne leich ich bin”, steht darunter geschrieben.

nun ist die geschichte in düsseldorf offensichtlich populär. aber bloss importiert. zwar spielt sie auf eine reale begebenheit an, die sich in verwandter form in berlin zugetragen hatte. der schneider war in wirklichkeit ein bäcker, und napoléon preussens könig friedrich wilhelm. doch der düsseldorfer volksschriftsteller hans müller-schlösser passte das theaterstück dazu so gut den lokalen verhältnissen um, dass es nicht nur im düsseldorfer theater uraufgeführt wurde, sondern auch in jeder stadtführung weiter erzählt wird. und der bekannte refrain nachkling: “… und wenn sie nicht gestorben sind, so leben (die wibbels) heute noch!”

übrigens, napoléon, der wirklich nirgends fehlen kann, erschien in der führung durchaus mit licht und schatten. die besatzung seiner truppen mag eine schmach gewesen sein, doch brachten die franzosen mit den bajonetten den code civil mit an den rhein, der allen bürgern die gleichheit vor dem gesetz brachte. und wenn der geist, der so aufkam, nicht ausgestorben ist, so wirkt er heute noch in düsseldorf (und an allen orten, wo napoleon mit anderern stadtwandert)!

stadtwanderer
(in düdorf)

der neumanntaler-mensch, unser vorfahre

die neandertaler-menschen müssten eigentlich neumanntaler-menschen heissen. das lernte ich gestern in düsseldorfs, hoch über der düssel, die aus dem neandertal kommt …

450px-Fuhlrott-Tafel2009joachim neander wirkte während einigen jahren als hilfsprediger in düsseldorf. hauptberuflich war der bremer lehrer für die sprachen der antike. hervorgetan hat er sich vor allem durch die komponierung von kirchenliedern. “lobe den herren” ist das bekannteste unter ihnen.

die protestantische kirche, in der neander in düsseldorf wirkte, wird bis heute nach ihm neanderkirche beheissen. das gleiche gilt auch für das tal der düssel, wo er sich gerne zurückzog, um unter freiem himmel gott zu ehren zu musizieren. das nannte man bald schon das neadertal.

berühmt geworden ist dieser ort durch die entdeckung eines skeletts im jahren 1856, das von unserem nächsten vorfahren herrüht, der vor rund 30000 jahren ausstarb. die entdeckung war so sensationell, dass der urzeitmensch bis heute neandertaler heisst.

nun ist das alles eigentlich ein irrtum!

denn joachim neander, der vielfache namensgeber, hiess eigentlich joachim neumann. während der rekatholisierung düsseldorfs führte er den übernamen “neandros”, was im griechischen einen gebildeten menschen bezeichnet, und ihn auf die stufe der gebildeten jesuiten hob. das ging soweit, dass man den pastor gar nicht mehr neumann, sondern einfach neander nannte.

nun gibt es zwei möglichkeiten in sachen urzeitmensch: entweder nachzuweisen, dass unser menschlichen vorfahren schon griechisch konnten und gebildet waren. dann würde man sie ja zurecht neandertaler-menschen nennen; oder aber sie umzubenennen, etwa in neumanntaler-menschen …

stadtwanderer
(in düdorf)

direkte demokratie, steuerlasten und weltmeisterträume

ein tag in düsseldorf, gespräche über gott und die welt und so einblicke in eine andere stimmungslage!

Duesseldorf 1
medienhafen düsseldorf, ausdruck der postmodernen hoffnung in düsseldorf, trifft die momentane stimmungslage in der stadt nicht unbedingt.

die themenhierarchie der alltagsgespräche in düsseldorf ist klar: drittens spricht man von der koaltionsbildung für eine neue regierung in nordrhein-westfalen. zweitens staunt man über das historisch einmalige sparpaket der konservativ-liberalen regierung. und erstens freut man sich auf die fussballweltmeisterschaft …

das jedenfalls verrät mir der taxi-chauffeur, der mich vom düsseldorfer flughafen in die innenstadt bringt. denn ich bin referent bei der industriellenvereinigung, eingeladen von schweizer generalkonsul. mein thema: “Direkte Demokratie. Eine Besonderheit der Schweiz, die es verdient verstanden zu werden“.

die mittagsrunde habe ich schnell auf meiner seite. meine these ist, dass es einen zusammenhang gibt zwischen der ausgestaltung politischer systeme und der höhe der steuern. direkte demokratien haben tiefere steuern als repräsentative. punkt!

es geht mir nicht darum, in die debatte über cd-käufe zu intervenieren. letztlich bin ich auch nicht in die untere rheinstadt geflogen, um über die feinheiten im selbstverständnis der schweiz zum bankgeheimnis zu sprechen. vielmehr geht es mir um grundsätzlicheres.

parlamentarische systeme mit einer mehrheitspartei oder einer mehrheitskoalition tendieren dazu, ihre wählerschaften mit subventionen, allenfalls steuergeschenken bei laune zu halten. je knapper die verhältnisse sind, umso wichtiger ist die pflege der zufriedenheit der eigenen klientele. gerade in deutschland kann man regelmässig beobachten, dass steuersenkungen in wahlkämpfen rhetorisch wichtig sind, in der regierungsarbeit aber auf hintere prioritätsplätze relegiert werden. was bleibt sind, subventionen. die staatsquoten, die steuerabgaben und die schulden sprechen hierzu eine deutliche sprache. ich bin nicht unglücklich, dass es da kräfte in staat und markt gibt, welche das von zeit zu zeit mit hochdruck korrigieren.

in meinem vortrag führe ich aus, dass man auch in der schweiz über die budgets des bundes nicht abstimmen kann. das machen die national- und ständeräte. dennoch sind die politikerInnen in der ausgestaltung nicht frei. an erster stelle erwähne ich die schuldenbremse. die wirkungen sind deutlich. die neuverschuldung der schweiz konnte mit der einführungen dieses instrumentes gestoppt werden, und der schuldenberg hat sich, ganz anders als rund herum, in der schweiz verringert.

das zeichen, das von dieser volksabstimmung in der schweiz mit einer sehr hohen zustimmung ausging, war klar, und es konnte von der politik nicht umgedeutet werden. bezogen auf die haushaltspolitik setzten wir damit eine klare limite. die ausgestaltung der folgen in einem budget, empfehle ich, weiterhin den parlamenten zu überlassen. deshalb befürworte ich schuldenbremsen generell, nicht aber für einzelne ausgabenposten wie die sozialwerke.

mein gäste sind begeistert. denn sie wissen, wie es um die finanziellen verhältnisse in deutschland und in der eu steht. und sie fürchten, dass die mehrwertsteuer bald flächendeckend erhöht werden wird. den das historische sparpaket ist viel kleiner als angekündigt, und wir als kompensation für die neuverschuldung nicht ausreichen. so der verbreitete tenor am mittagstisch.

ich warne die neuen freunde der direkten demokratie im zwiegespräch allerdings zu meinen, mit volksabstimmung gäbe es bald keine steuern mehr. die gescheiterte grosse
steuersenkungsrunde 2004 ist mir ein guter beleg hierzu. begründen kann man das damit, dass bei volksabstimmungen nicht nur kurzfristig an die eigenen vorteile gedacht wird, sondern lernprozesse entstehen: was erwarte ich vom staat, und was bin ich bereit dafür zu bezahlen? wenn ein kollektiv gleichzeitig steuern und leistungen betrachtet, kommt man durchaus zu einer ausgewogenen gesamtbilanz ohne extreme.

auf der rückfahrt an den flughafen unterhalte ich mich erneut mit dem chauffeur über die seelenlage der nation. die steuern sind hier kein aktives thema mehr; denn da reagiert man auf nachfrage mehr mit fatalismus. dafür begeistert ihn jede schwarz-rot-gold-fahne, die aus freudiger erwartung über den anstehenden weltmeister im fussball auf den autos aufgepflanzt ist.

das ist immerhin ein trost für entgangene steuersenkungen, bis auch dieser traum platzt …

stadtwanderer
(in düdorf)

die verschweizerung europas – ohne die schweiz?

eine neue eu-beitrittsdebatte forderte der zeitgeschichtler urs altermatt während seiner abschiedsvorlesung an der universität fribourg.

jpgurs altermatt, der internationalste unter den schweizer historikern, tritt in den (un)ruhestand

die abschiedsvorlesung
urs altermatt wurde heute emeritiert, wie man bei einem professor sagt, wenn er in pension geht. in der tat, der rüstige 68jährige, legte nach 30 jahren sein amt als hochschullehrer für allgemeine und schweizerische zeitgeschichte an der universität fribourg nieder.

die aula magna war bis auf den letzten platz voll. drei alt-bundesrätInnen, metzler, cotti und couchepin, waren da. die regierungsspitzen von fribourg, luzern und solothurn waren gekommen, und mit dem protokoll wurden auch frühere und aktive bundesparlamentarierInnen, spitzenbeamtInnen, militärs und selbst ein bischof höflich begrüsst.

neue eu-beitrittsdebatte
er spreche heute zu seinem lieblingsthema, sagte altermatt dem zahlreich erschienen publikum: “verschweizerung europas – ohne die schweiz” hiess sein vortrag. beleuchtet wurden die positiven wie negativen seiten des stereotyps verschweizerung. dann zeichnete er die tendenzen europas nach, welche den kontinent mit zwischenzeitlich 47 staaten den schweizerischen eigenarten näher brachten. die argumentation bereitete er via staatsgrösse, demokratisierung und föderalisierung vor, um sich und die zuhörerInnen zu fragen, ob sich auch die schweiz europa annähere. seine antwort viel vor allem im politischen negativ aus, was zur schlussfolgerung führte, die schweiz müsse die diskussion über einen eu-beitritt neu aufnehmen. für eine vollmitgliedschaft sei die schweiz wohl nicht bereit, schränkte er ein, für eine teilmitgliedschaft in einem europa der verschiedenen geschwindigkeiten indessen schon.

die erfolgreiche uni-karriere

altermatts karriere als historiker begann mit dem buch “der politische katholizismus im ghetto”. der aufbruch daraus und die integration der katholiken im bundesstaat interessierten ihn in der folge, bis schliesslich sein hauptwerk “katholizismus und moderne” erschien. danach wandte sich altermatt dem verhältnis dem antisemitismus und rechtradikalimus zu, um schliesslich ein buch zum rechtsextremismus in der schweiz herauszugeben. die jüngste phase seines schaffens war der europäischen ebene gewidmet. früh ging er den spuren des aufkeimenden ethno-nationalismus in den mittel- und osteuropäischen staaten nach, schrieb das fanal von sarajewo, und fragt, welche bedeutung die eu bei der konfliktregelung leisten könne. in 8 sprachen wurde dieses werk übersetzt und ein halbes dutzen gastprofessuren in mittel- und osteuropa fielen ihm zu, ohne dass er sein geliebtes fribourg, wo er auch als unirektor amtete, verlassen hätte.

der praktische professor
kennen gelernt habe ich urs altermatt zu beginn der 90er jahre. wir trafen in der fernsehsendung “tatsachen und meinungen” zur 700 jahr-feier der schweiz aufeinander – und vertraten die gegenteiligsten ansichten. unserem zusammensein hat das nicht geschadet, denn urs war nie ein mann grosser eitelkeiten, mehr einer der praktsichen taten. und so haben wir seither in vielen podien und sendungen miteinander fruchtvoll streiten können.

der erfolgreiche schriftsteller, gute rhetoriker und intellektuelle von altem schrot und korn liebte es, in die öffentlichen debatten zu intervenieren: zuerst zur schweizerischen aussenpolitik, namentlich via nzz, dann, als sein feuer für uno und eu den redaktoren am zürcher falkenplatz zu heiss wurde, eher über unsere bundesräte. das sei zwischenzeitlich nicht minder delikat, liess der publizist mit einer bibliografie mit 682 titel heute durchblicken. immerhin, auf sein “lexikon der schweizer bundesräte” stützen sich heute alle als ausgewiesenes standartwerk zur politischen institionen- und personengeschichte der schweiz.

beerdigung dauern bisweilen

“abschiedsvorlesungen sind so etwas wie beerdigungen”, witzelte der abtretende heute selbstsicher, um beizufügen: “beerdigungen dauern bisweilen”. und so machte altermatt heute klar, das bald schon ein buch über “die schweiz und europa” aus seiner flüssig geführten feder erscheinen werde. sein plädoyer für einen eu-beitrittsdebatte erhöht die spannung auf die veröffentlichung.

1967 habe er, damals noch an der uni bern, für den uno-beitritt der schweiz geworben, meinte altermatt zuletzt. 35 jahre habe es gebraucht, bis die schweiz mitglied der vereinten nationen war. nun fordere er den eu-beitritt – und sei überzeugt, diesmal werde er nicht 35 jahre warten müsse, bis seine forderung realität werde.

stadtwanderer

keiner wie rainer …

am freitag war ich in reinach, baselland, bei den raumplanerInnen der region. viel beachteter referent war der luzerner rainer klostermann, architekt und raumplaner, der eigentliche “vater” der glattalbahn. einige gedanken über seine “kinder”.

1-glattalbahn-map“keiner wie rainer”, kündigte kündigte moderator hans-georg bächtold, weiland raumplaner des kantons baselland, seinen kollegen rainer klostermann an den diesjährigen “reinacher gesprächen” an. zuerst sei er einer der wenigen städtebauer der gegenwart, und dann mache er das mit einer überzeugung, mit der er jede und jeden in seinem fach ausstechen würde, war die empfehlung.

in der tat: zwischen 2004 und 2010 baute klostermann im zürcherischen die glattalbahn. anfangs 2003 gaben die stimmenden im kanton zürich den startschuss. verkauft wurde der bau als schlüsselprojekt, um den übergang von zürichnord zum glattal zu einer stadtlandschaft von hoher urbaner qualität zu entwickeln. die bahn wurde so konzipiert, dass sie mehr als ein stadtram leistet, aber weniger als eine klassischen s-bahn. deshalb ist sie schneller als der öv im stadtzentrum, hat aber mehr haltestellen als eine schnellbahn rund um zürich.

den gürtel rund um zürich nennt klostermann schon mal einen siedlungsbrei. vormalige dörfer sind ungewollt zusammengewachsen. dorfgrenzen sind verschwunden. randnutzungen wurde vorgenommen, die plötzlich zu wahrzeichen wurden: die grosse kehrrichtverbrennungsanlage im glattal ist für ihne eine moderne kirche.

“seine” glattalbahn sieht der raumplaner als roten faden durch die stadtisch gewordene landschaft zwischen kloten und dübendorf, welche den siedlungsbrei gleichzeitig strukturiert und vernetzt. erste aufgabe der bahn sei es, das wachsende verkehrsproblem zu lösen. doch das ist für ihn kein selbstzweck, sondern die geburt neuer stadträume.

der wahlzürcher (“25 m2 wohnfläche, zu dritt, wenn man den kater miteinbezieht”) kann sein publikum packen wie kaum ein anderer. er ist ein raumgestalter, wie man ihn selten sieht. denn er ist ein mann der tat, der unendlich viele amüsante geschichten von der planung einer bahn bis zu veloständern an haltestellen zu erzählen weiss.

“selbst zeichnungen macht der planer vor ort mit verve”, priest ihn der tagungsleiter bächtold an. davon konnte man sich während des vortrages selber überzeugen. und doch bleibt bei mir ein seltenes gefühl: da habe ich eine stunde lang einen der wenigen städtebauer der schweiz erlebt. da wurden mir zahlreiche stadtansichten für ein gigantisches bauprojekt präsentiert, mit mehrfachbrücken überbaute bächen, geistreich umgenutzten areale und visionen für verbünde von büros, einkaufshäusern und restaurants.

doch habe ich in eben dieser stunde kaum keinen menschen symbolisiert gesehen – und mich ketzerisch immer wieder gefragt, welche rolle eigentlich jene in der planung und realisierung von grossprojekten spielen, für die das alles gedacht ist. denn eines wurde mir an diesem tag klar: moderne raumplanung ist verkehrsarchitektur und kommunikation. letztere ist weniger werbung, als man in planerkreisen hofft, sondern verständigung mehr mit betroffenen, welche diese wünschen.

stadtwanderer

warum mein systemvertrauen diese woche so erschüttert wurde

heute ging es in der arena um den gpk-bericht zum krisenmanagement des bundesrates. hier meine gefühle und gedanken als teilnehmer.

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der bundesrat 2010, schwer kritisiert. nicht mehr drauf, pascal couchepin, bundespräsident im ominösen jahr 2008

die optiken
bei einer sendung dabei zu sein, und sie als zuschauer anzusehen, ist immer anders. das hat zunächst mit unterschiedlichen empfindlichkeiten zu tun. live-sendungen haben das kribbelnde an sich, dass man nie weiss, was kommt, und wenn es kommt, es nicht mehr rückgängig machen kann. als zuschauerIn mag einen gerade das freuen, als beteiligter ist das einer der stressmomente.

zudem weiss man in einer sendung wie der arena nicht immer welche kamera gerade aktiv ist, wo geschnitten wird, und welche eindrücke über die flimmerkiste gehen. das sieht man immer erst nachher. dafür hört man bildschirm nicht alles. zum beispiel die zwischenrufe aus dem publikum, oder eine randbemerkungen unter den teilnehmenden. denn wenn wo kein mikrofon ist, ist auch kein öffentlicher ton.

die heutige arena-sendung zum gpk-bericht
über den gkp-bericht zu debattieren, der diese woche vorgestellt worden war, war sicher spannend, und es hatte auch viele themen, die behandelnswert waren. die grosse kontroverse war, ob es sich beim offensichtlich schlechen krisenmanagement des bundesrates in sachen ubs und bankgeheimnis um ein persönliches versagen handelt oder um ein institutionelles problem.

markus somm von der „weltwoche“ neigte am klarsten ersterem zu. das erstaunte umso mehr, als man sonst gerade in seinen kreisen, starke politiker mag, und die wahl von hans-rudolf merz ende 2003 ausdrücklich begrüsste hatte. tmmerhin, der stv des cheredaktors hatte die grösse, vor laufender kamera zu, das sei damals eine ideologisch gefärbte fehleinschätzung gewesen.

persönlich weiss ich aus meinen kontakten in die wirtschaft, auch in die lokalpolitik im appenzellischen, dass selbst in fdp kreisen bundesrat merz nicht unumstritten ist. der verkauf der kantonalbank an die ubs löste bei vielen irritationen aus, die nachhallen. und seine alleingänge waren eingeweihten schon länger bekannt. der unternehmensberater hatte sich als nummer 2 hinter oder vor einer grossen nummer 1 gut gemacht. im verbund zu entscheiden, war aber nie sein ding gewesen. das wusste seinerzeit auch die fdp, die ihn als parteipräsident ablehnte, als bundesrat aber empfahl.

das alles lässt muster erkennen, dass man das durchwursteln zum prinzip erhob und entsprechend mehr wie in einer pfadi-übung denn wie in einem politischen gremium die ubs-krise richten wollte. als es dann am 20. september nicht mehr anders ging, und bankenaufsicht wie nationalbank beim bundesrat vorsprach, brach es dem finanzminister im wahrsten sinne des wortes das herz. nur einen tag später lag er, lebensgefährlich getroffen, mit einem herzstillstand im koma.

das alles berüht und macht die menschliche dimension im staatsversagen durchaus sichtbar. und dennoch halte ich es weniger für eine personelles, denn ein einstitutionelles problem. warum? – unsere bundesräte werden in einem komplexen verfahren gewählt. wer die wahl besteht, hat als einzelfigur glück gehabt, vertritt aber einen parteien, einen kanton und eine kultur im bundesrat. diese sind zwischenszeitlich so ausgeprägt unterschiedlich, dass das für ihr handeln als departementschef durchaus von vorteil ist, für den bundesrat als bundesregierung aber von nachteil. das zeigt sich in krisenzeiten drastisch, denn da wir das systemversagen am deutlichsten sichtbar. es wird auch klar, das die mittelerfolgreiche einzelkämpferInnen in keiner art und weise mehr zusammenpassen, sich zusammenraufen können, und miteinander kooperieren wollen. ein ungeordneter aktivismus des jeweiligen präsidenten – hiess er couchepin oder merz – machte sich dafür bemerkbar, den nichts zur ordnung, viel aber zu unordnung im bundesrat beitrug.

diese woche hat es bei mir wirklich klick gemacht. ich habe bisher das vielparteiensystem in der bundesregierung verteidigt. ich habe der repräsentation den vorrang vor der leistung gegeben. ich habe die freiheiten, welche die einzelnen mitglieder in ihren departementen hatten, eher als vorteil gesehen. doch jetzt ist meine meinung gekippt. die politische ausrichtung des bundesrates als kollegium muss klarer und homogener werden. die führung muss generell verbessert werden. wer mitglied des bundesrates ist, muss eine seine partei einbinden können, ohne zum partei- und interessenvertretung zu verkommen.

ich befürworte immer mehr die wahl eines kollegiums aufgrund von konkurrierenden listen, die aus den parteien zusammengestellt werden, die kooperieren wollen. ich befürworte auch einen bundespräsidenten oder eine bundespräsidentin in ihrer mitte, die auf vier jahre gewählt wird, und kein departement mehr, sondern die regierung führt. und ich befürworte die flexibilisierung der sitzzahl im bundesrat, damit die personen, die gewählt wurden, verantwortung tragen, und nicht den kopf in den sand stecken, wenn das land unter druck ist.

die nachbetrachtung

nach der arena-sendung gibt es immer noch einen kleinen steh-lunch. zuschauerreaktionen können eingefangen werde, und die beteiligten können sich noch dies und das sagen, ohne dass es immer gleich alle erfahren. das hat auch seine gute seite. die kritik lautete kurz zusammengefasst: gefällige sendung, themenreich, mit ziemlich viel schwung. die politikerInnen, in die zweite reihe verdrängt, mussten sich wehren zu wort zu kommen, und sie taten das auch. emotionaler crash war die kurze, aber heftige debatte zwischen den nationalräten schlür (svp) und tschümperlin (sp). schade nur, wurde auch gesagt, dass man das, was da dahinter ist, nicht analysieren kann. bemängelt wurde zudem, dass wir nicht explizit über den brandstifter gesprochen haben, mehr über die feuerwehr, und was die alle nicht kann. sicher muss man den urheber der krise, die ubs, noch genauer verhandeln.

und für alle, die es noch nicht wissen: die arena-sendungen sind live-aufzeichnen. das geschehen läuft wie man es sieht ununterbrochen ab. doch es wird um 18 uhr aufgezeichen, aber erst um 22 20 gesendet. do kann man als beteiligter über etwas bloggen, das man eigentlich noch gar nicht sehen konnte. irgendwie doch schräg.

stadtwanderer

arena: was sind die konsequenzen der gpk-kritik

morgen bin ich in der arena, und blogge, wenn ich zeit finde.

GPK-Kritik-Die-Konsequenzen_na_normaldiese woche war das thema für die arena-sendung schnell klar: dominiert hatte der gpk-bericht. die kritik am bundesrat war nicht zu überhören. und sie hallte nach.

vorgeworfen werden dem bundesrat, namentlich hans-rudolf merz, gravierende mängel bei der bewältigung der ubs-krise. protokolle seien nicht geführt worden. informationen seien zurückgehalten worden. innerhalb des bundesrates regiere das misstrauen. zusammengehalten werde das gremium durch die gemeinsame angst vor indiskretionen.

ist der bundesrat krisentauglich? das soll morgen diskutiert werden. braucht es eine puk? auch das soll aufs tapet kommen. und was sind die massnahmen, die jetzt ergriffen werden sollen? selbsredend wird auch das nicht fehlen.

unklarer war, wer in der arena stehen würde. die kampfhäne, die parteisoldaten, oder die expertInnen. man entschied sich heute abend für letztere, und so debattieren morgen:

regula stämpfli, politikwissenschafterin
hannes britschgi, chefredaktor sonntagsblick
markus somm, stv. chefredaktor weltwoche und
claude longchamp, politikwissenschafter.

hier mein tipp für die rollenverteilung: somm greift die nieten im bundesrat an, stämpfli sieht die schweiz als fdp-geführte bananenrepublik, britschgi glaubt nicht, dass am bericht echt was dran ist, was journis nicht auch herausgefunden hatten, und longchamp setzt sich für eine regierungsreform ein.

besonders zum nachdenken angeregt haben mich die folgenden zeilen im gpk-bericht:

” . Der Bundesrat hat das Krisenmanagement nicht gesteuert;
. der Bundesrat wurde erst aktiv, als er an Entscheidungen zum Massnahmenpaket treffen musste …; (…)
. dem Bundesrat scheint es im Krisenfall an den elementarsten Mitteln der Teamarbeit zu mangeln.”

Ich werde mich in die runde mischen, und wenn’s niemand sieht, (vor- und nachher) bloggen, sagt sich da der

stadtwanderer

die produktion von heiligen

“Wer wahrhaft heiligt lebt, wird wohl im Himmel bestimmt”, schreibt bruno s. frey in der heutigen weltwoche. “wer aber als Heiliger anerkannt wird, das hängt von vielen menschlichen und kirchenpolitischen Faktoren ab”, fügt er lakonisch bei und seziert die heiligenproduktion mit den instrumenten aus der weltsicht der ökonomen. das beantwortet meiner meinung nach nicht alle fragen.

Nicholas-Fluebruder klaus, einer der schweizer heiligen, der von der römisch-katholischen kirche anerkannt wurde.

der bekannteste schweizer ökonom der gegenwart, bruno s. frey, stützt sich auf eine untersuchung von robert barro, einem kollegen von der uni chicago, der ganz profan, die produktion von heiligen durch die katholische kirche untersucht hat. betrachtet wurde der zeitraum von 1592 bis heute, analyisiert wurden die heiligsprechung durch die letzten 35 päpste.

der härteste schlag gegen die heiligenscheine geht von der analyse der herkünfte aus. 47 prozent stammen aus, wie man erwartet es nicht anders, aus italien. 87 prozent sind europäer, 7 prozent latinos und die restlichen 6 prozent kommen aus der übrigen welt. sich, das alles hängt mit der globalen verbreitung des katholischen christentums zusammen. doch auch mit der herkunft der päpste, den italien stellte auch in der neuzeit mit abstand am meisten von ihnen.

in jüngster zeit hat die heiligen-produktion zwar von 1 pro jahr auf rund 3 zugenommen; es hat sich jedoch nicht der kreis der berücksichtigten erweitert. lässt man die beiden letzten päpste weg, wagten es ihre vorgänger nur 3 mal einen papst in de höchsten rang der kirchlichen vorbilder zu erheben. johannes paul II. ehrte gleich zwei seiner vorgänger, nämlich pius ix. und johannes xxiii., auf diese art und weise. und von benedikt xiv. sagt man, er habe vier päpste auf seiner liste der möglichen heiligen.

steht dahinter die hoffnung, von einem nachfolger ebenfalls zum heiligen gemacht zu werden?, fragt bruno s. frey. selbstverständlich weiss er, dass er damit hochgradig provoziert. die umstände, die zeit, je die verquickung des amtierenden papstes in den pädophilen-streit in- und um die katholische kirche sind zu gegenwärtig. unterstellt wird damit auch, das prinzip des eigennutzens, das lieblingsthema der ökonomen der gegenwart, wirke bis in herz der vorbildproduktion in der katholischen kirche. was den bankern recht ist, ist auch den päpsten billig genug!

irgendwie scheint mir das zu kurz zu greifen. richtig an der analyse will mir scheinen, ist der hinweis auf die zentralisierung der heiligsprechungen in der römischen kirche; die lokalen heiligen, die den menschen nahe stehen, haben es heute sehr schwer, ausgezeichnet zu werden. richtig ist auch, dass die römische kirche mit der zentralisierung die vorbilder in der peripherie schneller vergas, als jene, die nahe beim zentrum wirkten. und richtig ist schliesslich auch, dass die letzten 35 jahre, angesichts des verbreiteten wertewandels von religiösen zu säkularen werten, steigende anteile austretender kirchenmitglieder produzierte, welche die beiden letzten päpste mit einer überproduktion an heiligen zu kompensieren suchten.

doch bleibt das faszinosum herausragender personen, die zu heiligen wurden, wie etwas das von niklaus von der flüh, dem innerschweizer eremiten, der sich aus dem weltlichen leben zurück zog, zum einsiedler, weltbetrachter und politischen ratgeber wurde. mit dem charismatiker beschäftigten sich nicht nur seine zeitgenossen im 15. jahrhundert, wie adrian von bubenberg intensiv. ja, der auch heute meine zeitgenossen beschäftigt, als eine der merkwürdigsten figuren der werdenden schweiz. letztlich reicht keiner der scheinheiligen der gegenwart dem heilgenschein von bruder klaus das wasser. wer weiss, ob niklaus aus obwalden nicht zum schrägen kauz verkommen und vergessen gegangen wäre, hätte er, lange nach seinem tod, nicht auf die heiligsprechung zählen können. dem mysterium heiliger wird man mit produktionsanaylsen nach dem fliessbandvorbild eben nicht gerecht.

stadtwanderer